Im Sinne krummer Gurken

Begegnungen mit Tanja Zimmermann und Holger Stark

"Welle" von Holger Stark

„Perfekte Welle“ Installation von Holger Stark in der aktuellen Ausstellung im Museum Atelierhaus Rösler-Kröhnke in Kühlungsborn. Im Vordergrund Tanja Zimmermann

Im Museum Atelierhaus Rösler-Kröhnke in Kühlungsborn zeigt Holger Stark eine Installation, eine Welle aus Holz, die über eine Treppe fließend zwei Ausstellungsräume miteinander verbindet. Eigentlich ist es ein Kasten aus rötlichen, rohen Holz, dessen Decke leicht in sich gedreht ist. Die Bretter bilden den Schwung bewegten Wassers. Es ist die erste Arbeit, die ich von Holger Stark sehe, besser gesagt erlebe, denn Installationen brauchen eben den Kontext, den Fotos schwer vermitteln können.

Die Holzwelle schmiegt sich dicht an Wand und Treppenstufen. Die Bretter sitzen wie angegossen. Und doch liegt das Ding sperrig im Raum, wie ein Fremdkörper auf den weißen Fliesen der Ausstellungshalle on the top of Ostsee, durch dessen Fensterflügel der Blick die Kühlung hinabwandert zum milchigblauen Streifen der See, wo Frachter zwischen Himmel und Wasser schweben. Weiterlesen

Himmel über Marzahn

Berlin-Marzahn ist kein Traumziel der Touristen. Doch die Pension „11.Himmel“ ist immer ausgebucht. Untergebracht in einem ganz normalen Plattenbau, wird sie von Kindern aus der Nachbarschaft betreut.

Kulturhochhaus Marzahn

Die Pension befindet sich im zehnten und elften Stockwerk eines Plattenbaus in Berlin-Marzahn, am Barnimplatz, wo das Unkraut zwischen den Gehwegplatten kniehoch wächst. Marzahn ist weder das Traumziel der Touristen noch der Wohnungssuchenden. Doch die Pension ist immer ausgebucht. Die Gäste kommen aus der ganzen Welt. Sie werden von Kindern empfangen und von Kindern bewirtet. Marzahner Kinder zwischen neun und siebzehn Jahren haben die zehn Wohnräume eingerichtet und gestaltet, nicht nach Art der Erwachsenen, die unter dem Wort Pension eine auf den kleinsten gemeinsamen Nenner deutscher Wohnkultur gebrachte Einrichtung in gedeckten Farben mit einem Fernseher mittendrin verstehen. In der Marzahner Kinderpension gibt es keinen Fernseher. Die Pension ist das Programm.

Angie sitzt auf dem riesigen Prinzessinnenbett in der Königinnensuite.  Weiterlesen

Herr von Gigantikow

Reinhard Zabka ist mit seinem Lügenmuseum nach Radebeul gezogen. Dort registriert er mehr Neugier, aber er polarisiert auch in Sachsen

Reinhard

Foto: © Amac Garbe/ Dresden/ www.ein-satz-zentrale.de

Lügenmuseum heißt der Ort, ein staubtrockener Name, der nur als Tarnung gedeutet werden kann für die Poesie dieses funkelnden, blinkenden, surrenden, singenden und klingenden Universums. Es ist, als gerate man in die eigenen Träume, als stürze man aus den Mechanismen der Zeit in ein Wunderland. Aus einem alten Koffer bläst Wind, bringt ein nacktes Lampengestell zum Erzittern, worauf ein kaltes Funkeln durch die Einweckgläser und Spiegelscherben huscht.

Das Schiff

Foto: © Amac Garbe/ Dresden/ www.ein-satz-zentrale.de

Weiterlesen

Berliner Notiz-Blog, 29. Juni 2011

Gift gegen griechische Demonstranten

Von meinem Schreibtisch aus schaue ich zu, wie in Athen Demonstranten mit Gas – und Atemmasken und nassen Tüchern vor dem Gesicht auf der Flucht vor den Polizeigeschwadern auseinander stieben. Die Kamera zittert, man sieht ein Chaos von Beinen, den Himmel, dichte, graue Wolken – der Pavillon des Fernsehsenders wurde umgerissen.

