Dabei ist es noch gut hier

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Das Magazin Juli 2006

Hauptschüler in der Provinz. Sie haben kleine Träume und große Sorgen. Mit wem können sie die teilen? Mit den Lehrern jedenfalls nicht. Ein Sittenbild aus der Kleinstadt Kreischa.

Mit dem Nachmittag kann man nichts mehr anfangen. Diese Nachmittage gleichen sich. Sie folgen aufeinander wie eine vergilbte Buchseite der anderen. Abgegriffene Zeit. Zu spät, sich unter ein Auto zu legen und zu basteln.
Hausaufgaben haben sie nicht. „Wir haben nie Hausaufgaben“, sagt Robert. Daniel sieht schon wieder auf sein Handy. Der Fahrlehrer könnte jeden Moment anrufen. Vielleicht klappt es morgen mit der Moped-Prüfung. Einmal ist er schon durchgefallen, weil er bei Gelb an einer Baustelle vorbei gebrettert ist. Da, wo er heimlich übt, im Wald und auf dem Acker, stehen keine Ampeln. Er röstet durch Schlamm und über Wurzeln, träumt sich als Moto-Crosser. „In den Sommerferien fahre ich nach Berlin“, sagt er.

Sie hocken auf den alten Tischtennisplatten vor der Bowlingbahn. Ein schöner Platz. Ein grüner Platz. Nebenan plätschert ein Bach.
Daniel rammt seine Ferse in die zerborstene Ecke der Steinplatte. Die bröckelt seit Jahren schon. Die Bänke auf dem Platz sind morsch wie der flache Holzbau der Bowlingbahn. Die Fenster mit Brettern vernagelt.

Daniel ist Sprecher der Klassenstufe 9 Hauptschule und stellvertretender Schülersprecher der Mittelschule Kreischa. Seine Mitschüler haben ihm ihr Vertrauen ausgesprochen. Daniel, der mit seiner Meinung nicht hinter den Berg hält, seinen Widerwillen gegen die Welt ausspuckt, manchmal quer wie eine Wand steht. Groß und breit. Ein Kerl wie ein Bär. Seine Hände beulen die Hosentaschen.

Robert spricht wenig. Der Schulbus nach Maxen, seinem Heimatort, ist längst abgefahren. Er hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er muss erst am Abend in Maxen sein, wenn das Training bei der Freiwilligen Feuerwehr beginnt.

Die Schule steht drüben am Hang. Sie thront über dem Ort. Sonnenlicht flutet durch die Korridore, bleicht Bilder, Landkarten und Wandzeitungen, auf denen in diesem Monat das Römische Reich erklärt wird. Es ist eine saubere Schule. Der Blick aus dem Lehrerzimmer gleitet über den Ort, über Pferdekoppeln und die gelben Häuser der Bavaria-Klinik.
Fachwerk. Trockenblumen und Getöpfertes. Da drüben, der kühne Glasgiebel, wurde mit einer Gardine verhängt. Kreuzworträtsel und Häkelmuster knautschen in den Sesselritzen.
Nach Kreischa ziehen sich Menschen zurück, denen es in Dresden zu laut wird. Die Großstadt mit ihren Theatern, Konzertsälen und Edel-Boutiquen ist dennoch nicht weit.

Die Schülervertreter sind mal auf das Schulamt nach Dresden gefahren. Wegen diesem Lehrer, dem Grabscher, der den Mädchen an den Hintern geht und dabei Dinge sagt wie: „Geiler Arsch.“
Man hat sie wieder nach Hause geschickt. „Wir müssen mindestens fünf Zeugen bringen“, sagt Daniel. „Sie wollen klare Beweise.“ An mehr könne er sich jetzt nicht erinnern. Sei schließlich schon ein halbes Jahr her. Und er sei da auch nur mitgefahren. Habe weiter hinten gestanden, dritte Reihe ungefähr und nicht alles mitbekommen.

