Kiesel Sand Modder

Performance für einen Pfuhl

Makiko Nishikaze – Klangskulptur | malatsion – Skulptur aus organischem Material und Aktion

4. September 2021, 15 Uhr

Ort: Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in 12169 Steglitz, Grabertstraße 4, 6 Minuten Fußweg ab S-Bahn-Station Südende. Der Eintritt ist frei. Bitte anmelden unter eklat.berlin@posteo.de

Teil II – Auf dem Weg zu einem Ort

Usedom-Radweg, Vorpommern

Im August 2020 fuhr ich mit meinem Freund Philippe auf dem Usedom-Radweg. Es waren heiße, sonnige Tage. Auf dem ganzen Radweg begegnete uns kaum ein Mensch. Hinter Prenzlau fuhren wir durch mehrere verlassen wirkende Dörfer. Es gab weder Cafés noch Restaurants, auch keine Läden. Die Häuser sahen ärmlich aus. Die Straßen waren notdürftig geflickt. Nirgendwo eine Bewohner*in in ihrem Garten oder auf der Dorfstraße. Ödnis. Das Gefühl, an der Bruchkante einer Gesellschaft angekommen zu sein. Und so müssen sich die letzten verbliebenen Bewohner*innen dieser Dörfer fühlen.

Hier und da war ein hübsches Bauernhaus zu erblicken, mit Keramiken in den geputzten Fenstern, renoviert von Leuten aus der Stadt, die ihr Leben aufs Land verlegen wollen.

In einem der Dörfer fuhren wir an diesem Schild vorbei: UNSER DORFTEICH SO LEER WIE EURE VERSPRECHEN. Dieses Schild, direkt am Usedom-Radweg aufgestellt, gegenüber des vertrocknenden Tümpels, rührte mich. Ich fühlte mich direkt angesprochen. Natürlich war ich nicht gemeint, denn ich hatte den Bewohnern ja keine LEEREN VERSPRECHEN gemacht, aber ich fühlte mich aufgerufen, etwas zu tun. Wir können doch nicht zusehen, wie ein Dorfteich vertrocknet! Am liebsten hätte ich eine längere Station eingelegt. Es gab unweit so etwas wie eine Pension, allerdings ausgebucht. Obwohl ich vielen dieser kleinen Pensionen am Usedom-Radweg, die alle behaupteten, ausgebucht zu sein, nicht glaube. Wer, bitte schön, wohnt dort? Es ist kein Mensch auf der Straße, kaum ein Radfahrer. Die Ödnis der Strecke hat sich herumgesprochen. Der gewöhnliche deutsche Ökotourist bevorzugt Idyllen. Vermutlich haben die Betreiber der Pensionen einfach keine Lust mehr. Oder keine Zeit. Wahrscheinlich fahren sie täglich hunderte Kilometer zu ihrem Arbeitsort und wieder zurück. 

Ich dachte wieder an die Plastiken von malatsion. Ich dachte, dass wir das Begräbnis-Ritual hier an diesem Ort durchführen sollten, für dieses sterbende kleine Biotop an der Bruchkante der Gesellschaft. Ich dachte an ein radikal ökologisches Kunstprojekt. Wer kommt, um es zu sehen, soll sich auf das Fahrrad setzen oder in den Zug. Die nächste Bahnstation ist nicht weit. Wir könnten gemeinsam mit den Dorfbewohner*innen einen Shuttle-Service einrichten. Auch die Presse fordern wir auf, das Rad zu nehmen. Okay, wir können niemanden zwingen. Wir können nur appellieren. Es ist wie mit der Impfung. Ich bin strikt gegen Zwänge. Ich bin für Bildung und Aufklärung. Gestern hat die Bundesregierung beschlossen, dass es für Ungeimpfte keine kostenlosen Tests mehr geben soll. Ich finde das schlimm. Das ist einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft unwürdig. Wir müssen Menschen tragen, die sich vor dieser Impfung fürchten. Es gibt tausend Gründe, sich vor dieser Impfung zu fürchten. Das müssen wir respektieren. By the way: Ich bin geimpft und froh darüber. Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, in dem kostenlose Tests und kostenlose Impfungen für alle bereitstehen. Und letztendlich wurde diese Mammutaufgabe fantastisch bewältigt. Aber ich hasse die Verlogenheit, zu sagen, bei uns sei alles frei und freiwillig, es gäbe hier keine Zwänge, jeder würde respektiert, so wie er ist, dann aber Regeln zu schaffen, die Menschen ausschließen, nur weil sie ein bisschen anders ticken. Anders ticken muss erlaubt sein! 

