Großmutters Haar (für Omi Antje)

Am 9. September wäre meine Lieblingsomi 95 Jahre alt geworden. Sie starb in einer Winternacht vor zwei Jahren. Sie fehlt mir noch immer. Sie war eine weise Frau, eine schöne Frau. Sie liebte meine Texte im Magazin der Berliner Zeitung und war enttäuscht, wenn wieder ein Wochenende ohne einen meiner Artikel begann. Sie hat sich mit meinen Gedanken, Ideen und Zielen auseinander gesetzt wie keine zweite Freundin. Sie war meine beste Freundin.

Sie empfahl mir, große Ketten zu tragen, so wie sie immer große Ketten über ihren schlichten Wollpullovern getragen hatte. Doch ihr Rat meinte mehr: Er meinte, dass ich stärker, raumnehmender, auffallender agieren sollte. Ein Jahr nach ihrem Tod habe ich mir eine lange, große Kette aus gelben Holzperlen gekauft.

Eigentlich war sie gar nicht meine Großmutter, sondern die Großmutter von Stefan Schrader, mit dem ich eine Zeitlang verheiratet war. Und sie war die Urgroßmutter unserer gemeinsamen Tochter Selma. Die Verbindung zu ihr ist nie abgerissen. Sie wurde mit den Jahren immer stärker.

Für sie habe ich diese Geschichte geschrieben.

Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht (2009)

Großmutters Haar

In dieser Nacht schien der Mond so hell, dass die Schornsteine Schatten aufs Dach warfen. Ich wollte die Spätsommernacht über der Stadt genießen, von oben aus einer anderen Perspektive auf mein Leben blicken, nichts bewerten, sondern spüren, was war und ist, und vor allem: Vincent nicht anrufen. Die Dachpappe stachelte meine nackten Beine.

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Wenn man Angst hat, muss man gehen

Berliner Zeitung

Seitaro, Natsuki und Yasuyo (von links nach rechts) wollten in Japan auf einem Bauernhof zusammen leben. Das Erdbeben im März 2011 hat ihre Pläne umgeworfen. Jetzt leben sie alle drei in Berlin. Für Yasuyo war es die schwerste Entscheidung ihres Lebens.

Als am 11. März 2011 um  14:46 Uhr das Beben einsetzte, war die Familie Hioki gerade mit Vorbereitungen für das Wochenende beschäftigt. In der Präfektur Saitama nördlich von Tokio, wo ihr Bauernhof lag, sollte ein Kunstfestival stattfinden. Sie hatten eine Künstlerin eingeladen, auf dem Hof auszustellen. Diese fertigte Kleidung und Taschen für Kinder, auch Mobiles und Spielsachen. Das passte gut, denn die Hiokis hatten viele Freunde mit Kindern in der Gegend. Yasuyo Hioki, die Montessori-Pädogogin, würde in wenigen Tagen ihre eigene Schule eröffnen.

Ein Jahr ist seitdem vergangen. Yasuyo Hioki spaziert am Fränkelufer in Kreuzberg entlang. Seit dem letzten Sommer lebt sie in einem sehr schmalen Zimmer in der Nähe des Landwehrkanals zur Untermiete. Sie liebt den Kanal, die Brücken und Uferwege, auch jetzt, wenn zwischen Winter und Frühling die Bäume und Sträucher im wiederkehrenden Licht noch kahler wirken als in der dunklen Jahreszeit. Sie ist 31 Jahre alt, eine zierliche Japanerin mit einem hellen, offenen Gesicht, in das einige Ponyfransen fallen, die sie mit immer derselben ruhigen Geste aus der Stirn wischt.

„Ich räumte gerade eine Scheune auf“, erzählt Yasuyo Hioki. „Da bei uns oft die Erde bebt, dachte ich mir zuerst nichts dabei und arbeitete weiter. Aber das Beben wurde ungewöhnlich stark. Ich schaute hinauf zur Decke und sah, dass sich die Holzbalken gefährlich verschoben hatten. Ich rannte hinaus. Wir standen alle drei auf dem Feld, mein Mann, seine Mutter und ich, und beobachteten, wie die Dachziegel auf den Häusern tanzten. Es war schwierig, sich auf den Beinen zu halten. Das Beben hielt die ganze Nacht an. Wir legten uns hin, aber an Schlaf war nicht zu denken.“

Noch lange danach, sagt Yasuyo, habe sie unvermittelt das Gefühl gehabt, dass unter ihr die Erde bebte. Selbst hier in Berlin zucke sie oft zusammen, wenn unter ihr eine U-Bahn rumpelt. Das Beben hat kein einziges Gebäude auf dem Bauernhof zerstört, aber es hat Yasuyos Leben aus den Angeln gehoben. Fünf Tage nach der Katastrophe machte sie sich auf den Weg nach Deutschland.