Es ist 15:34. Gerade hat das Parlament in Athen den Sparmaßnahmen zugestimmt. Die Kamera taucht aus dem Chaos wieder auf, hält auf einen jungen Mann mit hellbraunen, langen Haaren. Er hat ein Handtuch vor das Gesicht gepresst. Er atmet schwer und hält sich an irgendetwas fest, den Blick nach unten gerichtet. Er muss sich sammeln, konzentrieren, damit er weiterlaufen kann, trotz der Übelkeit.

Rauchschwaden steigen über den Straßen auf. Leute rufen, schreien, husten. Dazwischen, wechselnd in Französisch und Englisch, ein Aufruf an alle Zuschauer, die griechischen Botschaften in allen Ländern anzurufen, um gegen den Gifteinsatz zu protestieren. Die Demonstranten seien unbewaffnet. Sie sind tatsächlich unbewaffnet. Es sind ganz normale Leute, in Sommerkleidung. Manche tragen einen Rucksack. Eben sah die Demonstration von oben noch aus wie Markttreiben.
Der Sprecher hat Probleme mit der Stimme. Wir machen weiter, sagt er. Wir werden siegen.

Neben dem Film läuft ein Chat. Menschen in verschiedenen Sprachen tauschen Botschaften aus, kurze, wirre Gesprächsfetzen. Verschwörungstheorien tauchen auf. Leute streiten über Sozialismus und Kommunismus. Jemand sagt, Merkel sei doch kommunistisch erzogen und daher käme das Unglück.

Die Bilder kommen nicht aus Libyen oder aus einem anderen Land eines anderen, durchgeknallten Diktators. Sie kommen aus Athen. In Athen stand die Wiege Europas. Hier fand die Antike statt. Die Demokratie wurde von den Athenern erfunden. Nicht ganz die Demokratie, auf die wir einmal so stolz waren, denn damals in der Antike waren noch keine Frauen dabei.

Selten in meinem Leben haben mich Bilder so schockiert. Das letzte Mal am 11. September. Das hier ist wieder ein 11. September. Nichts wird so bleiben wie es ist. Eine Welt geht gerade zugrunde. Und es gibt tatsächlich Idioten, die glauben, Europa wäre gerettet, weil das griechische Parlament dem Sparpaket zugestimmt hat.

Kathrins Notiz-Blog 25. Januar 11

© Illustration Liane Heinze

Gestern habe ich Kolja im Büro besucht. Er saß allein im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe in dem dunklen, leeren Büro. Er sprang nicht wie sonst auf, um mir aus dem Parka zu helfen. Er sagte nichts. Es musste etwas geschehen sein. „Hier!“ Er schnippte mir über seinen Schreibtisch einen Brief entgegen. „Ist heute gekommen.“ Es war ein grauer Brief. Ich brauchte ihn nicht auseinanderzufalten. Ich wusste, es war die Absage an seine Idee.

Er hatte eine Wohnhaussiedlung für sozial schwache Familien vorgeschlagen. Die Familien sollten an der Gestaltung mitwirken. Sein Entwurf sah vor, dass sich die Größe der Räume verändern ließ. Außerdem konnten die Mieter je nach Lebensart entscheiden, ob ihre Badewanne im Schlafzimmer stehen sollte, oder in der Küche oder in einem klassischen Bad. Koljas Konzept hatte auch vorgesehen, dass ich die Bewohner bei der Inneneinrichtung beriet.