Ich schweife ab. Aber alles hängt nun einmal mit allem zusammen. In diesem Jahr 2020 habe ich viele sehr gute Bücher entdeckt, die mich prägten, weil die Autor*innen den Zustand der Natur, den Zustand der Gesellschaft und den Zustand der Regierungen zusammen denken. „Das terrestrische Manifest“ von Bruno Latour beispielsweise. Oder: „Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen“, von Raj Patel und Jason W. Moore. 

Sowohl Latour als auch Patel und Moore schreiben, dass es bei jeder politischen Entscheidung, bei jedem Krieg und jedem Börsenkurs und auch in der Entwicklung von Regionen bzw. deren Nichtentwicklung um den Boden geht, auf dem wir stehen und gehen. 

Das klingt ein bisschen nach „Blut und Boden“. Gruselig. Und genau das ist das Problem. Latour schreibt: „Um zu beruhigen, müsste man zu zwei komplementären, durch die Herausforderung der Modernisierung, aber widersprüchlich gewordenen Regungen fähig sein: sich einerseits an einen bestimmten Boden zu binden und andererseits weltbezogen zu werden. Bislang galt dieses Unterfangen in der Tat als undurchführbar. Zwischen beiden, so war zu hören, muss gewählt werden. Es kann sein, dass die gegenwärtige Geschichte diesem scheinbaren Widerspruch ein Ende setzt.“ 

Und weiter schreibt Latour: „Es gibt im Gegenteil nichts Innovativeres, nichts, das stärker präsent, subtiler, technischer, künstlicher (im besten Wortsinn) und weniger rustikal und bäuerlich-ländlich wäre, nichts, das schöpferischer wäre und der gegenwärtigen Zeit mehr entsprechen würde, als darüber zu verhandeln, wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte.“  

Zuvor führt Latour aus, dass die sogenannte Globalisierung von der Vielheit weg zu einer vereinheitlichten Sicht auf die Welt führte. Globalisierung wurde für einige wenige Menschen kreiert, die davon profitierten, während die Masse verarmte und alles verlor, sogar ihre Zuhäuser und ihre Identität. 

Meine Idee war, alle Dorfbewohner*innen Teil der künstlerischen Performance werden zu lassen, indem wir sie in den Prozess einbeziehen. Indem wir sie bitten, Quartiere für die Gäste zu stellen und mit ihren Wagen einen Shuttle-Service zur nächsten Bahnstation zu organisieren, indem wir mit ihnen sprechen, indem wir uns ihre Geschichten erzählen lassen und diese aufschreiben. 

Ich weiß, dass es schwer zu realisieren wäre. Denn für die Dörfler*innen bleiben wir intellektuelle Städter*innen, die keine Ahnung davon haben, was es heißt, an der Bruchkante der Gesellschaft zu leben. Womit sie Recht haben. Wir kommen vorbei, bringen kurz Aufruhr und Presse und verschwinden wieder. Und für den Dorfteich ändert sich nichts. Vielleicht ist es ein Vorurteil. Vielleicht sind wir doch eines Tages dort an dem vertrocknenden Dorfteich und schreiben eine neue Geschichte…

Am Ende des Sommers wieder zu Hause, bekam ich Post von malatsion. Sie hatte ihre Skulpturen inzwischen produziert. In einem Garten im Münsterland hatte sie bereits eine künstlerische Performance gemacht, mit dem gARTstipendium bei ARTLOCH Prod., Borken/Westf. Sie hatte ihre nach Pflanzensamen und Pollenkörnern geformten Plastiken in einem Begräbnisritual dem Boden übergeben. Die Lokalpresse hatte darüber berichtet. Das Foto in der Zeitung zeigt die Künstlerin in einem weißen Arbeits-Overall beim Ausheben der Löcher. Daneben stehen ihre dunklen Plastiken aufgereiht. 

Wir beschlossen, eine ähnliche Performance für Berlin zu entwickeln und hier eine Geldgeber*in zu suchen. Außerdem wollten wir eine weitere Künstler*in gewinnen, mit uns zu arbeiten, um malatsions Idee einer Performance zu erweitern. 

Ich hatte die Klangkünstlerin Makiko Nishikaze bei der Vernissage von Christine Düwel gesehen. In makokon arbeitet sich Makiko minutenlang – wie ein Insekt aus seinem Kokon – aus einem Papierberg vorsichtig hinaus in den Lärm der Stadt. 

