Lomi-Lomi-Nui-Workshop mit Ute Baacke im Eden in Berlin-Pankow
Ich brauche sofort Urlaub. Aber bis nach Hiddensee sind es noch einige Wochen. Komisch, dieser Satz. Als sei es eine Illusion, dass wir heute schneller vorankommen als die Menschen in früheren Zeiten. Für mich sind es bis nach Hiddensee noch einige Wochen.
Ich hätte nach Norwegen fliegen können jetzt sofort, mit zwei Freundinnen, auf eine Insel, am Wasser, in ein Haus, in ein großes, schönes Haus aus Holz, ein norwegisches eben, mit einem Auto davor, um gelegentlich von der Insel runterzukommen.
F O R F R E E.
Wegen Hiddensee bin ich nicht nach Norwegen gefahren. Denn das Leben in Norwegen ist teuer, das Essen, die Fähre. Meine Neugierde hätte mich umgetrieben und zum Geld ausgeben veranlasst: Für Bücher, Landkarten, Vorträge, Bootstouren, Autofahrten ins nächste Dorf, die nächste Stadt, zum nächsten Fjord…
Ich bin in Berlin geblieben. Abends komme ich aus dem Büro. Es regnet schon wieder. Es ist kühl. Ich spüre meine Verspannungen im Rücken, sehne mich nach Hitze, weil die Verspannungen in der Hitze schmelzen.
Ich denke an Ute. Einmal war ich bei ihr. Sie hat mich auf hawaiianische Lomi-Lomi-Art massiert, eine ganze Stunde lang, in ihrem kleinen Studio in einer traumhaften Wellness-Fabrik in Charlottenburg. Mit anschließender Sauna. Bei einer Lomi-Lomi-Massage wird der gesamte Körper in Kokosöl getränkt. Das fühlt sich an, als würde er schmelzen. Alle Muskelspannung soll losgelassen werden. Du wirst schwer und lässt dich sinken in das Öl und Utes Hände, in die Kraft und Süße und Zärtlichkeit ihrer Streichbewegungen. Du fällst aus der Zeit. Manchmal schmerzt es irgendwo. Ute kann den Schmerz deuten. Sie erklärt, welche Einschränkungen und Verbote der Körper an dieser Stelle gespeichert hat, vielleicht schon vor vielen Jahren. Mein Körper erzählt meine Geschichte. Diese Geschichte gehört zu mir wie meine Hände und Füße. Bei Ute fühle ich mich mit dieser Geschichte aufgehoben, denn ihre Interpretation ist nicht wertend. Meine Geschichte ist wie sie ist wie mein Körper ist wie meine Gedanken sind wie meine Stimme ist wie ich gehe und renne und lache und tanze und singe und schaue und höre und spüre und wütend und traurig und fröhlich und glücklich bin wie ich liebe und arbeite. Nach Lomi-Lomi hatte ich verstanden, dass die Worte, die ich schreibe, nicht allein aus meinem Kopf, meinen Gedanken und meinem Erleben kommen. Sie fließen durch das Mark meiner Halswirbel, überwinden die vielen Blockaden an den Schulterblättern, sickern durch meine Arme, erreichen die Finger und über die Finger eine Tastatur. In jedes Wort fließt mein Körper fließt meine Geschichte. Lomi-Lomi, das ist die Gewissheit, dass mein ganzer Körper denkt.
Gerade könnte ich ein bisschen Lomi-Lomi brauchen. Es ist noch weit bis Hiddensse. Der Sommer scheint in diesem Jahr auch weit weg.
In der Nacht ruft Ute an. Ihre Fotografin hat abgesagt, aber sie möchte, dass jemand Fotos von ihrem Wochenend-Workshop macht. Ob ich das vielleicht tun würde. Ich könne dann an dem Lomi-Lomi-Workshop teilnehmen, wenn ich will. Ich soll alles mitbringen für eine Massage.
Der Workshop findet im EDEN in Pankow statt. Am Samstagmorgen bin ich erschöpft. Eigentlich wollte ich heute arbeiten. Aber ich habe mir Lomi-Lomi gewünscht und bekomme Lomi-Lomi. Also gehe ich zu Utes Workshop. Zu Beginn bin ich genervt. Hawaii – das kommt mir vor wie der nächste verrückte Spiri-Trend. Indien und Tibet sind durch. Südamerika wohl auch.
Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie das ist, wenn ein Ort dich gepackt hat, wenn du alles wissen willst über seine Geschichte, die Sprache, Kultur, Gepflogenheiten und Bräuche, wenn du dich fühlst wie –nein, nicht wie Kolumbus und Marco Polo! Ich weiß auch nicht.
Nicht alle betrachten die Welt als spirituellen Supermarkt. Einige begegnen anderen Kulturen behutsam und respektvoll. Monika ist in Utes Workshop gekommen. Sie ist Theaterwissenschaftlerin. In Manoa hat sie asiatisches Theater studiert, an einer Hochschule, an der es quadratisch-akademisch-westlich zuging. Aber Monika wollte immer den originalen Hula studieren. Ich lerne, dass Hula nicht irgendein Baströckchen-Tanz ist, sondern die performative Art, wie Hawaiianer ihre Geschichte erzählen. Eine hawaiianische Schrift gibt es nämlich nicht. Es gibt nur die Performance, den Gesang, die Stimme. Dieser Gedanke jagt mir Gänsehaut über den Rücken. Tanzen und Singen statt Schreiben! Mit dem Körper Geschichte erzählen! Monika hat lange nach einem Lehrer gesucht. Das war nicht einfach, denn die Hawaiianer teilen ihr traditionelles Wissen nicht mit Weißen. Aber schließlich ist es ihr gelungen, das Vertrauen eines Lehrers zu gewinnen. Sie leitet heute in Berlin die einzige Hula-Schule Deutschlands.
Ute leitet eine Körperübung an, in der es immer wieder um das Verschmelzen geht. Das Schmelzen des Körpers, das Verschmelzen mit dem Boden, mit der Umgebung. Unsere Arme sollen schlaff werden wie Spaghetti. Alle Bewegungen der Arme und Beine sollen wir allein aus vier Punkten heraus steuern, die sich in den Leisten und unter den Schlüsselbeinen befinden. Ohne Muskelkraft. Das ist ziemlich schwierig. Ich glaube, ich benutze doch heimlich die Muskeln.
Dann tanzen die Frauen den Ka’alele, einen Tanz nach einer einfachen Schrittfolge mit weichen, ausladenden Armbewegungen. Zuerst schaue ich nur. Ich will fotografieren. Aber dann kann ich nicht mehr am Rand stehenbleiben. Ich muss mittanzen. Ich tue mich schwer mit Utes Bewegungsanleitung. Vielleicht hat es mit meiner Linkshändigkeit in einer Rechtshänder-Welt zu tun, dass ich eine Art Phobie gegen Bewegungsanleitungen entwickelt habe. Nach dem hawaiianischen Weltbild muss es Barbarei sein, von „falschen“ und „richtigen“ Händen zu sprechen und Kindern das Gefühl zu geben, ihre geschicktere Hand sei die „falsche“. Später folge ich den Schritten der Tänzerin vor mir. Ich versuche, die Füße genauso zu setzen wie sie und nach wenigen Minuten schon habe ich den Schritt. Wir tanzen synchron in einer Reihe. Manchmal ist es gut, wenn alle dieselbe Bewegung vollziehen, zum Beispiel, um ein Boot übers Wasser zu lenken. Ein bisschen sieht es so aus, als säßen wir in einem Boot. Ka’alele heißt übersetzt: Der Weg zum Fliegen. Vielleicht sind wir ein Schwarm Vögel auf dem Weg in den Sommer. Wir tanzen lange.
Später erfahre ich, dass auch Lomi-Lomi ein Tanz ist. Nach dem Ka’alele-Schritt bewegt sich die Masseurin um den Körper. Der Tanz gibt ihr die Kraft.
Ute hat sehr viel Obst und Gemüse mitgebracht und viel Wasser. Immer wieder fordert sie uns auf zu essen und zu trinken. Wir sitzen zusammen und reden. In einem Workshop, in dem es um Bewegung geht, ist es Ute wichtig, dass wir darüber reden, was uns
B E W E G T. Sie hat einen Raum geschaffen, in dem diese Bewegungen sein dürfen und in Gesprächen und Umarmungen aufgenommen und weitergeführt werden.
Auf dem Sims des großen, alten, reich verzierten grünen Kachelofen in der Ecke stehen Postkarten und Flyer mit weißen Blumen und Meer dahinter und Frauen, die Hula tanzen. Am Ende nehme ich von allen etwas mit. Der Ka’alele hat mich erfasst. Wir fliegen. In einem Schwarm. In einem Boot.