© Illustration Liane Heinze
Wir besuchten Koljas Mutter an einem der ersten Frühlingstage. Die Luft war aus Silber. Silbern waren auch der See und das Gras, das sich vom Winter erholte.
Koljas Mutter hatte sich über meinen Anruf gefreut. Ich hatte ihr gesagt, dass ich mal wieder in der Gegend sei und gern vorbeikommen würde, diesmal mit meiner Tochter Jolanda.
Sie gab Jolanda die Hand und wie immer lag in ihrem „Guten Tag!“ eine besondere Aufmerksamkeit, ein Signal ihres Interesses, zurückhaltend, aber erwartungsvoll. Schon in ihrem Gruß lag der Anspruch, in ihrem kleinen Haus kein Vorurteil und keinen Allgemeinplatz zuzulassen, keine Banalität. Sie war in dieser Hinsicht streng. Jolanda versuchte, sich an diesem Gruß vorbei zu mogeln.
In der Ecke mit dem Sofa und den Büchern war der Kaffeetisch gedeckt. Koljas Mutter fragte, ob wir öfter zusammen einen Ausflug machten. „Niemals“, sagt Jolanda. „Ist die ultimative Ausnahme.“ Koljas Mutter schaute amüsiert auf. „Da muss ja was Schlimmes passiert sein.“
„Wir sind gerade beide allein“, sagte Jolanda, warf sich schwungvoll auf das Sofa und ließ ihren Kopf nach hinten ins Polster fallen.
„Wunderbar“, sagte Koljas Mutter.
„Finde ich überhaupt nicht“, sagte Jolanda. „Es ist das Schlimmste, was passieren kann, so schlimm, dass man mit seiner Mutter aufs Land fährt.“
Koljas Mutter lachte. Sie stand noch immer, mit der Kaffeekanne in der Hand, in der Bewegung gefroren, hingerissen davon, wie Jolanda sich ihren Raum nahm. „Das ist ja ein Drama! Und ich dachte, es wäre gar nicht mehr möglich, allein zu sein, heute, wo alle mailen und twittern und skypen.“
„Dieser technische Kram ersetzt keinesfalls das Zusammenleben“, sagte Jolanda. „Ich muss trotzdem allein einkaufen gehen. Schon das ist schrecklich.“
„Ich gehe viel lieber allein einkaufen“, warf ich ein, aber im selben Moment wurde mir klar, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Eigentlich ging ich gern mit Leon einkaufen. Als wir uns kennengelernt hatten, waren unsere Spaziergänge oft zu Shoppingtouren geworden. Wir hatten uns komplett neu eingekleidet. Im letzten halben Jahr war Leon oft allein einkaufen gegangen. Er brauchte mich nicht mehr. Und wenn ich neue Schuhe kaufte, versteckte ich sie vor ihm, weil ich keine Lust auf sein Grinsen hatte, wenn er sagte, dass Madame ja doch noch ein paar Groschen übrig hat. Natürlich, irgendwann kam der Kommentar, wenn ich die Schuhe zum ersten Mal trug. Meine neue Seidenwäsche war ihm neulich nicht einmal aufgefallen. Besser so. Ich wollte mir nicht den Spaß durch seine Groschen-Kommentare verderben lassen.
Koljas Mutter hatte inzwischen Kaffee eingegossen und uns jedem ein Stück Kuchen auf den Teller gelegt. Es gab sogar Schlagsahne. Ich legte die Schlagsahne auf den Kaffee. Es war einfach wunderbar, wieder auf diesem alten Sofa zu sitzen, ob mit dem Kopf in den Polstern oder mit angezogenen Beinen – hier war es erlaubt. „Man muss lernen, mit der Einsamkeit zu leben“, sagte sie. „Das ist ein schwieriger Prozess.“ Sie erzählte, wie sie es gelernt hatte, als sie für ihr Studium in eine kleine Stadt gegangen war und ihr Freund in Berlin geblieben war. „Als ich auf mich selbst zurückgeworfen war, habe ich mich entdeckt. In diesen zwei Jahren ist mir klar geworden, was ich wirklich machen möchte. Bis dahin hatte ich geglaubt, ich würde eines Tages eine Wissenschaftlerin sein, aber nun entdeckte ich das Theaterspielen. Als ich nach Berlin zurückkam, bewarb mich an der Schauspielschule. Mein Freund schlich sich davon. Ich hatte mich in dieser Zeit weiter entwickelt. Er konnte mir nicht folgen. Glaub mir, das wäre niemals passiert, wenn ich immer mit ihm zusammen gehockt hätte.“
„Ich habe Angst davor, mich selbst zu entdecken“, sagte Jolanda.
„Du brauchst Mut dazu“, sagte Koljas Mutter. „Möchtest du noch einen Kaffee?“ Ihre Hand lag schon wieder auf dem gewölbten Deckel der blau-weißen Kanne.
Seit einigen Tagen, seit Leon wieder in Verviers war, rief er nicht mehr jeden Abend an. Wenn ich ihn anrief, klang seine Stimme von weiter her als sonst. Er gab sich gleichgültig. Es lag sogar eine Spur Arroganz in seinem Ton.
„Was habe ich davon, zu entdecken, dass ich doch keine Kriminalistin werden möchte, sondern, sagen wir: Zirkusclown. Arbeitslos werde ich so oder so sein.“
Koljas Mutter schaute sie lange an. Ihr Blick spiegelte Jolandas Bedenken. „Ihr habt ganz andere Probleme als wir damals“, sagte sie. „Ich verstehe dich“, sagte sie.
Nach dem Kaffeetrinken ließ ich die beiden allein und ging am See spazieren. Ich fand ein Boot, das, noch im Winterschlaf, umgekippt am Ufer lag. Ich rief Leon an. Seltsam, seit er sich zurückgezogen hatte, war mir klar geworden, wie sehr ich ihn liebte. Er meldete sich aus seinem Hotelzimmer. Er klang einsam. Wieder lag diese Distinktion in seiner Stimme. Ich versuchte, über alle Bedenken hinweg zu gehen, beschrieb ihm den See und die Uferlandschaft, das Licht und den Bootsrumpf, auf dem ich hockte. Ich hätte ihm gern von Koljas Mutter und Jolanda erzählt. „Du fehlst mir“, sagte ich. Er erwiderte nichts. Mir stockte der Atem. Ich wagte nicht, weiter zu fragen. Aus den Fragen, die ich nicht zu stellen wagte, konnte er schließen, dass ich verstanden hatte: Er wusste von Kolja und mir.
Ich legte auf, blickte über das Wasser, hinüber zu dem Wald, der noch grau war und spürte, dass ich den See und die Bäume, den Sandstrand und das welke Schilf, dass ich alles verloren hatte.