Makiko sagte zu, mit uns zu arbeiten. 

Nachdem das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf uns die Finanzierung des Projekts KIESEL SAND MODDER gewährt hatte, erhielten wir vom Tiefbauamt eine Absage für unsere Idee, eine Performance für die Bäke im Bäke-Park zu machen. Begründet wurde die Absage damit, dass die öffentlichen Parkanlagen im Coronajahr 2020 sehr frequentiert waren und nun jede größere Menschenansammlung in den Parks vermieden werden soll. 

Aber die Leute im Grünflächenamt halfen uns, einen neuen Ort zu finden. Dieser Ort ist eine Wiese am Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in Steglitz. Der Pfuhl befindet sich in einem bedauernswerten Zustand. Sein Wasserspiegel ist soweit gesunken, dass er vom Ufer nicht mehr zu erreichen ist. Die Reste eines Stegs modern im dunklen, stehenden Gewässer, das mehr einer Jauchegrube ähnelt als einem Teich. Der Teich ist völlig unbeachtet im hinteren Teil des Gartens. Verschwindet er, weil ihn niemand mehr anschaut? 

Wissen die Musikschüler, die in der schönen, alten, weißen Villa ein- und ausgehen, dass hinter der Schule ein Teich ist? Ein Teich, auf dem vor nicht allzu langer Zeit Boot gefahren, in dem gebadet wurde. 

„[Zwischen Karutschenpfuhl] und Hambuttenpfuhl bestand ein Teichverbund mit Wasserläufen und Brücken. Das Gelände diente dem überregionalen Ausflugsbetrieb mit Badeanstalt, Gartenlokalen und Bootsbetrieb. Die Pfühle sollen 7 Quellen gehabt haben. Insgesamt macht der Karutschenpfuhl [heute] den Eindruck eines gestörten Ökosystems.“ (Quelle: Bestandsaufnahme Stehende Gewässer II. Ordnung im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, vorgelegt im Dezember 2004) 

malatsion und Makiko bei der Besichtigung des Gartens, Juni 2020

https://malatsion.de

http://www.makiko-nishikaze.de

Kiesel Sand Modder

Performance für einen Pfuhl

Makiko Nishikaze – Klangskulptur | malatsion – Skulptur aus organischem Material und Aktion

4. September 2021, 15 Uhr

Ort: Karutschenpfuhl im Garten der Leo-Borchard-Musikschule in 12169 Steglitz, Grabertstraße 4, 6 Minuten Fußweg ab S-Bahn-Station Südende. Der Eintritt ist frei. Bitte anmelden unter eklat.berlin@posteo.de

Teil I – Die Idee

malatsion, Infiltration, 2021, Kugelschreiberzeichnung

Sie entstand im ersten Lockdown. Der abrupte Stillstand des gesellschaftlichen Lebens hatte in uns allen die Hoffnung ausgelöst, dass die Menschheit in ein kollektives Nachdenken über die nächsten, längst fälligen Schritte geht. Die Frage, wie wir weiterleben können, war vom tosenden Getriebe stets übertönt worden. Nun dominierte sie die Stille. 

In einem telefonischen Interview für den Podcast „Wie geht es dir?“, den ich im ersten Lockdown produzierte, erzählte mir die Plastikerin malatsion von ihrer Idee, Skulpturen aus einer organischen Substanz zu formen, die, im Freien aufgestellt, allmählich verrotten, dabei die Humusbildung des Bodens fördern und auf diese Weise CO2 binden. Sie wolle diese Skulpturen in einem Park oder Garten vergehen lassen, als Geschenk für die Erde. 

Mir gefiel die Idee, nicht nur wegen des ökologischen Ansatzes, sondern auch wegen der Idee des Vergehens von Kunstwerken, die zuvor aufwändig produziert worden waren und gewöhnlich hochversichert in einer Galerie stehen.  

Eine meiner Kolleg*innen versteht das nicht. Wie kannst du es gut finden, dass Kunst zerfällt und verschwindet? sagt sie. 