„Ich kannte das Leben in Deutschland schon, weil ich meine Ausbildung zur Montessori-Lehrerin hier gemacht habe. Ich bin glücklich hier.“ Sie sagt es freundlich, mit einer Spur Melancholie, die eine kleine Distanz zu ihren Worten schafft. Die Reise, die sie nach dem Erdbeben vor einem Jahr antrat, war anders als die in ihrer Studienzeit. Zwar reiste sie wie immer mit wenig Gepäck, aber diesmal befand sich kein Plan in ihrer Tasche, weder die Adresse einer Universität noch die eines Freiwilligencamps, kein Ziel für einen konkret bemessenen Zeitraum.

Lediglich die Adressen ihrer europäischen Freunde hatte sie in den Koffer gesteckt. Sofort nach der Katastrophe hatten sie ihr E-Mails geschickt und angerufen. Sie solle das Land doch bitte so schnell wie möglich verlassen und eine Zeitlang bei ihnen wohnen. Da die japanischen Medien nur wenig berichteten und wenn, dann nur in beschwichtigendem Ton, hatte Yasuyo in den Tagen darauf BBC und CNN angeschaltet, um sich über das havarierte Kernkraftwerk Fukushima und die sich abzeichnende Kernschmelze zu informieren. Ihre Familie, die nicht so gut Englisch sprach wie sie,  glaubte ihr nicht, was sie gehört und im Internet gelesen hatte. Sie solle sich ein paar schöne Tage in Europa machen, sagte ihr Mann. Er könne jetzt nicht weg. Die Tomatenernte sei in vollem Gange. Er müsse täglich liefern. Es gebe schließlich Verträge.

Zwei Wochen wollte Yasuyo bei Freunden in München bleiben. Sie zweifelte an sich selbst und an der Gefahr. Bildete sie sich alles nur ein? Reagierte sie über, so wie es die japanischen Zeitungen auch der ausländischen Presse unterstellten? Mit dem Ticket für den Rückflug in der Tasche konnte Yasuyo noch ein paar Tage so tun, als sei sie nur in den Urlaub gefahren. Aber die Angst wollte nicht weichen.

Dann hörte sie vom Open Home in Berlin. Ein deutscher und ein japanischer Künstler hatten es gegründet, um Japanern, die ihr Land für einige Zeit oder für immer verlassen wollen, Hilfe anzubieten. Auch um die Rückfahrt hinauszuschieben, entschloss sie sich, bei  dem Projekt mitzuarbeiten. In den nächsten Wochen würde sie dolmetschen und E-Mails beantworten und sich so von ihren Zweifeln ablenken. Fast täglich habe sie ihren Mann angerufen, erzählt Yasuyo. Ich weiß nicht, was du hast, habe er gesagt. Hier ist nichts.

Sie habe ihn gedrängt, ihr nach Berlin zu folgen oder wenigstens zu seinen Verwandten in den Westen Japans zu gehen. Er sei der Letzte, der den Hof verlassen würde, habe er geantwortet, das Land, das seine Familie seit 400 Jahren bewirtschaftet. Er fühle sich verantwortlich für seine Mutter und für die Verwandten im Dorf. Die Eltern ihrer Schüler fragten an, wieso sie denn gerade jetzt, kurz vor der Eröffnung der Schule, gegangen sei. Sie sei doch nicht schwanger, dass sie sich sorgen müsse. „Niemand hat mir einen direkten Vorwurf gemacht, aber ich spürte den Vorwurf in ihren Fragen“, sagt Yasuyo. „Sie sahen schon eine Gefahr. Aber sie sahen nicht die Gefahr, die ich sah.“

An einem sonnigen Morgen Anfang Mai ging Yasuyo wieder einmal am Landwehrkanal spazieren. Sie rief ihren Mann an, bei dem bereits später Nachmittag war. An diesem Tag erklärte er ihr, dass er keinen Weg mehr sehe, mit ihr gemeinsam auf dem Hof zu leben. Sie solle doch bitte in Europa bleiben. Er beantrage die Scheidung. „Als ich aufgelegt hatte, dachte und fühlte ich gar nichts. Ich lief einfach immer weiter“, sagt Yasuyo.

Sie hatten einander auf der Universität kennengelernt und acht Jahre zusammen in Tokio gelebt, bevor sie vor zwei Jahren den Bauernhof übernommen hatten. Dann kam das Beben, und es scheint, als habe es einen Riss offenbart, der lange schon verborgen zwischen Yasuyo und ihrem Mann klaffte.

Fehlt er ihr? „Nein“, sagt Yasuyo. „Die Zeit der Auseinandersetzungen hat uns voneinander entfernt. Ich hätte nie gedacht, dass ihm der Hof so wichtig ist; dass er sich so sehr darüber definiert; dass er Angst hat, nichts mehr zu sein, wenn er den Hof verlässt.“ Sie vermisse ihr altes Leben kaum, sagt Yasuyo, aber dennoch sei es die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gewesen, ihre Familie und die geplante Schule aufzugeben. Aber sie könne in Berlin genauso leben wie in Japan, Landsleute treffen, japanisch kochen und  Kendo trainieren, dieses japanische Fechten mit einem Bambusschwert, das sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr betreibt.

