Liebe ist das neue Schwarz

love

Die Karte entdecke ich bei meinem ersten Besuch in dem süßen Papierwarengeschäft, das neulich hier aufgemacht hat. „Love is the new black“, steht darauf, in einer Schrift, die sympathisch ungelenk wirkt, als hätte jemand mit zittriger Hand die Buchstaben gemalt oder als hätte ein Kind sie aus Papier ausgeschnitten, die Zunge zwischen den Lippen. Liebe ist das neue Schwarz. Ein rätselhaft schöner Spruch. Er assoziiert die Wiederkehr des Hippie-Gefühls. Liebe hat Konjunktur. Das Wort wird gerade mächtig in der Werbung strapaziert. Es klebt an Schaufensterscheiben und steht in rostigen Lettern zum drauf rumklettern vor einem Theater. In REVOLUTION wird es markiert, indem das L in der Mitte umgestellt wird, so dass es zurück weist, als hätten es sich die Revolutionäre auf halbem Weg anders überlegt und sich auf unsere letzte wahrhaft anarchistische Kraft besonnen.

Auch das neue Papierwarengeschäft heißt übrigens „Zweite Liebe“. Weil alles, was es hier gibt, von hübsch bedruckten Notizzetteln, Briefbögen und Tagebüchern über Lampions und Strohhalmen bis zu Aufbewahrungskörben, Putz –und Wischlappen und Einkaufstaschen, recycelt und upcycelt ist und natürlich biodegradierbar. Aus einigen Glückwunschkarten wachsen sogar Blumen, wenn man sie in die Erde steckt. Ich bin Guerillagärtnerin, aber in der wohligen, ruhigen Atmosphäre des Geschäfts, das eher zum Gucken denn zum Kaufen aufgesucht wird, wandern meine Gedanken wieder einmal zu dem kleinen Landhaus, das ich mir wünsche, mit dem Rosengarten davor und dahinter, falls ich jemals zu Geld komme, was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist.Aus der Karte „Love is the new black“ wachsen keine Blumen, aber sie besteht selbstverständlich aus recyceltem Papier. Sie wurde mit sojabasierter Tinte, die als besonders umweltfreundlich gilt, in England gedruckt. Die schwedische Designerin Therese Sennerholt hat den Schriftzug entworfen.

Liebe ist also das neue Schwarz. Ein neues Schwarz wird immer wieder mal ausgerufen. Gemeint ist das coole, bequeme Schwarz, die einzige farbliche Konstante im Kleiderschrank, denn Schwarz passt zu jedem Anlass, jeder Tages – und Nachtzeit, zu jedem Zustand und jeder Laune. Niemand kommt ohne ein schwarzes T-Shirt aus.  Erst kürzlich erklärte der Berliner Modegestalter Michael Michalsky Rot zum neuen Schwarz. Und nun ist es die Liebe. Welche Liebe?

Ich fotografiere die Karte und stelle sie auf Facebook, um mit meinen Freunden darüber zu diskutieren. Einigen gefällt der Spruch, aber niemand kommentiert ihn. Was sollen sie dazu auch sagen, denke ich, als ich abends im Bett ein letztes Mal am Tag die Facebook-Nachrichten lese, wie es meine Gewohnheit ist. Liebe geht immer. Liebe ist, was uns gefällt und womit wir gefallen möchten. Liebe heißt ein Freund sein. Eigentlich banal. Schließlich geschehen wichtigere Dinge, die auf Facebook diskutiert werden.

In Moskau haben siebzigtausend Menschen gegen einen Krieg mit der Ukraine demonstriert. Juliane hat sich um einen Job als Lektorin beworben. Dreiundfünfzig Personen gefällt das. Ich bin die vierunddreißigste, die ihr wünscht, dass sie den Job bekommt. Die New Yorker Autorin Lily Brett hat das Foto einer Sonnenbrille, die ihre Mutter getragen hat, veröffentlicht. Sie schreibt, dass sie alle Sonnenbrillen ihrer Mutter beim Aufräumen wieder gefunden hat und dass sie diese an ihrer Mutter am meisten liebte. Siebenhundertachtundsechzig Personen gefällt das. Christiane hat ein Album mit ihren Urlaubsfotos angelegt. Ich schiebe ein bisschen darin herum. Es sind schöne Fotos. Sie machen mir Lust auf die Ostsee. Ich denke, dass es gut wäre, das Haus mit Rosengarten an der Ostsee zu haben. Yoko Ono schreibt, dass der Weltfrieden nur noch um eine Ecke ist. Klar, denn Liebe ist ja das neue Schwarz.