Vermutlich sehne ich mich nach einem Paradigmenwechsel, mehr noch, nach einer Umkehr der Werte. Was nutzt alle Kunst der Welt, wenn wir die Erde als Wohn- und Schaffensort verlieren? Es gibt diesen Spruch, dass man noch einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen und ein Haus bauen soll, auch wenn am nächsten Tag die Welt untergeht. Ja. Ich bin dafür, bis zum letzten Tag künstlerisch und kreativ tätig zu sein. Aber das ist gewissermaßen eine Form der Resignation. Wir gehen unter, also machen wir weiter. Wie das Orchester auf der Titanic.

In der Zerstörung des eigenen Kunstwerks, um es der Erde zu schenken, sehe ich einen aktiven, schöpferischen Akt, eine Aufforderung zum Umdenken.





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MOMENTS MUSICAUX

Anne-Françoise Cart und Christine Düwel in der Galerie „Die Brücke“ in Kleinmachnow

Anne-Françoise Cart „Moments musicaux in Rot I“ 2019.

So verschieden die Werke dieser beiden Künstlerinnen auf den ersten Blick sind – es gibt einiges, das sie verbindet. Auf die Musik als größten gemeinsamen Nenner zwischen beiden weist der Ausstellungstitel hin: Moments musicaux. Franz Schubert nannte so eine Reihe kleiner Klavierstücke, die in ihrer Kürze und Struktur spontane Stimmungen skizzenhaft festhalten. 

Die Künstlerinnen Anne-Françoise Cart und Christine Düwel eigneten sich den Schubert-Titel an, um auf die Musik als Thema ihrer gemeinsamen Ausstellung und als Quelle der Inspiration und Schönheit hinzuweisen, auch auf die Musik als Rätsel und, ganz besonders: als Klangsprache und Klangbild. 

Anne-Françoise Cart hat Zeichnungen mitgebracht, die zu Musik entstanden sind, zu einem Cello-Spiel (die „Contrabass tunes“) und zu einem Konzert der Akkordeonistin Cathrin Pfeifer (die „Akkordeon tunes“) Es sind einfache, starke Zeichnungen, die schnell, in direkter Interaktion mit der Musik entstanden sind.  

Doch es geht in den „Moments musicaux“ um mehr. Beide Künstlerinnen erforschen Darstellungsformen des Klangs. Die Titel einiger Werkserien weisen darauf hin: „Impromptu“, „Danza“ und „Contrapunctus“ sind Begriffe aus der Klassik, die sich Christine Düwel für ihr bildnerisches Werk aneignet, nicht ohne auf die Musik zu verweisen. Teile von Partituren sind in fast allen ihrer Aquarelle versteckt, neben anderen Zeichen, großen und kleinen, mehr oder weniger deutlichen, die bei genauer Betrachtung aus dem Bildgrund treten und so ein Rauschen erzeugen (Sie wissen, dass bei der digitalen Bildbewertung von „Bildrauschen“ gesprochen wird. In den Arbeiten von Christine Düwel ist „das Rauschen“ angelegt. Wenn Sie die Zeichnungen länger betrachten, löst sich das Rauschen in einzelne Tonspuren auf. Christine Düwel arbeitet auch figurativ. In ihrer „Danza“ – Serie lösen sich die Figuren, tanzende Paare, ähnlich dem Klang, im Raum auf. 

In ihrer großen Arbeit „Soundcloud“ (Klangwolke) suchte sie nach dem dreidimensionalen Ausdruck dieses sinnlichen Begriffs aus der digitalen Welt. Ihre „Soundcloud“ ist ein offenes Gebilde. Sie kann Geräusche aufnehmen und in verschiedene Ebenen weiterleiten. Sie klingt und klingelt. Ihr Klang fließt, strömt, schwingt, verändert den Raum, die Gegenstände und Menschen darin und nimmt gleichzeitig deren Schwingungen auf. 

Klang an sich ist gestaltlos, doch er besitzt eine gestaltbildende Kraft. Diese Kraft s interessiert Anne-Françoise Cart. In ihrem Atelier lag ein Buch von Alexander Lauterwasser, das sich mit den sogenannten Chladnischen Klangfiguren beschäftigt. Der Forscher mit dem rhythmischen Namen, der beinahe an einen Walzerschritt erinnert:  Ernst Florens Friedrich Chladni war ein Zeitgenosse von Goethe. Er brachte feinen Sand auf Glasplatten mittels seines Geigenbogens zum Schwingen. Es entstanden harmonische Bildstrukturen. Später haben andere auf diesem Feld weitergearbeitet. Der Schweizer Arzt und Maler Hans Jenny unter anderen. Er lebte von 1904 bis 1972. 