Wie sie den besten Coffeeshop für das erste Treffen wählt, wie sie sich bewegt und kleidet, wie sie lacht, wirkt Yasuyo wie eine Frau, die schon immer in Europa lebt. Das liegt nicht nur an ihrem perfekten Englisch. Sie sei es eben gewohnt, ihren Schlafsack an den unterschiedlichsten Orten der Welt zu entrollen, sagt sie. Als Studentin sei sie durch die ganze Welt gereist und in den verschiedensten Kulturen klargekommen.

Spürt jemand, der wie sie von der japanischen Gesellschaft geprägt ist, keinen kulturellen Unterschied, keine Fremdheit? Vielleicht ist es typisch japanisch, dass sie darüber nicht sprechen will. Aber immer wieder betont sie, wie viel es ihr bedeutet, dass ihre besten Freunde, der Zen-Mönch Seitaro Higuchi und seine Frau Natsuki, nach Berlin gekommen sind. Sie hatte sie vor einigen Jahren in Tokio kennengelernt, beide hatten sich für die Montessori-Philosophie und Yasuyos Schule interessiert, sie erwarteten ein Baby und hatten vor, nach der Geburt des Kindes zu Yasuyo und ihrem Mann aufs Land zu ziehen.

In der Wohnung der Higuchis sitzen sie an einem niedrigen Tisch bei einer Tasse grünem Tee zusammen, Yasuyo im Schneidersitz neben Natsuki, die das Baby im Arm hält. Issey ist in Berlin zur Welt gekommen. Seitaro kniet in der dunklen Mönchstracht am Kopfende. Nicht jeder sei so privilegiert wie sie, einfach fortgehen zu können, sagt er. Er bewundere die Entscheidung von Yasuyos Mann, in Japan zu bleiben. „Aber wenn man Angst hat, sollte man gehen. Deshalb ist es auch gut, was Yasuyo getan hat.“

Ein einjähriges Visum für Freiberufler erlaubt Yasuyo, in Berlin als Japanischlehrerin zu arbeiten. Es wird kein Problem sein, das Visum im Sommer zu verlängern, denn sie kann mit ihrer Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen. Vor einigen Tagen hat sie eine japanische Montessori-Lehrerin kennengelernt. Mit ihr zusammen möchte sie etwas aufbauen, die Montessori-Pädagogik unter den Japanern in Berlin bekannter machen, Kurse für Kinder geben, eine Schule gründen. „Kouun Ryuusui“, sagt Yasuyo. „Lebe dein Leben wie eine Wolke oder wie das Wasser im Fluss. Du wirst an Steine stoßen, aber sie werden dich niemals aufhalten. Diese Worte von Seitaro haben mir geholfen, zu meiner Entscheidung zu stehen.“ Sie hatte sich gewünscht, dass sie und ihr Mann als Freunde auseinandergehen, ihre Entscheidungen gegenseitig respektieren. Während der Meditationen sei ihr die Wut auf ihren Mann bewusst geworden, der ihr gemeinsames Leben weggeworfen habe. „Manchmal, vor dem Schlafengehen, stelle ich mir vor, dass ich meine Wut in einen Karton packe, mit dem Karton die Treppe hinabgehe und die Straße bis vor zum Kanal laufe. Dort kippe ich ihn aus. So kann ich besser schlafen. Wenn ich am nächsten Tag über die Brücke gehe, schaue ich einige Sekunden hinunter und erinnere mich, dass das Wasser meine Wut nach und nach davonträgt.“

Kathrins Notiz-Blog 5. April 11

© Illustration Liane Heinze

In der Nacht, schon in unsere Kissen versenkt, sahen wir im Fernsehen, wie in Japan radioaktives Wasser ins Meer tropfte. Die japanische Regierung sagte, dass es noch lange tropfen wird.

Leon hat Fieber. „Wir brauchen die Revolution“, jammerte er und drehte sich auf die Seite. „Na komm.“ Er griff mir zwischen die Beine.

Wieso wurde nicht längst eine internationale Luftbrücke eingerichtet, um die Menschen aus den verstrahlten Gebieten herauszuholen? Immerhin gibt es in Berlin eine Gruppe junger Leute, die Hilfe organisieren. Sie suchen überall Zimmer für Japaner, die sie aus dem Land holen möchten. „Ja“, hat Leon gesagt. „Ja.“ Immer wieder: „Ja.“ Und als ich fragte, welches der beiden Zimmer, sah er mich an, als könnte er Shimano nicht mehr von Campagnolo unterscheiden.
Ich habe auch Jolanda gefragt. Sie hat gezögert. Es käme doch eh niemand. Man wisse doch, dass die Japaner gar nicht weg möchten, wegen ihrer betagten Eltern und Tanten und Onkel.

„Aber die ohne Eltern und Tanten und Onkel?“ fragte ich. „Wenn morgen jemand käme? Wärst du bereit?“

„Logisch“, sagte sie.