„Idioten!“, sagte er. „Statt zu sagen: Los, ihr Hartz-IVler, fangt an, kommt mal raus aus eurem Kasten, schiebt die Wände hin und her und denkt sie neu. Hey, spielt doch mal wieder! Das wird euer Leben ändern. Nein! – Wie sollen wir das verwaltungstechnisch eckig in unsere kleinen Karteikästen kriegen?“ ahmte Kolja die Meckerstimme einer Bürokratin nach.

Er stand endlich auf, mich zu umarmen. Dann schob er sich eine Zigarette zwischen die Zähne und zündete sie mit einer großen Geste an. Er hielt mir die Schachtel hin. Ich bediente mich. Ich hatte schon lange nicht mehr geraucht. Kolja hockte mit hängenden Schultern auf der Ecke seines Schreibtisches, seine Schiebermütze weit aus der Stirn geschoben. Sie hatte eine Druckstelle über dem rechten Ohr hinterlassen.

„Kolja?“

„Mm.“

„Es muss sich was ändern.“

„Revolution? Kommunismus?“ Er blickte auf, grinste, die Zigarette zwischen seinen geraden Zahnreihen. Er schloss die Lippen, um daran zu ziehen und blies den Rauch dann wieder durch die Zähne.

Ich kicherte. Es gab gar nichts zu Lachen. Das heißt, es gibt immer was zu Lachen, gerade, wenn etwas trauriges passiert. Etwas sehr trauriges. Lachen ist Abwehr und Einverständnis zugleich. Im Lachen liegt das Paradoxon unserer Existenz.

Kolja ließ sich rücklings auf den Schreibtisch fallen, so dass nur sein Gesicht im Lichtkegel lag. Er gab dem Lampenschirm einen Schubs. „Haben wir doch schon“, sagte er.

„Blöde, billige Wohnungen für alle.“

„Nicht für alle.“

„Gott sei Dank nicht für alle“, sagte Kolja.

„Wie wäre es mit unseren Wohnungen für alle?“ Ich ließ mich neben ihn sinken. Da lagen wir nun in unserem harten Doppelbett und hatten beide vorerst keinen Job. Kolja drehte sich zu mir, legte seine Hand auf meinen Bauch. Ich nahm einen langen, tiefen Zug.

„Du meinst, wir könnten im Kommunismus ein Geschäft machen?“

Ich musste wieder lachen. „Sag mal, was ist in dem Zeug drin?“ Ich richtete mich auf, schaute aus dem Fenster des Heizhauses durch die kahlen Bäume auf die Sechziger-Jahre-Fassaden gegenüber. Gott, was war diese Stadt im Januar hässlich!

„Kann man mit dir überhaupt kein ordentliches Weltverbesserer-Gespräch führen?“

„Doch“, flüsterte er. „Weiter so. Die Welt wird gerade immer besser.“ Er legte seine Hand auf meinen Rücken.

Ich ließ mich wieder neben ihn fallen. Sein Gesicht war ganz nah. Ich probierte, wie es sich anfühlt, seine Lippen zu küssen, danach, wie es sich anfühlt, wenn sein unrasiertes Gesicht über meine Wange streicht. Dann sprang ich auf. Genug. „Ich muss los.“

Kolja richtete sich langsam auf, als hätte ich ihn aus einem langen Schlaf gerissen. „Du bist doch eben erst gekommen.“

„Du solltest das Projekt auf keinen Fall aufgeben.“ Ich wickelte meinen Schal ungefähr zwanzig Mal um den Hals, damit ich es mir nicht anders überlegte und mich wieder auszog.

Er begleitete mich zur Tür. „Sie ist schwanger“, sagte er.

„Das ist wunderbar. Es ist großartig“, sagte ich. „Du wirst sehen.“

Er nickte.

„Du glaubst mir nicht.“

Er legte seine Hände um meine Taille und zog mich für einen Kuss an sich. Dann riss er die schwere Eisentür vor mir auf. Als ich auf die Straße trat und hungrig nach der kalten Luft schnappte, dachte ich, dass Kolja meine Taille so verstand wie den Griff einer Einkaufstüte, als etwas Funktionales.