Die Oderberger Straße liegt im Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg. Im Sommer gleicht die Straße einem Garten. Die Biotope der Laden –, Cafébetreiber und Anwohner wuchern in Kübeln, Kisten und mit kleinen Steinmauern umfriedeten Beeten auf den breiten Bürgersteigen. Überall sind Lese- und Party- Plätze in das Grün installiert. Die Bewohner der Oderberger Straße haben sich ein Umfeld geschaffen, das ihren Lebensstil repräsentiert und andere daran teilhaben lässt.
Jetzt sollen die holprigen, noch aus DDR-Tagen stammenden Bürgersteige auf Westniveau geklopft werden. In zwei Jahren werden Bagger anrücken.
Politiker ordneten an, das Grünzeug zu beseitigen.
Doch die Bürgerinitiative BIOS (Abk. für Bürgerinitiative Oderberger Straße) verteidigte die selbst kreierten Gärten und Plätze gegenüber den Plänen des Bezirksamts. Mit Erfolg.
Damit sie auch in Zukunft ihre Straße mit gestalten können, empfiehlt der Architekt Professor Rainer W. Ernst, Leiter des Beratungsausschusses Kunst des Berliner Senats, die Straße unter das Copyright der Anwohner und Gewerbetreibenden zu stellen.
Ein Gespräch über einen Präzedenzfall, der an alte Traditionen knüpft, über bürgerschaftliches Engagement hier und anderswo, einst und heute.
Professor Ernst, wie entstand die Idee des Copyright für die Oderberger Straße?
R.W.Ernst: Wolfgang Krause, Künstler und Dozent an der Kunsthochschule Weissensee, in der ich den Masterstudiengang „Raumstrategien“ betreue, hat mich zu einem Treffen der Bürgerinitiative BIOS mitgenommen. Krause ist ja seit langem im Kiez um die Oderberger unterwegs, hat dort viele Kunstprojekte organisiert. Er lebt seit vielen Jahren in der Oderberger Straße. Der Fall dieser Straße hat mich sofort elektrisiert.
Das hat es ja noch nie gegeben, dass der von den Anwohnern geschaffene Bestand in die weitere Planung einfließen wird. Jetzt geht es darum, das Vorhandene zu ergänzen, auch zu verbessern.
Die Idee des Copyright entwickelte sich dann im Gespräch. Damit die Rolle der Bürger zukünftig nicht nur darin besteht, die Vorschläge anderer zu kommentieren oder Wünsche in einem Kummerkasten abzuliefern, ist der Gedanke des Copyright ein wichtiges Argument. Er bedeutet, dass die Bürgerinitiative BIOS das Recht bekommt, zu entscheiden, was in Zukunft mit der Straße passiert.
Die Idee des Copyright ist einfach die Anwendung eines Prinzips, in dem sich die Anerkennung für etwas, das gemacht wurde, ausdrückt, so dass sich bestimmte Regeln der Verfügbarkeit daraus ableiten.
Wo kämen wir denn stadtplanerisch hin, wenn das jeder machen würde?
R.W.Ernst: Dieser Fall könnte andere Bürger ermuntern, ähnliches zu schaffen. Warum nicht? Man kann natürlich kein Urheberrecht beanspruchen, wenn man irgendwo einen Baum im Kübel hinstellt. Das Geschaffene müsste einen Wert darstellen, ähnlich dem in der Oderberger Straße.
Das viel Aufregendere ist die Idee, ein Kataster der Patenschaften zu erstellen. Wir streben jetzt Verträge zwischen den Bürgern und dem Senat von Berlin an, in denen Räume und Paten vereinbart werden. Alles, was in diesen Räumen geschieht, ist dann urheberrechtliches Eigentum derer, die es geschaffen haben.
Man muss ja nicht gleich das ganze Stadtgebiet mit einem Kataster der Patenschaften überziehen, das dann gar nicht ausgefüllt wird, aber es wäre erstmalig eine institutionelle Gegebenheit, die das Engagement der Bürger erleichtert.
An der UdK haben Sie in den Achtzigerjahren den Studienschwerpunkt „Bau und Stadtentwicklung in außereuropäischen Kulturen“ initiiert und zu diesem Thema einige Aufsätze publiziert. Hat es andernorts schon diesen Fall gegeben, dass Bürger ihre eigene Straße gestalteten und ihre Arbeit öffentlich anerkannt wurde?
R.W.Ernst: Das hat es in einigen Armenvierteln in Lateinamerika und Asien gegeben. Man hat diese Viertel verbessert und sie von vornherein mit den Leuten gemeinsam gestaltet, in ganz unterschiedlichen Prozeduren, unter verschiedenartigen Beteiligungen aber auch soweit, dass sie weitgehend von den Bewohnern selbst gestaltet wurden, natürlich wurden sie dabei beraten. Selbstverständlich haben die Bewohner das dann als ihr eigenes Produkt angesehen.