Letzten Freitag habe ich Kolja im Büro besucht. Es war das erste Mal seit der Zeit in dem Haus, das wir uns wiedergesehen haben.

„Wir könnten das Haus zur Verfügung stellen“ hat er gesagt. „Meine Mutter kann in der Zeit bei uns wohnen.“

„Du musst vorher mit deiner Mutter sprechen.“

„Ich werde sie fragen“, hat er gesagt. „Aber du kannst das Haus schon anmelden. Ich weiß, dass sie bereit sein wird.“

Er hat mir ein Buch geschenkt, „Lob des Schattens“ von Tanizaki Jun’ichiro. Es geht darin um die Architektur und Ästhetik traditioneller, japanischer Häuser. „Weil du meine Schattenfrau bist“, hat er gesagt. Weil ich in dem Haus im Dämmerlicht gearbeitet hatte.

Kolja hat mich beobachtet, während ich in dem Buch blätterte. Er hat mich gelesen und dabei geraucht und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Ich hatte fast schon vergessen, wie beruhigend die Wärme ist, die von ihm ausgeht.

„Schreib doch auch etwas über den Schatten“, hat er vorgeschlagen.

„Eigentlich liebe ich helle Räume. Es war nur, weil das Licht draußen im Garten so schön war.“

„Lies das Buch“, hat er gesagt. „Beobachte die Räume. Vielleicht findest du einen, dessen Schattigkeit dir angenehm ist.“

„Wie ist es in deinem Haus im Sommer?“

„Es ist nicht mein Haus“, hat er gesagt. „Es ist unser Haus.“

Ich bin erschrocken, weil ich nicht wusste, wen er meint. Unser – sind das alle, mich eingeschlossen, oder nur seine Familie? Oder meint er uns beide, ihn und mich? Ich habe mich nicht zu fragen getraut, weil ich die Antwort fürchtete.

Das Buch liegt neben den Tatamis. Leon interessiert es nicht. Er wird nicht fragen, warum ich es lese und woher es kommt. Ich kann ein Geschenk von Kolja einfach so neben mein Bett legen. Leons und Koljas Welten berühren sich nicht.

Ich schaltete den Fernseher aus und drückte mich dicht an Leon. Ich wollte keinen Spalt zwischen unseren Körpern zulassen, damit der Tod nicht zwischen uns tröpfelte. Aber das ging nicht, denn Leon hatte mir den Rücken zugewandt. Sein Rücken ragte vor mir auf wie eine Wand. Es funktioniert also nur umgekehrt, wenn ich mit dem Rücken zu ihm liege. Nur in dieser Position fühlt es sich gut an. Ich rüttelte an seiner Schulter. Ich bettelte: „Dreh dich um, bitte!“ Aber er hörte mich nicht. Ich legte mich auf den Rücken und blickte zur Decke und fühlte, wie der Tod zwischen uns tröpfelte.

Advent in Paris

Berliner Zeitung

Wir müssen nur rasch eines unserer Kinder vom Flughafen Orly in Paris abholen. Dauert nicht lange. Morgen sind wir wieder da.

In diesem Jahr werden wir zu dritt Weihnachten feiern, so richtig mit Geschenken, Baum, selbst gebackenen Plätzchen und Kinderoper.

Quentin lebt in Südamerika, nicht weit vom Äquator. Er hat uns geschrieben, dass er sich auf den Schnee in Europa freut.

Am Gare du Nord krachen die Flügeltüren der Metro hinter uns zu. Wir sind drin. Im Strom der Menschen strudeln wir die Rolltreppe hinab. Unten empfangen uns uniformierte Kontrolleure. Sie legen den Finger an die Mütze und fordern uns auf, die Billets zu zeigen. Schnell muss das gehen, sonst bildet sich ein Knoten.

Weiter durch zugige Gänge. Ein Schwarzer streitet mit einem arabischen Zeitungshändler. Rolltreppen rauf. Rolltreppen runter.

In der Metro schimpft ein junger Mann auf die Kontrolleure. Es sei schließlich nicht seine Schuld, dass die Drucker oben nicht funktionierten. „Sehen Sie sich das an. Nichts.“ Er weist auf den Rand des Schnipsels, wo normalerweise der blaue Zifferncode des Entwerters landet. „Das machen die mit Absicht“, ruft ein älterer Herr. „Haben die Ihnen etwa Geld abgeknöpft?“ Der junge Mann hält eine Rechnung über die Köpfe in Richtung des älteren. „Zahlen Sie auf keinen Fall. Man darf sich das nicht bieten lassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“ Die beiden steigen an der nächsten Station aus, schlendern gestikulierend über den Bahnsteig, ungeachtet der Menschen, die ihnen entgegen zum Zug hasten.

Unser Hotel liegt am Place de la Nation. Wir steigen in den ersten Stock hinauf, schieben den Wäscheberg vor der Tür beiseite und treten in unser Zimmer. Zum Glück haben wir nicht viel Gepäck. Quentin kommt morgen früh. Zwei Koffer würden vermutlich nicht in das Zimmer passen. Zumindest, wenn man das Bad noch erreichen will.