Ist dieses Rauf – und Runterwischen von Grüßen, Statusmeldungen, Sprüchen, Kunstwerken und Gedichten, Witzen, Links zur Weltpresse, zu Lieblingssongs auf Youtube und possierlichen Tierfilmen Liebe? Zirka einer halben Million Menschen gefällt das Foto einer Stute, die ihre Zwillinge nach der Geburt leckt. Weil beide Fohlen überlebt haben, obwohl es normal ist, dass eins nach der Geburt stirbt, wie im Kommentar erklärt wird. Das Foto wurde über einhunderttausend Mal geteilt. Ist Facebook das neue Schwarz? Die tägliche Wundertüte, aus der die Vergewisserung gut meinender, weil ferner Menschen purzelt, jede Menge Selbstbestätigung, in der Jackettasche dicht am Herzen zu tragen? Petra Pau schreibt, dass sie nach einem arbeitsintensiven Tag gut zu Hause angekommen ist. Gefällt mir. Ich unterschreibe noch eine Petition gegen Massentierhaltung und eine gegen die Pipeline Keystone XL in den USA und einen Aufruf für die Rettung des Regenwaldes in Costa Rica, dann schalte ich das Telefon aus.

Ich nehme mir vor, meine Facebookfreundin Doktor Muysers zu treffen. Sie muss es wissen. Ich besuche eine ihrer Vernissagen. In ihrem kleinen Büro drängeln sich schöne, gut gelaunte Menschen. Die Ausstellungen und Vernissagen in ihrem Büro kündigt sie ausschließlich auf Facebook und in ihrem eigenen Internetmagazin BerlinWoman.de an. Auf Facebook folgen ihr weit über 200 Abonnenten. Noch mehr Menschen wissen, dass Carola Muysers 53 Jahre alt ist, Kunsthistorikerin und Single, in einer Berliner WG lebt und ihrem kränkelnden Wellensittich morgens Kräutertee füttert. „Wie schön, dass wir uns mal analog kennenlernen“, ruft sie zur Begrüßung aus. Sie ist eine drahtige Frau mit fliegenden Haaren und großen Augen. Ich hatte sie mir distanzierter und angestrengter vorgestellt und bin überrascht von ihrer warmherzigen Ausstrahlung und ihrer kindlichen Begeisterungsfähigkeit. „Egal, wohin ich gehe, meine Sinne sind immer mit Facebook verbunden“, erzählt sie. „Ich mache Fotos und entwerfe unterwegs Texte.“ Am liebsten würde sie nach Kalifornien fahren und sich persönlich bei Mark Zuckerberg, dem Erfinder von Facebook und seiner Geschäftsführerin Sheryl Sandberg bedanken. „Ich verdanke Facebook meine Aufträge, mein gesamtes Business seit 2010 und ein wunderbares Netzwerk.“ Was das Business von Carola Muysers ist, lässt sich wie bei vielen freien Lebensartisten kaum in zwei Zeilen pressen. Außer der Website BerlinWoman.de unterhält sie ihr kleines Büro, indem sie Künstler coacht und zu Netzwerken verflechtet. Darüber hinaus gibt sie Kurse im sozialen Netzwerken und in Selbstmarketing an verschiedenen Schulen. Im Sommer steht sie morgens sechs Uhr auf, um vor der Arbeit als Trainerin und Coach ihre Facebook-Abonnenten zu begrüßen. „Facebook gibt meinem Leben Leichtigkeit“, sagt sie.

„Ist es Liebe?“ frage ich.

„Teilen“, antwortet sie. „Das ist das Zauberwort. Geben und Nehmen. Ich teile mit meinen Freunden und meine Freunde teilen mit mir.“

Teilen ist das neue Schwarz. Ich bin mit den Facebook-Gruppen OuiShare und Coliving verbunden. Das weltweite Netzwerk OuiShare unterhält in Berlin die Thinkfarm, eine Gemeinschaft, in der Begabungen und Fähigkeiten, Gartenerzeugnisse und alternativ gewonnene Energie geteilt werden, mit dem Ziel, sich langfristig vom Geldsystem abzukoppeln. In der Coliving-Gruppe suchen und finden sich Menschen, die Häuser und Höfe miteinander teilen möchten. Leider ist der Trend noch nicht in Europa angekommen. Die meisten Colivings befinden sich in den USA und Kanada. Ich denke wieder an mein zukünftiges Landhaus. Mit wem würde ich es teilen? Und plötzlich habe ich die Idee, mein Haus ohne Geld zu finden, über den WOLOHO Loveletter. WOLOHO steht für WORK, LOVE und HOME. Die Liebe in der Mitte repräsentiert den Kerngedanken des neuen Arbeitens und Wohnens. Im Liebesbrief kann sich jeder etwas wünschen oder verschenken oder beides, also tauschen. Ich wünsche mir einen Fluchtort auf dem Land, schreibe ich, ein Zimmer zum Nachdenken und Schreiben, mit Internet – , also Facebook-Anschluss und einem See in der Nähe und Bäumen zum Reden, unweit einer Bahnstation, denn ich komme mit dem Fahrrad. Ich schreibe noch, dass ich mich an den Nachmittagen gern um den Garten kümmere. Ich habe schon als Kind gärtnern gelernt und bin eine erfahrene Guerillagärtnerin.