In diesem Fall ging die Initiative doch sicher von den Stadtplanern aus.
R.W.Ernst: Das ist richtig. Dahinter standen soziale Überlegungen. In der Vergangenheit hatte man oft nicht verstanden, wie die Menschen sich organisieren, Gepflogenheiten, die man nicht kannte, wurden negiert und verletzt. Das schuf Aggressionen. Die Mitgestaltung sollte es den Anwohnern erleichtern, Verantwortung zu übernehmen.
Mir fällt ein anderes Beispiel aus Europa ein, dass dem in der Oderberger Straße ähnelt. Nach dem Tod Francos wurden die öffentlichen Plätze und Grünanlagen Barcelonas unter Mitwirkung aller Bürger gestaltet. Diese Gestaltung erlangte große internationale Beachtung.
Wie wurde diese Bürgerbeteiligung in Barcelona organisiert?
R.W.Ernst: Sämtliche Bürgerschaftsvereine der Stadt wurden aufgefordert, die Gestaltungsideen der Bürger zu sammeln.
Wurden die Bürgerschaftsvereine mit diesem Ziel geschaffen?
R.W.Ernst: Nein, es hatte sie schon vorher gegeben. Während der Franco-Diktatur waren sie auch eine Art Kontrollelement, obwohl die Repräsentanten von den Anwohnern gewählt wurden.
In der Ausnahmesituation nach dem Tod Francos nutzte man diese Struktur.
In einer Turnhalle wurden alle Entwürfe und Wünsche der Bürger zusammen getragen. Sie wurden an den Wänden und auf riesigen Tischen präsentiert. Es waren die verrücktesten Ideen darunter.
Ist das nicht ein Alptraum für jeden Stadtplaner, eine Turnhalle voll einander widersprechender Entwürfe als Ausgangspunkt der Arbeit vorzufinden ?
R.W.Ernst: Ganz und gar nicht. Alles selbst entwerfen ist gut und schön, doch es ist auch eine Art Anmaßung, eine Diktatur gegenüber Dritten. Um eine Kenntnis der realen Lebensabläufe zu bekommen, muss man mit den Leuten sprechen. Bürger, Anwohner finden nicht in jedem Fall von sich aus die richtigen Lösungsansätze. Das ist eben das Spannende an diesem kommunikativen Prozess, man ist leitend tätig, doch anders, eher als eine Art Moderator, man gibt einen Rat, unterbreitet Vorschläge. Natürlich ist Vertrauen eine Voraussetzung, um so arbeiten zu können. Wir haben auch in Berlin die gestalterische Grundlage für eine Plattensiedlung in einem solchen Dialog mit den zukünftigen Bewohnern erarbeitet.
Letztendlich hat Stadtplanung mit Bürgerbeteiligung in Europa eine Tradition. Die ersten freien Bürgerstädte im Mittelalter wurden ja auch von der Gemeinschaft der Bewohner gestaltet.
Dann geht man in der Oderberger Straße jetzt „back to the roots“ der ersten europäischen Städte?
R.W.Ernst: In gewissem Sinn schon. Natürlich kann man die damaligen Gesellschaftsverhältnisse nicht mit denen heute vergleichen. Damals waren es die Hausbesitzer, Unternehmer und Produzenten, die „Stadt“ schufen. Und auch die Stadt im Sinne der „freien Stadt“ gibt es ja nicht mehr. Mit dem Entstehen der Territorialstaaten zu Beginn des Barock verloren die Freien Städte ihre Rechte.
Städte sind heute bloße Verwaltungsbezirke. Man muss auch berücksichtigen, dass es in Deutschland lange Zeit überhaupt keine Bürgerinitiativen gegeben hat. Das begann erst in den Siebzigerjahren wieder. Sie enstanden zunächst aus Protest gegen Abriss und Autobahnplanungen, in den achtziger Jahren belebt durch die alternative Bewegung.
Wie sehen Sie die Zukunft bürgerschaftlichen Engagements?
R.W.Ernst: Interessanterweise haben sich die staatlichen Möglichkeiten für bürgerschaftliches Engagement immer noch nicht verändert.
Das wird am Fall der Oderberger Straße deutlich. Die Bürgerinitiative muss sich jetzt mit Ämtern und Politikern auseinandersetzen, ein Dialog-Prozess, der gut strukturiert werden muss. Glücklicherweise haben wir noch etwas Zeit, denn die Bauarbeiten sollen ja erst 2009 beginnen.
Jetzt geht es darum, rechtliche Instrumente wie das Kataster der Patenschaften oder Urheberrechte zu entwickeln, staatliche Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement in der modernen Großstadt.
Ich halte das für dringend notwendig, denn vom bürgerschaftlichen Engagement wird sehr viel Lebensqualität in der Zukunft abhängen. Allmählich bildet sich in Deutschland ein Bewusstsein dafür.