Kurz nachdem wir uns aufs Bett geworfen haben, erreicht Antoine ein Anruf aus Südamerika. Quentin kommt einen Tag später. Alle Flüge sind nach hinten verschoben, weil es gestern in Paris ein Unwetter gegeben hat.

Im Foyer des Hotels beraten wir, was zu tun ist. Das künstliche Feuer im Kamin flackert wie eine sterbende Glühlampe.

Wir telefonieren mit unseren Chefs. Zum Glück ist niemand verärgert. Für Unwetter haben alle Verständnis. Kann jedem passieren. Der Student an der Rezeption verlängert unser Zimmer um einen Tag. Jetzt müssen wir nur noch den Mietwagen umbuchen. In der Autovermietung auf dem Flughafen Orly meldet sich niemand. Wir versuchen es wieder und wieder. Wir rufen die Station in Berlin an. „Kein Problem“, sagt der Mann in Berlin. „Natürlich können Sie umbuchen. Rufen Sie die Kollegen in Orly morgen früh wieder an.“

Ein Tag in Paris. Wir schlendern die Straße hinab. Der Strom der Passanten verdichtet sich, je mehr wir uns den großen Kaufhäusern und glamourösen Läden der City nähern. Ehe wir uns versehen, sind wir in den Strom der Käufer eingeklemmt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Wir werden in das glitzernde Foyer eines Kaufhauses gesogen und durch parfümgesättigte Luft in Richtung Rolltreppe gedrängt. Auf den Förderbändern stehen die Menschen so dicht, dass keine Stecknadel mehr zu Boden fallen kann. Aber unter dem halbrunden Geländer in der zweiten Etage, auf dem Übergang zwischen zwei Rolltreppen, liegt ein blauer Wollhandschuh.

Der Mann, der ihn verloren hat, sucht vermutlich draußen auf der Straße in seinen Taschen, bleibt stehen, wird angerempelt, beschimpft, weiter geschoben.

Es ist zu eng, um sich nach dem Handschuh zu bücken. Was sollte man auch damit tun? Sich im Gewühl zu einem der überlasteten Verkäufer schubsen? Vielleicht hat der Besitzer des Handschuhs selbst bemerkt, als er ihn fallen ließ, konnte ihn aber nicht aufheben, weil er weiter geschoben wurde, ins nächste Stockwerk, zu den Stapeln glitzernder Weihnachtsdekorationen, den Bündeln bunter Bestecke, Säcken voller Ausstechformen, Stapeln von Pfannen, Tiegeln und Töpfen.

Wahrscheinlich hat er sich gewehrt. Sehen Sie nicht meinen Handschuh? Was sind Sie für ein Egoist! So machen Sie doch Platz! Was heißt hier: Rolltreppe? Ziehen Sie die Notbremse! Sie wissen nicht, wo die ist? Dann rufen Sie die Feuerwehr. Machen Sie schon!

Digital-Kameras, Telefone, Flachbildschirme, Verstärker in Edel-Design, Retro-Radios, das Iphone…Die Luft wird knapp. Wir taumeln entkräftet nach draußen, an ineinander verkeilten Reisebussen vorbei durch Hupkonzerte, im machtvollen Pulk der Fußgänger über rote Ampeln. Die Sirene eines Krankenwagens heult vergeblich gegen den Stillstand im Kreisverkehr.

Für kurze Zeit entkommen wir der Masse in tote Nebenstraßen, bis wir auf einem großen Boulevard wieder in die Orgie eintauchen.

Hier flanieren Bourgois durch luxuriöse Einrichtungsläden. Geduldig warten sie an der Kasse. Sie kaufen Plastikleuchter in ausladenden Formen und schrillen Farben, Tischdekorationen aus Straß, goldene Teller, silberne Schüsseln, Flitter-Flatter, stilisierte Weihnachtsbäume aus Sperrholz und Stahlrohr und kartonweise blau funkelnde Glaskugeln. Hinter der Kasse lassen sie sich goldene Schleifen um den Edelkitsch binden. Das dauert Stunden. Stunden, in denen sie sich mit dem Personal am Packtisch über die Trends austauschen und darüber, wie sie im letzten Jahr mit wem und wo und dass es im Grunde jedes Jahr dasselbe, aber diesmal doch anders…

Die Designläden sind randvoll gefüllt mit Zen. Zen, das sind japanische Büroartikeln und Seifenspender. Zen sind Platzdeckchen und minimalistischer Baumschmuck. Ein Werbespot auf einer Großleinwand verspricht Zen sogar in einem Joghurt.

„Du warst noch nie in den Galeries Lafayette?“, fragt Antoine. „Nein“, sage ich. „Es hat mich nicht interessiert.“

„Du musst dir das Haus unbedingt ansehen.“ Antoine zieht mich weiter, vorbei an pelzgemäntelten Damen vor luxuriösen Auslagen. Das Publikum fasert auf die Straße aus, weil die Bürgersteige zu schmal sind. Polizisten auf Fahrrädern winken die Autos an dem Konsum-Tross vorbei.