Die Hände beulen die Hosentaschen. Daniel, der plötzlich nicht weiß, wohin mit diesen Armen und Beinen, diesem großen Körper und seiner Wut.
„Die aus der Zehnten“, erzählt er. „Die sind mal alle zu dem hin, alle Jungs. Da sind solche Kerle dabei.“ Daniel streckt den Arm bis zur löchrigen Dachrinne der Bowlingbahn. „Sie haben dem gesagt, dass sie zum Schulamt gehen oder zu seiner Frau, wenn es nochmal passiert. Seitdem lässt er die Mädchen aus der Zehnten in Ruhe. Wir sind gerade mal acht Jungen. Die in der Zehnten sind sechzehn.“ Daniel sackt zusammen. Er blickt zu Robert, der neben ihm lehnt, klein, die Schultern noch schmal. Fünfzehn Jahre. Daniel ist zwei Jahre älter.
„Sitzen geblieben.“ Robert grinst. „Quatsch“, sagt Daniel. „Ich habe zwei Klassen wiederholt.“
Daniel legt sein Handy jetzt immer auf die Schulbank. Für das Beweisfoto. „Der schmeißt auch einen Stapel Papier runter und fordert ein Mädchen auf, ihn aufzuheben, um ihr in den Ausschnitt zu schauen“, sagt Robert.

Der Bus nach Maxen, Roberts Heimatort, fährt durch Apfelplantagen und Wiesen, vorbei an einem Gestüt. Robert zeigt den Weg zur Naturbühne, das beste Restaurant des Ortes und erzählt von der neu gebauten Moschee. Er weiß, was Gäste interessiert, die nach Maxen kommen.
Die Mädchen hätten jetzt vor den Prüfungen Angst zu sprechen, sagt er. „Wenn der uns reinlegt, ist alles verloren.“
Hilfe von den anderen Lehrern könne man vergessen.
„Dreckfressen“ hätte mal eine geschrien. Und dass sie den qualifizierten Hauptschulabschluss sowieso nicht schaffen. Sie hätten fast alle schon Ohrfeigen einstecken müssen. Manchmal würden sie im Klassenraum eingeschlossen.
Eine Lehrerin sei aber ganz in Ordnung, sagt Robert. Ihr hätten sie sich anvertraut und der netten Dame von der AOK Freital, die das Bewerbertraining mit ihnen gemacht hat.

Robert erzählt von Dynamo Dresden, seiner Lieblingsmannschaft und dass er kein einziges Heimspiel versäumt, dass sein Vater, nicht sein richtiger Vater, deswegen sauer sei, dabei sei er es doch gewesen, der ihn als Kind mit auf den Fußballplatz nach Dresden geschleppt hat.

Der Lehrer schlendert über den sonnigen Gang. Das Linoleum glänzt. Er schwenkt sein Schlüsselbund. Er lächelt. Er sagt zu dem dünnen Mädchen mit den rosa Haaren: „Hallo. Wie geht’s?“ Sie antwortet nicht, federt die Treppe hinab, blickt sich nicht um, weil sie weiß, dass er am Geländer steht und ihr nachschaut.
„Ich habe von dieser Sache gehört“, sagt die Lehrerin mit den großen, wachen Augen. „Man kann nichts machen, solange es keine Beweise gibt.“

Daniel hat einen Ausbildungsplatz. Nicht weit von Kreischa, in einem Restaurant, wird er Koch lernen. Seit einiger Zeit jobbt er hin und wieder im Hotel „Kreischaer Hof“. Er mache dort alles. „Na, alles eben.“ Er zuckt die Schultern, verwundert über die Frage. Was gibt es da zu erzählen? Ist es für irgendwen interessant, ob er den Geschirrspüler einräumt, Gurken schält oder die Tische eindeckt? Man müsse eben bereit sein, alles zu machen und wer arbeiten will, der findet auch eine Arbeit. Es sei doch kein Wunder, dass der Staat pleite ist, wenn so viele Leute nicht arbeiten wollen. „Die schlafen bis elf und saufen schon am Vormittag.“ Er kenne die. Habe selber jemanden in der Nachbarschaft, der auf Hartz IV mache.