Die pure Energie des Klangs, die kein Chaos erzeugt, sondern eine harmonische Struktur, die unser Auge als „schön“ und „geordnet“ wahrnimmt, als Muster, sogar Zeichen einer Intelligenz, führt zu der Frage, was Klang und was Bild ist? Kann ein Klangbild, das bestimmte Frequenzen zeigt wie andere Bilder Bäume oder Gesichter darstellen, abstrakt genannt werden? Hat es nicht einen Gegenstand: den Klang, die Musik? Ist Musik ein Gegenstand? 

Das Wort „Abstraktion“ kommt vom lateinischen abs-trahere, was so viel wie entfernen oder trennen bedeutet, auch weglassen. Ohne die Frage beantworten zu können, ob die Chladnischen Klangbilder abstrakt oder gegenständlich sind, möchte ich sagen, dass ich die Bezeichnung „abstrakt“ unzutreffend für die Malerei von Anne-Françoise Cart und Christine Düwel finde. Ich betrachte diese Bilder und höre Insekten summen, Wasser tröpfeln oder fließen, Feuer knistern, Wind durch Gräser streifen. Es sind Bilder, die mich in meine Erfahrungs- und Gefühlswelt bringen. Ich würde ihre Energie eher als verbindend bezeichnen. Farbe, Klang und Empfindung verschmelzen zu einer Erfahrung, für die ich kein Wort brauche. 

Als ich mich mit der Musikalität dieser Ausstellung beschäftigte, wurde mir klar, dass die Abstraktion in Wirklichkeit das Zeichen ist, also Buchstaben oder Noten. Diese Zeichen sind die Reduktionen eines Klangs, die Trennung von seinem Ursprung. Sein Ursprung könnte die Stimme des Erzählers gewesen sein oder ein erstes Instrument, ein Vogelruf, ein Tierschrei. Das Geschriebene aber kann den Klang der Stimme nicht transportieren. Vielleicht kennen Sie das Phänomen, dass sie eine Fremdsprache nur aus dem Mund einer vertrauten Person verstehen? Es gibt Musikstücke, deren ursprünglichen Klang wir nicht mehr hören können, weil es die alten Instrumente, für die sie komponiert wurden, gar nicht mehr gibt.  

Noten und andere musikalische Zeichen abstrahieren die Musik wie das Alphabet die Sprache. 

Die Bilder dieser Ausstellung können nicht abstrahiert werden. Sie sind auch nicht abstrakt. Die Senderinnen haben Gedanken, Ideen und Empfindungen in ihre Bilder gewebt. Jede Betrachter*in empfängt etwas anderes. Die Senderinnen haben keinen Einfluss mehr darauf, was. 

Anne-Françoise Cart, die in Burundi geboren wurde, in Indien aufwuchs und in der Heimat ihrer Eltern, der Schweiz, später Textildesign studierte, zieht es immer wieder nach Afrika. Sie hat sich insbesondere mit der Kunst der alten Stammeskulturen beschäftigt. Sie mag an diesen Kulturen, dass jedes Kunstwerk Bestandteil des alltäglichen und zugleich des spirituellen Lebens ist. Die Skulpturen vor den Häusern haben die Aufgaben, vor Krankheiten und Unwettern zu schützen. Die Lieder, die die Frauen sangen, während sie wochenlang an einem Teppich für ein junges Brautpaar webten, handelten von den Segnungen für die neue Familie. Die Frauen zweifelten nicht daran, dass die guten Wünsche aus ihren Liedern mit in den Teppich gewebt würden und später, im Haus des Paares, ihre segnende, schützende Wirkung entfalten würden. Die Schwingungen guter oder schlechter Wünsche, deren Einfluss auf die Dinge und der Einfluss der Dinge auf die Schicksale der Menschen bestimmten das alte magische Weltbild. So bildeten Kunst, Spiritualität und Alltag eine unlösbare Verbindung. 

Der Gedanke, der Wunsch oder die Idee, die zuerst den Gesang bilden und sich dann in einem Gegenstand manifestieren, der weite geistige Raum hinter der materiellen Welt, das ist der Schaffensansatz von Christine Düwel. 