Über uns wölbt sich die goldene Kuppel des Kaufhauses. „Möchtest du etwas? Ein neues Parfüm? Ich schenke es dir zu Weihnachten“, sagt Antoine. Ich schüttele den Kopf. Es ist zu laut zum Reden. Es ist zu viel zum Wünschen. Zum Glück gibt es mehrere Ausgänge.

Wir pressen uns in eine Metro und fahren zurück zum Hotel.

Am nächsten Morgen erreicht Antoine die Autovermietung auf dem Flughafen. Er sitzt auf dem Barhocker vor dem Internet-Computer im Foyer des Hotels. Ich habe mich neben die Kaminfunzel zurückgezogen und blättere in einem Einrichtungsmagazin. Es zieht mich zu den Zen-Tempeln. Vielleicht kaufe ich den Weihnachtsbaum aus Stahlrohr.

Eine kleine, blonde Frau tritt aus dem Fahrstuhl. Sie ist mit nichts außer einem Spitzenhemdchen und einem Handtuch um die Hüften bekleidet. „So etwas ist mir noch nie passiert“, schimpft sie. Der Student an der Rezeption blickt über den Tresen. „Mein Zimmer ist nicht gemacht. Ich habe es eben beim Duschen bemerkt.“ Sie bleibt mitten im Foyer, vor der Eingangstür, stehen. Sie ist barfuß. Ihre Haare sind mit Klemmen hoch gesteckt.

Der Mann an der Rezeption entschuldigt sich und fragt nach ihrer Zimmernummer.

Antoine scheint Schwierigkeiten mit der Autovermietung zu haben. „Was heißt, es geht nicht?“, ruft er in den Hörer. „Wieso geht es denn nicht? Haben Sie nur das eine Auto? Ich dachte, Sie wären eine der größten Autovermietungen Europas.“

„Ich möchte sofort den Hotelbesitzer sprechen“, zetert die Blondine.

Die Hoteldirektorin, eine drahtige Frau in den Fünfzigern, schlendert ins Foyer. „Es sind Haare in der Dusche“, beschwert sich das Mädchen. „Das ist widerlich.“

„Das Zimmer ist gemacht“, gibt der Junge an der Rezeption gelassen zurück. „Ich habe mit dem Service gesprochen.“

„Sie sollen sich die Dusche noch einmal anschauen“, weist die Dame des Hauses ihn an.

„Das ist alles?“, faucht das Mädchen. „Keine Entschuldigung?“

„Ich habe mich entschuldigt, Madame“, sagt der Student.

Die Hoteldirektorin schüttelt nervös ein Schlüsselbund. Sie grinst in meine Richtung.

Hinter mir kämpft Antoine immer noch mit der Autovermietung. „Sie sind zuerst laut geworden, Monsieur. Ich habe nur eine Frage gestellt. Eine ganz normale Frage. Meine Frage: Wieso können Sie den Wagen nicht einfach bis morgen stehenlassen? Haben Sie keine Parkplätze? Ihre Kollegen in Berlin…“

„Wir schauen uns die Dusche jetzt noch einmal an und bringen das in Ordnung.“

„Jedenfalls ist es das letzte Mal, dass ich hier war.“ Das Mädchen zieht ein Telefon unter ihrem Handtuch hervor.

„Sie sind frei.“ Die Direktorin zuckt die Schultern. Das Mädchen tippt mit spitzen Fingernägeln eine Nummer. Sie beschimpft ihr Opfer, das absolut mieseste Hotel in ganz Paris für sie gebucht zu haben. Sie droht Maßnahmen an.

Die Hotel-Dame macht auf dem Absatz einen Schwenk und verdreht die Augen.

„Ich möchte ihren Vorgesetzten sprechen“, verlangt Antoine. Ich überlege, wo in unserer Wohnung der Zen-Baum am besten zur Wirkung käme.

„Wieso spät?“, ruft Antoine. „Es hat einen Sturm gegeben. Alle Flüge sind verschoben. Das müssen Sie doch gemerkt haben.“

Nach weiteren zwanzig Minuten Diskussion reserviert man uns einen Wagen am Gare du Lyon.

Die Blonde krakeelt noch im Aufzug in ihr Telefon.

Am nächsten Tag stehen wir auf, als die erste Metro unter unseren Betten entlang rumpelt. Im Stau auf der Autobahn rücken wir langsam an die Peripherie der Stadt. Motorradfahrer wedeln im Slalom zwischen den sechsspurig schleichenden Autos. 

Vor der Abflughalle Orly West tummeln sich karibisch bunte Menschen. Quentin kommt. Schmal und sehr weiß. „Wo ist der Schnee?“, fragt er.

Auch in Berlin liegt kein Schnee. Dafür ist es ruhig wie in einem Kurort. Die Eisbahn neben der Oper haben wir fast für uns allein. Wenige Fußgänger schlendern Unter den Linden entlang. Sie meditieren an roten Ampeln vor freien Straßen. Die Karussells auf dem Weihnachtsmarkt drehen glitzernde Runden. Der Fernsehturm blinkt in den Abend. Berlin ist Zen.

