© Illustration Liane Heinze
Jolanda kommt allein zum Essen. „Jakob hatte keine Lust“, sagt sie.
Ich habe ein Familienessen vorbereitet, den Tisch aus der Küche ins Zimmer getragen und mit dem neuen Service gedeckt, das ich auf dem Flohmarkt gekauft habe. Der Platz zwischen dem Fenster und unserem Wandschirm ist ein guter Ort zum Essen und Reden. Das Kerzenlicht spiegelt sich in den gläsernen Schuppen und auf den Dielen.
Jolandas Blick streift mit der Verwunderung der jungen Leute über die Launen der Älteren über die Gedecke, Servietten und Blumen. „Was ist mit ihm?“, frage ich. Sie zuckt die Schultern. „Keine Ahnung.“ Als ich mit dem Fisch aus der Küche zurückkomme, blickt sie abwesend aus dem Fenster. „Ihr hattet Streit.“
Jolanda beginnt zu weinen. Sie schüttelt ein Taschentuch aus und schnaubt geräuschvoll hinein.
Auf dem Tisch dampft der Fisch. Er brodelt noch in der Pfanne. „Jakob zieht sich mehr und mehr zurück“, sagt Jolanda. „Es ist dasselbe wie vor einem halben Jahr. Er sagt, er sei noch nicht so weit, mit jemandem zusammen zu leben, auf Familie zu machen, blabla.“ Jolanda schaut den Fisch an. „Das sieht gut aus“, sagt sie unter Tränen und schnäuzt sich wieder. „Möchtest du?“ frage ich. Sie nickt und hält mir den Teller hin. „Schönes Geschirr“, sagt sie traurig. „Warum kann man nicht einfach ganz normal zusammen leben?“ Der Teller in ihrer Hand beginnt zu zittern. Sie schluchzt. Der Teller kippt nach rechts. Sie schafft es gerade noch, ihn abzusetzen, ohne dass die Sauce auf das Holz kleckert. „Ich glaube, er hatte sogar Lust, mitzukommen, aber er tut es nicht, weil er mir zeigen will, wie unerhört selbstbestimmt er ist. Das ist doch Kinderkram, oder? – Tröste dich, er hat nichts gegen dich. Er kommt auch nicht mit zu meinen Freunden. Er hat etwas gegen mich. Statt dass wir es uns mal schön machen, geht er drei Tage mit seinem Kumpel Max in die Sächsische Schweiz klettern.“
Ich will etwas erwidern, aber Jolanda wehrt sofort ab. „Ich weiß, was du sagen willst: Lass ihn doch klettern! Aber das meine ich nicht. Von mir aus kann er mit Max solange die Felsen rauf und runter klettern, bis sie rund sind. Aber warum weigert er sich, auch mal was mit mir zu machen? Wenn man sich liebt, macht man doch auch Dinge dem anderen zuliebe, oder?“ Sie steht auf und tritt ans Fenster. „Darf ich eine rauchen?“
„Die Felsen in der Sächsischen Schweiz sind schon rund“, sage ich leise. „Was meinst du, warum er sich so verhält? Was steckt dahinter?“
Jolanda schluckt hastig den Rauch. „Keine Ahnung, er hat offenbar ein Problem damit, dass wir zu zweit sind. Er ist ein Egoist.“
„Wirklich? Aber du liebst ihn doch.“
„Man kann auch Egoisten lieben.“
„Vielleicht fühlt er sich unterlegen?“, sage ich.
„Hast du irgendwo einen Aschenbecher?“ Jolanda hält die glühende Asche über ihren Handteller. Sie öffnet das Fenster. In der Küche suche ich nach etwas, das man als Aschenbecher verwenden könnte, aber unsere Küche ist wirklich mangelhaft ausgestattet. Schließlich fische ich ein ausgebranntes Teelicht aus dem Mülleimer. „Sieh mal, er ist zu dir gezogen. Das ist deine Wohnung. Das schafft ein bestimmtes Verhältnis zwischen euch. Er bewegt sich sozusagen in deinem Geltungsbereich.“
„Quatsch“, sagt sie. Sie hat ihren Fisch noch nicht angerührt, und allein schmeckt es mir auch nicht. Ich schenke uns ein Glas Wein ein. „Drehst du mir auch eine?“
„Klar.“ Sie setzt sich wieder an den Tisch und breitet um ihren Teller herum die Raucher-Utensilien aus. „Jetzt ist es unsere Wohnung. Wir haben sie zusammen eingerichtet.“
Ich erinnere mich an den Tag, als ich zu Leon gezogen bin. Wie Jakob hatte ich einfach ein paar Sachen gepackt und auf seinen Bügeln wieder aufgehangen. Er war so glücklich. „Ich finde es unglaublich mutig, dass du das machst.“ Mutig? Ich hatte mich in seinem Spiegel betrachtet und mich darin schön gefunden. Ja, ich war mutig. Wenn ich mein Leben betrachtete, hatte ich in allen Entscheidungen immer Mut bewiesen. Leon war der Erste, der es bemerkt hatte. Nicht einmal mir selbst war es bisher aufgefallen.