Da war etwas. Etwas, für das es keine Worte gibt. Eine Stille vor dem kosmischen Knall, die keine Lautlosigkeit war, aber die Abwesenheit von Klang. Die Pause zwischen den Noten als das wesentliche Element der Musik, die Stimmung zwischen den Worten als die eigentliche Botschaft einer Stimme, das erforscht Düwel in ihrem Werk, ganz im Sinne des Komponisten John Cage, dessen Klavierstück 4’33 keine Noten braucht. Die Pianist*in sitzt vier Minuten und 33 Sekunden in Stille vor einem aufgeklappten Klavier. Christine Düwel, die neben Bildhauerei und Grafik auch Philosophie und Kunstgeschichte studierte, hinterfragt die Stille und die Leere und das scheinbar Unsinnige auf das eigentlich Bedeutende hin, das dort geschieht. 

In diesem Raum, in dem die Stille schwingt und einen Prozess in Gang hält, dessen Ziel nicht benannt werden kann, begegnen sich die beiden Künstlerinnen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Klang. Diese Intellektualität führt zu den spielerischen „Moments musicaux“. 

Sie dürfen übrigens mit den Klanginstallationen von Christine Düwel spielen. Das ist sogar ausdrücklich erwünscht. 

Zum Schluss dieser kleinen Einführung möchte ich auf eine Besonderheit hinweisen, die sehr fein illustriert, wie sich die beiden Künstlerinnen in Vorbereitung dieser Ausstellung gegenseitig inspirieren konnten. Christine Düwel arbeitete zuerst mit den kleinen Muschelblättchen, die Ihnen in der „Soundcloud“ und in den „fremden Federn“ begegnet. Die „fremden Federn“ sind die beiden Installationen am Eingang der Ausstellung, mit denen Sie auch spielen dürfen. Anne-Françoise Cart schuf mit den Muscheln eine „Erwiderung“. 

Christine Düwel „Contrapunctus personare“ 2019

LOOPS/THINGS

Eine Episode bei LAGE EGAL

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Textile Arbeit von Anja Schwörer, ohne Titel, bei LAGE EGAL in der Greifswalder Straße in Berlin. Im Vordergrund ein Teilstück des „Objekt 21“, einer Stahlkonstruktion von Klaus-Martin Treder 

Bei Lage Egal ist Eile geboten. Die Ausstellungen laufen nur drei Wochen, was für Berliner Dimensionen knapp bemessen ist. Ich meine nicht die üblichen Laufzeiten für Ausstellungen, sondern die Bedingungen in der Stadt: die Entfernungen, die auf verstopften Radwegen und Bürgersteigen absolviert werden müssen. Das Vorankommen in Berlin wird immer klaustrophobischer. Ich fühle mich mitunter wie in diesen Albträumen, in denen du auf der Stelle klebst und nicht vorwärtskommst. Gerade ist auch noch Urlaubszeit. Alles geschieht wieder einmal gleichzeitig.

Heute also, mitten in der Woche, noch schnell die Nase am Schaufenster in der Greifswalder platt gedrückt. Die Galerie ist ja nur am Wochenende geöffnet und übermorgen ist schon wieder Finissage. Glücklicherweise war der Galerist Pierre Granoux gerade da und öffnete mir.

Ja, und dann stand ich in dem schönen Raum, den ich in erster Linie wegen der textilen Arbeiten von Anja Schwörer aufgesucht hatte, und fühlte mich plötzlich nicht mehr getrieben und beengt. Diese Bilder anzuschauen war wie verstanden-werden, es war, als sei ich nach Hause gekommen und gar nicht mehr so bedeutungslos Weiterlesen

KLASSE DAMEN! im Jahr 2019

Selbstporträt von Gertrud Spitta. 1920

Gertrud Spitta. Selbstporträt. 1920. Foto © Michael Gorkow 

Ingeborg Ruthe, langjährige Feuilleton-Redakteurin der Berliner Zeitung, war die erste Journalist*in, der sofort klar war, dass in Schloss Biesdorf eine für Berlin enorm wichtige Ausstellung entstanden ist. Ihre zweiseitige Rezension weckte die Kolleg*innen. So bekam die bemerkenswerte Arbeit der Kuratorinnen Ines Doleschal, Ellen Kobe und Karin Scheel wenigstens eine angemessene Resonanz in den großen Medien.

Um öffentliche Gelder hatte sich die Ideengeberin von „Klasse Damen!“, die Bildende Künstlerin Ines Doleschal, über ein Jahr lang vergeblich bemüht. Weder der Bund noch die Stadt Berlin hielten es für notwendig, mit einer repräsentativen Ausstellung an die Öffnung der Berliner Kunstakademie für Frauen vor 100 Jahren zu erinnern. Weiterlesen