  

Berliner Notiz-Blog 21. November 2007

Die Oderberger Straße liegt im Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg. Im Sommer gleicht die Straße einem Garten. Die Biotope der Laden –, Cafébetreiber und Anwohner wuchern in Kübeln, Kisten und mit kleinen Steinmauern umfriedeten Beeten auf den breiten Bürgersteigen. Überall sind Lese- und Party- Plätze in das Grün installiert. Die Bewohner der Oderberger Straße haben sich ein Umfeld geschaffen, das ihren Lebensstil repräsentiert und andere daran teilhaben lässt.

Jetzt sollen die holprigen, noch aus DDR-Tagen stammenden Bürgersteige auf Westniveau geklopft werden. In zwei Jahren werden Bagger anrücken.

Politiker ordneten an, das Grünzeug zu beseitigen.

Doch die Bürgerinitiative BIOS (Abk. für Bürgerinitiative Oderberger Straße) verteidigte die selbst kreierten Gärten und Plätze gegenüber den Plänen des Bezirksamts. Mit Erfolg.

Damit sie auch in Zukunft ihre Straße mit gestalten können, empfiehlt der Architekt Professor Rainer W. Ernst, Leiter des Beratungsausschusses Kunst des Berliner Senats, die Straße unter das Copyright der Anwohner und Gewerbetreibenden zu stellen.

Ein Gespräch über einen Präzedenzfall, der an alte Traditionen knüpft, über bürgerschaftliches Engagement hier und anderswo, einst und heute.

Professor Ernst, wie entstand die Idee des Copyright für die Oderberger Straße?

R.W.Ernst: Wolfgang Krause, Künstler und Dozent an der Kunsthochschule Weissensee, in der ich den Masterstudiengang „Raumstrategien“ betreue, hat mich zu einem Treffen der Bürgerinitiative BIOS mitgenommen. Krause ist ja seit langem im Kiez um die Oderberger unterwegs, hat dort viele Kunstprojekte organisiert. Er lebt seit vielen Jahren in der Oderberger Straße. Der Fall dieser Straße hat mich sofort elektrisiert.

Das hat es ja noch nie gegeben, dass der von den Anwohnern geschaffene Bestand in die weitere Planung einfließen wird. Jetzt geht es darum, das Vorhandene zu ergänzen, auch zu verbessern.

Die Idee des Copyright entwickelte sich dann im Gespräch. Damit die Rolle der Bürger zukünftig nicht nur darin besteht, die Vorschläge anderer zu kommentieren oder Wünsche in einem Kummerkasten abzuliefern, ist der Gedanke des Copyright ein wichtiges Argument. Er bedeutet, dass die Bürgerinitiative BIOS das Recht bekommt, zu entscheiden, was in Zukunft mit der Straße passiert.

Die Idee des Copyright ist einfach die Anwendung eines Prinzips, in dem sich die Anerkennung für etwas, das gemacht wurde, ausdrückt, so dass sich bestimmte Regeln der Verfügbarkeit daraus ableiten.

Wo kämen wir denn stadtplanerisch hin, wenn das jeder machen würde?

R.W.Ernst: Dieser Fall könnte andere Bürger ermuntern, ähnliches zu schaffen. Warum nicht? Man kann natürlich kein Urheberrecht beanspruchen, wenn man irgendwo einen Baum im Kübel hinstellt. Das Geschaffene müsste einen Wert darstellen, ähnlich dem in der Oderberger Straße.

Das viel Aufregendere ist die Idee, ein Kataster der Patenschaften zu erstellen. Wir streben jetzt Verträge zwischen den Bürgern und dem Senat von Berlin an, in denen Räume und Paten vereinbart werden. Alles, was in diesen Räumen geschieht, ist dann urheberrechtliches Eigentum derer, die es geschaffen haben.

Man muss ja nicht gleich das ganze Stadtgebiet mit einem Kataster der Patenschaften überziehen, das dann gar nicht ausgefüllt wird, aber es wäre erstmalig eine institutionelle Gegebenheit, die das Engagement der Bürger erleichtert.

An der UdK haben Sie in den Achtzigerjahren den Studienschwerpunkt „Bau und Stadtentwicklung in außereuropäischen Kulturen“ initiiert und zu diesem Thema einige Aufsätze publiziert. Hat es andernorts schon diesen Fall gegeben, dass Bürger ihre eigene Straße gestalteten und ihre Arbeit öffentlich anerkannt wurde?

R.W.Ernst: Das hat es in einigen Armenvierteln in Lateinamerika und Asien gegeben. Man hat diese Viertel verbessert und sie von vornherein mit den Leuten gemeinsam gestaltet, in ganz unterschiedlichen Prozeduren, unter verschiedenartigen Beteiligungen aber auch soweit, dass sie weitgehend von den Bewohnern selbst gestaltet wurden, natürlich wurden sie dabei beraten. Selbstverständlich haben die Bewohner das dann als ihr eigenes Produkt angesehen.