Ich bekomme mehrere Angebote von Menschen, die aus der Großstadt aufs Land gezogen sind und dort ökologische Häuser und Höfe betreiben. Auch eine Mühle ist dabei. Alle schreiben mir, dass sie mit gleichgesinnten Nachbarn vernetzt sind und auch kulturell was auf die Beine stellen.

An einem schönen Frühlingstag nehme ich mein Fahrrad und steige in den Zug. Imke und Jerome haben ein Haus in der Uckermark gekauft. Am Hoftor schiebt mir ein großer Hund seine Schnauze zwischen die Beine. Jerome schleppt Steine. Er legt gerade einen Weg an. In seiner Email hatte er geschrieben, dass es schon jetzt viel zu tun gäbe im Garten. Es klang wie eine Aufforderung zum Mitarbeiten, obwohl ich doch erst einmal zum Kennenlernen vorbei komme. Imke kocht in der gemütlichen Landhausküche eine vegane Suppe. Ich betrachte das Grundstück, das noch kahl ist und einmal ein Garten werden soll. Ich stelle mir ein Rosenspalier an der Hauswand vor, die nach Südwesten geht. Ich weiß ziemlich viel über Rosen. Ich habe Bücher über Rosenzucht gelesen. In schlaflosen Nächten schaue ich mir die Bilder von Rosengärten an.

Sie laden mich zum Mittagessen ein. Ein Freund ist zu Gast, Oren vom Nachbarhof. Er ist zum Steine schleppen rüber gekommen. Wir sitzen auf der Terrasse an einem großen verwitterten Tisch. Jerome weist auf die Grenzen des Grundstücks in der Ferne. Hinter dem Drahtzaun geht es nämlich weiter. Sie wollen Gemüse anbauen.

Erschöpfung breitet sich in mir aus. Ich sehe mich umgraben, Tomatenpfähle einrammen, Kompost umschichten, Kartoffeln lesen und Unkraut hacken. Sie hätten einen Lehrgang über Permakultur besucht, sagt Jerome. „Es macht so Sinn“, sagt Imke und klopft dem Hund auf den Rücken. Imke ist Schauspielerin, Jerome Fotograf und Kameramann. Sie arbeiten für das Fernsehen. Ich verstehe, dass ihr Bedürfnis nach Sinn nicht ausgefüllt ist. Imke schlägt mir eine Probe – und Kennlernwoche im Mai vor, wenn sie den Komposthaufen anlegen will. „Drei Kammern. Das schaffe ich gar nicht allein.“

„Wir wollen hier keine Blumenbeete anlegen“, sagt Jerome und sieht mich an, als hätte ich irgendetwas von Rosen gesagt. Es ist klar, dass wir uns nicht lieben. Trotzdem lasse ich mich von Imke durch das Haus führen. Im kommenden Sommer soll es total umgebaut werden. Einen Platz zum Schreiben gäbe es in dieser Zeit sowieso nicht, nur Lärm und Staub. Unter dem Dach befindet sich das Zimmer der Wooferin, die seit einigen Monaten im Haus lebt, aber gerade nicht da ist. Woofer sind Menschen, die von Hof zu Hof ziehen und gegen freie Kost und Logis ökologische Landwirtschaft betreiben. Imke spricht mit Hochachtung von dieser Frau. Obwohl bereits klar ist, dass wir uns nicht lieben, regt sich in mir Eifersucht auf die Wooferin.

Als ich durch das stille, wunderschöne Land zurück zur Bahnstation radele, tröste ich mich damit, dass es immerhin gut ist, dass wir die Leute, mit denen wir teilen möchten, frei wählen können. Aber ich ahne, dass sich die Suche schwierig gestalten wird. Das mit der Liebe müssen wir noch ein bisschen üben, im analogen Leben jedenfalls, wo es um echte Äpfel und Birnen und Rosen geht. Es ist einfacher, einen Schein rüber zu reichen, für ein Zimmer zum Übernachten, ein warmes Frühstücksei, Biotomaten oder ein Haus. Geld war gar nicht so eine schlechte Erfindung.

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