„Du hast Recht“, sage ich. „Das mit der Wohnung ist natürlich Unsinn.“
Wir rauchen und trinken den Wein. Im Kerzenlicht haben sich die Blautöne des Wandschirms in Grautöne verwandelt und einige Grüntöne leuchten golden. „Seltsam“, sage ich.
„Was? fragt Jolanda fahrig.
„Ach, nichts weiter. Ich musste nur gerade daran denken, wie ich bei Leon eingezogen bin.“
Wir sitzen eine Weile schweigend.
„Du solltest ihn verlassen“, sage ich.
„Spinnst du?“ sagt Jolanda.
„Er tut dir weh.“
„Du verlässt Leon doch auch nicht.“
„Ich werde ihn verlassen.“
„Ach nee!“
„Ich brauche nur noch einen neuen Computer. Ich muss unabhängig sein.“
„Und es muss natürlich ein Apple sein.“
„Natürlich.“
„Du solltest das Geld für den Mac bei denen sammeln, die ihn nicht leiden können. Dann hast du es schnell zusammen.“
„Du wärst vielleicht erstaunt, wie viele ihn mögen.“
„Ach, wer denn?“
„So auf die Schnelle fällt mir niemand ein. Ist auch egal“, sage ich. Ich spüre den schweren Wein. „Meine Güte, haben wir ein schlechtes Karma. Woher kommt das nur?“
„Ich bin nicht du“, sagt Jolanda. „Ich werde niemals wie du sein.“
„Das hoffe ich sehr für dich“, sage ich.
„Das wäre dann also geklärt“, sage ich und schließe einen Moment lang die Augen. Mein Kopf summt.
„Ich liebe Jakob. Ich werde ihn niemals gehen lassen.“
Habe ich so etwas jemals über Leon gesagt? Plötzlich habe ich das Gefühl, menschlich versagt zu haben, nicht wirklich zu lieben. Der Fisch liegt still und kalt zwischen uns.
„Ihr braucht jemanden, der sich mit euch hinsetzt und redet“, schlage ich vor.
„Das habe ich auch gedacht, aber Jakob hält das nicht für notwendig.“
„Aber du leidest doch!“
„Vielleicht ist ihm das nicht klar. Ich werde mit ihm reden.“ Wir trinken den Wein aus und überlegen, wer als Mediator in Frage käme. Es müsste eine neutrale Person sein. „Leon?“
„Habe ich auch schon gedacht. Aber ich kenne niemanden, der als Mediator schlechter geeignet ist als Leon. Der kann doch nur sich selbst zuhören.“
„Er hört manchmal sehr genau zu“, protestiere ich.
„Ja, um seinen Einsatz beim Streiten nicht zu verpassen.“ Jolanda kichert.
„He? Lässt er beim Streiten neuerdings andere zu Wort kommen?“ Ich muss lachen. „Ach, es könnte so lustig sein, wenn es nicht so traurig wäre.“ Wir gehen die ganze Familie durch, den Freundeskreis. Niemand scheint uns wirklich geeignet. Plötzlich fällt mir Koljas Mutter ein. „Sie ist eine großartige Frau. Du musst sie unbedingt kennenlernen. Sie hat einiges erlebt. Wenn sie dich anschaut, fühlst du dich durchschaut, erkannt, wie auch immer. Wir müssen zu ihr fahren. Oder du und Jakob, ihr fahrt am besten zu ihr.“
„Du bist betrunken, Mama. Ich fahre doch nicht zur Mutter deines Liebhabers, um meine Beziehungsprobleme zu klären.“
„Ich bin nicht betrunken. Es ist mein voller Ernst. Sie weiß doch gar nicht, dass ich etwas mit Kolja habe.“
„Eben sagtest du, sie sei eine intelligente Frau mit Menschenkenntnis.“
„Du meinst, sie….“
„Hallo, ist sie es oder nicht?“
„Ja.“
„Muss man einer solchen Frau alles…“
„Scheiße, du hast Recht. Natürlich weiß sie es. Dreh mir noch ne Zigarette, ja!“
„Ist doch jetzt nicht schlimm, oder? sagt Jolanda. „Übrigens habe ich auf einmal einen Bärenhunger.“
Ich schiebe die Pfanne mit dem Fisch zurück in die Backröhre. Ich frage mich, wie ich so naiv sein konnte, zu glauben, Koljas Mutter ahne nicht das Geringste. Jolanda schleppt den Laptop rüber ins Zimmer und zeigt mir auf Youtube Videos mit Anna Depenbusch, die sie kürzlich entdeckt hat. In Gedanken gehe ich den letzten Besuch bei Koljas Mutter noch einmal durch. Tut sie das alles, weil sie sich für mich verantwortlich fühlt? Vielleicht mag sie mich gar nicht? Ich zeige Jolanda Videos von Daniel Kahn, den ich kürzlich entdeckt habe. Wir hüpfen ein bisschen im Zimmer herum, aber es hilft nicht gegen das flaue Gefühl im Magen, zu dem sich neben Hunger und Rotwein nun die Unsicherheit in der Deutung von Koljas Mutter gesellt.
Beim Fisch beschließen wir, sie zu besuchen.