In diesem Fall ging die Initiative doch sicher von den Stadtplanern aus.

R.W.Ernst: Das ist richtig. Dahinter standen soziale Überlegungen. In der Vergangenheit hatte man oft nicht verstanden, wie die Menschen sich organisieren, Gepflogenheiten, die man nicht kannte, wurden negiert und verletzt. Das schuf Aggressionen. Die Mitgestaltung sollte es den Anwohnern erleichtern, Verantwortung zu übernehmen.

Mir fällt ein anderes Beispiel aus Europa ein, dass dem in der Oderberger Straße ähnelt. Nach dem Tod Francos wurden die öffentlichen Plätze und Grünanlagen Barcelonas unter Mitwirkung aller Bürger gestaltet. Diese Gestaltung erlangte große internationale Beachtung.

Wie wurde diese Bürgerbeteiligung in Barcelona organisiert?

R.W.Ernst: Sämtliche Bürgerschaftsvereine der Stadt wurden aufgefordert, die Gestaltungsideen der Bürger zu sammeln.

Wurden die Bürgerschaftsvereine mit diesem Ziel geschaffen?

R.W.Ernst: Nein, es hatte sie schon vorher gegeben. Während der Franco-Diktatur waren sie auch eine Art Kontrollelement, obwohl die Repräsentanten von den Anwohnern gewählt wurden.

In der Ausnahmesituation nach dem Tod Francos nutzte man diese Struktur.

In einer Turnhalle wurden alle Entwürfe und Wünsche der Bürger zusammen getragen. Sie wurden an den Wänden und auf riesigen Tischen präsentiert. Es waren die verrücktesten Ideen darunter.

Ist das nicht ein Alptraum für jeden Stadtplaner, eine Turnhalle voll einander widersprechender Entwürfe als Ausgangspunkt der Arbeit vorzufinden ?

R.W.Ernst: Ganz und gar nicht. Alles selbst entwerfen ist gut und schön, doch es ist auch eine Art Anmaßung, eine Diktatur gegenüber Dritten. Um eine Kenntnis der realen Lebensabläufe zu bekommen, muss man mit den Leuten sprechen. Bürger, Anwohner finden nicht in jedem Fall von sich aus die richtigen Lösungsansätze. Das ist eben das Spannende an diesem kommunikativen Prozess, man ist leitend tätig, doch anders, eher als eine Art Moderator, man gibt einen Rat, unterbreitet Vorschläge. Natürlich ist Vertrauen eine Voraussetzung, um so arbeiten zu können. Wir haben auch in Berlin die gestalterische Grundlage für eine Plattensiedlung in einem solchen Dialog mit den zukünftigen Bewohnern erarbeitet.

Letztendlich hat Stadtplanung mit Bürgerbeteiligung in Europa eine Tradition. Die ersten freien Bürgerstädte im Mittelalter wurden ja auch von der Gemeinschaft der Bewohner gestaltet.

Dann geht man in der Oderberger Straße jetzt „back to the roots“ der ersten europäischen Städte?

R.W.Ernst: In gewissem Sinn schon. Natürlich kann man die damaligen Gesellschaftsverhältnisse nicht mit denen heute vergleichen. Damals waren es die Hausbesitzer, Unternehmer und Produzenten, die „Stadt“ schufen. Und auch die Stadt im Sinne der „freien Stadt“ gibt es ja nicht mehr. Mit dem Entstehen der Territorialstaaten zu Beginn des Barock verloren die Freien Städte ihre Rechte.

Städte sind heute bloße Verwaltungsbezirke. Man muss auch berücksichtigen, dass es in Deutschland lange Zeit überhaupt keine Bürgerinitiativen gegeben hat. Das begann erst in den Siebzigerjahren wieder. Sie enstanden zunächst aus Protest gegen Abriss und Autobahnplanungen, in den achtziger Jahren belebt durch die alternative Bewegung.

Wie sehen Sie die Zukunft bürgerschaftlichen Engagements?

R.W.Ernst: Interessanterweise haben sich die staatlichen Möglichkeiten für bürgerschaftliches Engagement immer noch nicht verändert.

Das wird am Fall der Oderberger Straße deutlich. Die Bürgerinitiative muss sich jetzt mit Ämtern und Politikern auseinandersetzen, ein Dialog-Prozess, der gut strukturiert werden muss. Glücklicherweise haben wir noch etwas Zeit, denn die Bauarbeiten sollen ja erst 2009 beginnen.

Jetzt geht es darum, rechtliche Instrumente wie das Kataster der Patenschaften oder Urheberrechte zu entwickeln, staatliche Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement in der modernen Großstadt.

Ich halte das für dringend notwendig, denn vom bürgerschaftlichen Engagement wird sehr viel Lebensqualität in der Zukunft abhängen. Allmählich bildet sich in Deutschland ein Bewusstsein dafür.