Robert ist still. Selbst, wenn er anderer Meinung wäre als Daniel, würde er den Mund halten, sich nicht mit diesem Brocken anlegen, der mit dem Mundwerk allen voraus ist. Also denken sie über alles gleich. Ist einfacher so. Über Hip-Hopper: „Sieht doch bescheuert aus, wenn die Hosen bis in die Knie hängen.“ Über Ausländer: „Nichts dagegen, wenn die arbeiten.“ Schwule: „Pervers.“ Was das Wort bedeutet, weiß Daniel nicht. „Ich meine doch nur, dass es eklig ist, wenn die vor mir knutschen, während ich gerade esse.“

Robert ist noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Er möchte später ein eigenes Restaurant führen.
Am nächsten Tag bringt sie ein Bus übers Land. Schulexkursion. Sie sollen sich Betriebe anschauen, in denen Metall verarbeitet wird.
Nach dem ersten Betriebsrundgang weist der Geschäftsführer darauf hin, dass er nur Abiturienten und Realschüler ausbildet. „Wir können arbeiten“, ruft einer der Hauptschüler. Der Geschäftsführer zerrt an seinem Kragen unter der Krawatte. Sein Gesicht ist rot. Er entscheide nach Noten. Eine andere Wahl habe er nicht. Vierzig Bewerber, aus denen er einen auswählt. Sie könnten aber ein Betriebspraktikum machen. In der zweiten Firma empfängt sie eine ältere Frau. Sie hält die Hände vor dem tonnenförmigen Leib gefaltet, während sie erklärt, dass sie keine Mädchen ausbildet, weil Mädchen Kinder bekommen und dann nicht mehr am Abend und in der Nacht arbeiten könnten. Das rechne sich nicht. Die Maschinen müssten Tag und Nacht laufen. Mit den Hauptschülern, da müsse man sehen. Sie hätte auch Arbeiter mit Hauptschulabschluss.
Die Fußböden der Fabrikhalle schwitzen ölig. Aus einem Abfall-Container quellen rötlich und weiß glänzende Spiralen aus Edelstahl. Zwei Mädchen bleiben stehen und suchen die schönsten aus. Wie die Lockenpracht eines Fauns, dessen Kopf man nach der Enthauptung in diesen Behälter gequetscht hat.

„Man muss vorsichtig sein mit dem, was die Hauptschüler manchmal erzählen“, sagt die junge Lehrerin. „Sie reagieren so sensibel. Die bilden sich auch schnell mal etwas ein. Sie neigen zu Übertreibungen.“
In den letzten Jahren sei es immer schwieriger geworden, sie zu unterrichten. Inhalte könne sie kaum noch vermitteln. Hausaufgaben gibt sie schon lange keine mehr auf. Die Auseinandersetzung zu Beginn der Stunde, wer wieder nichts gemacht hat, raube zuviel Zeit und Kraft. „Manchmal, wenn ich in die Klasse komme und nicht lächele, werde ich von der Seite angemacht: ‚Schlechte Laune heute?“

Der Bus bringt die Schüler nach der Exkursion zurück nach Kreischa. Vorbei am Bäcker, am Döner-Laden, dem über hundertjährigen Textilhaus Schauer und der Drogerie am Buswendeplatz. Im Schaufenster der Drogerie bröseln verblichene Heilpflanzen. Drinnen lehnt die Drogistin an der hohen Eichenwand und blickt durch die Kunden hindurch zur Tür hinaus, die Hände zwischen Rücken und Wand, als stützten sie sich gegenseitig. Seit man denken kann, lehnt sie dort. Ihr Haar ist staubig geworden im Laufe der Zeit. Aber ihr Blick ist unverändert, egal, ob die Schüler Brausepulver oder Kondome kaufen. Sie könnten nach Cyankali oder radioaktiven Uran fragen, sie würde mit der gleichen Miene antworten: „Tut mir leid.“

„Was hält uns hier?“ fragt Daniel trotzig. Sie sitzen im Bäckerladen neben dem Supermarkt. Die Frage klingt nicht nach Aufbruch, nicht einmal nach einer kleinen Radtour ins nahe Dresden, wo die Clubs, die sie hier vermissen, zahlreich sind. Die Frage ist als Vorwurf gemeint und als Ausrede, sitzen zu bleiben.

Draußen auf dem Parkplatz werden Autos abgefüllt, mit Dingen zu essen und Getränkestiegen, mit Dingen für das Haus und Dingen für den Garten. Behäbig röhren sie die Auffahrt zur Landstraße hinauf. Wenn er den Führerschein schon hätte, sein Moped, Daniel würde das Vorderrad in die Höhe reißen und an ihnen allen vorbei jagen. Der Fahrlehrer hat wieder nicht angerufen.

Bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt es keinen Unterschied zwischen Haupt – und Realschülern. Da können sie zeigen, was in ihnen steckt. Wie damals, 2002, als die Flut kam. Sie waren als Helfer unterwegs. Robert in Mühlbach, Schlamm aus den Kellern schaufeln und Trümmer beseitigen, Daniel in Freital, in dem Supermarkt, in dem seine Mutter als Kassiererin arbeitet. Er hat die Kunden einzeln mit der Taschenlampe zu den Regalen geführt, bis es wieder Strom gab.

Einen Vater hat Daniel nicht. „Den brauche ich nicht mehr“, sagt er. Der Vater hat die Mutter geschlagen und ist abgehauen, zu Weihnachten war das, vor einigen Jahren. Daniel will ihn nicht mehr sehen.
Robert hat einen Vater, aber es ist nicht sein eigener. Seinen eigenen Vater, das hat die Mutter entschieden, soll Robert nicht treffen. „Meine Oma ist auch strikt dagegen“, sagt er. „Ich habe ihn mal im Internet gesucht, aber nicht gefunden.“

Die junge Lehrerin sagt, dass sie die Probleme manchmal mit nach Hause nimmt und dass ihr Mann das alles gar nicht mehr hören kann. „Dabei ist es noch gut hier in Kreischa. Es ist eine kleine Schule. Wir Lehrer verstehen uns. Wir helfen uns.“
Sie erzählt von dem Zirkus-Projekt, wieviel Spaß es den Kindern gemacht hat, in der Manege zu stehen und kleine Kunststücke vorzuführen. Sie stützt den Kopf auf, das lange Haar fällt über den Handrücken. Sie blickt aus dem Fenster, dahin, wo im letzten Sommer für einige Wochen das Zirkuszelt auf der Wiese stand.
Sie wisse, dass Eltern in der Schule waren wegen der Vorfälle mit dem Lehrer. Dass sie ihn zur Rede gestellt hätten.
Der Vater eines Mädchens aus ihrer Klasse sei mal in die Schule gekommen, sagt Robert. „Ein Kerl wie ein Baum. Ein Rocker. Überall tätowiert. Und der Lehrer hat den ausgelacht. Hat gesagt, dass seine Tochter lügt. Der sagt, die Mädchen bilden sich das nur ein. Er sagt, sie übertreiben.“
Und wenn wieder etwas ist, sollten sie sofort zu ihr kommen, habe die junge Lehrerin gesagt. Ihr Klassenlehrer auch. Sie waren bei beiden. Passiert ist nichts.
Der Schülerrat, die Elternvertreter, alle wissen es. Der ganze Ort weiß es. Alle, die früher hier zur Schule gingen. Er ist schon lange hier, dieser Lehrer. Vielleicht erinnert sich sogar die Drogistin.

Aber nichts ist jemals geschehen.

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