Doktor Hoffnung

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In Dresden können Gymnasiasten Esperanto lernen, die Plansprache, die die Welt einmal verbinden sollte. Der Lehrer hat den Traum davon noch nicht aufgegeben und hofft, dass seine Schüler den Kurs durchhalten


© Photo: Stephan Pramme

Doktor Benoît Philippe unterrichtet am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden Französisch. Er ist nicht zufrieden. Er findet, dass seine Muttersprache für Schüler in Sachsen nicht wichtiger sein sollte als Sorbisch. Oder Suaheli.

Es ist Montagnachmittag. Herr Philippe wartet vor dem Zimmer 104 auf seine Schüler. Seine schwarze Ledertasche trägt er wie einen Schulranzen auf dem Rücken. Der blau-weiß-rote Sticker auf dem Deckel der Tasche ist schon ziemlich abgegriffen. Doktor Benoît Philippe ist jugendlich schlank, sein kurzer Bart tadellos geschnitten. Ein kleiner, blauer Kragen liegt über dem hellen Wollpullover. Er unterscheidet sich in Gelassenheit und Eleganz erheblich von den anderen Lehrern, die durch die Gänge des modernen Gymnasiums eilen.

Felix, Vivien, Sophie und Carolin aus der Achten treffen zuerst ein. „Saluton“, begrüßt Herr Philippe die Schüler. „Saluton“, grüßen sie zurück. Ein paar Minuten später kommen Janek und Pia aus der Siebten. Der Esperanto-Unterricht kann beginnen.

Der Lehrer rückt vier Tische für die kleine Gruppe zusammen. Er schreibt Worte an die Tafel, deren Endungen die Schüler vervollständigen sollen. Das ist einfach, denn in Esperanto endet jedes Substantiv/Einzahl auf „o“ und jedes Adjektiv auf „a“. Deshalb erinnert die Sprache immer ein wenig an spanisch, obwohl ihr Wortschatz aus vielen europäischen Sprachen stammt. „Vi bone lernis“ – du hast das gut gelernt, lobt der Lehrer, als Vivien einen Satz aus den Wörtern bildet. Vivien ist gegen den Willen ihrer Eltern zu den ersten Esperanto-Lektionen gekommen. Ihre Eltern, sie sind beide Lehrer, finden die Sprache sinnlos. So wie Viviens Eltern denken viele: Warum eine Sprache lernen, in der man in keinem Hotel der Welt ein Frühstück aufs Zimmer bestellen kann? Aber Vivien ist neugierig auf die Sprache, von der Herr Philippe sagt, dass sie sich schneller als Englisch und Französisch lernen lässt. Vielleicht taugt sie als Geheimsprache. Felix lernt Esperanto, um in Französisch besser voran zu kommen. Denn ihr Lehrer, Herr Philippe, hat ihnen gesagt, dass Esperanto eine gute Grundlage für jede europäische Sprache ist. Sophie möchte Dolmetscherin werden. Als zweite Weltsprache kann sie sich Esperanto nicht vorstellen. „Ich könnte niemanden im Internet auf Esperanto anquatschen.“  Pia fällt auf in der Gruppe. Sie ist ein Mädchen mit einem blassen Gesicht und großen, braunen Augen, die nachdenklich und distanziert schauen. Zugleich ist sie sehr präsent. Auch sie möchte später einen Beruf haben, in dem sie Sprachen braucht wie ihre Mutter, die kürzlich beruflich in Afrika zu tun hatte. Pia hat sich ihre Gedanken gemacht über Esperanto, die vor allem als gerecht geltende Kunstsprache. „Da kommt ja so viel aus dem Polnischen.“ Das haben vielleicht ihre Eltern behauptet, die kein Esperanto sprechen. Im Esperanto bündeln sich Einflüsse aus allen europäischen Sprachgruppen. Trotzdem sind Pias Bedenken richtig. Für einen jungen Kosmopoliten bleibt es eine ungerechte, weil europäische Sprache. „Englisch ist irgendwie cooler“, sagt Pia.

Doktor Philippe fürchtet, dass die Schüler aufgeben. Der Kurs ist im letzten Jahr von fünfzehn auf sieben Schüler geschrumpft. Zwar haben in seinen Esperanto-Kursen, anders als in den Spanisch – und Italienisch-AGs, immer einige Schüler bis zum darauffolgenden Jahr durchgehalten, weil sie weniger schnell entmutigt waren, aber schließlich haben die Jugendlichen um diese Zeit schon einen langen Schultag hinter sich. Und er darf keine Zensuren geben. Die leichte Kunstsprache hilft den Schülern also nicht einmal, ihren Abi-Durchschnitt zu heben.

In Deutschland ist Esperanto als Schulfach nicht zugelassen. In Großbritannien, Norwegen, Polen, Ungarn, Bulgarien, Italien, Österreich, Bosnien, den USA, China, Neuseeland und vielen weiteren Staaten ist die Plansprache anderen Fremdsprachen gleichgestellt. Dort werden Lehrer für den Esperanto-Unterricht ausgebildet. Benoît Philippe hat 1980 einen Abschluss als Esperanto-Lehrer in Varna gemacht.

Esperanto sei zweckmäßig und gerecht, argumentiert er. Er zählt die Erfolge seiner Esperantogruppe auf und hält sie gegen die miserablen Französischkenntnisse der Schüler im Allgemeinen. Französisch stehe nur zur Abschreckung auf dem Lehrplan, damit die Schüler sich für das leichtere Englisch entscheiden, sagt er. Zwei, drei senkrechte Falten bilden sich zwischen seinen blauen Augen auf der sonst glatten Stirn. Dann winkt er ab. „Das ist natürlich Unsinn, aber manchmal habe ich solche Ideen.“

Esperanto ist für diesen Lehrer nicht nur ein Argument. Es ist eine Leidenschaft. Er entdeckte die Sprache als Student in Freiburg, im Disput mit einem Freund, der Philippes zunächst ablehnende Haltung mit den Worten konterte: „Du weißt nicht, wovon du sprichst.“ Das habe ihn überzeugt. Seine Begeisterung wuchs mit dem Lernen. Die Dissertation -er studierte Romanistik und Philologie- schrieb er über die Entwicklung der Plansprache. Sein Professor, ebenfalls ein Romanist, hatte keine Mühe, die Sprachbeispiele zu verstehen. Seit vielen Jahren schreibt Benoît Philippe Gedichte in Esperanto. Er gibt eine Zeitschrift heraus und sammelt Literatur.

„Es hat vielleicht mit meiner Geschichte zu tun, dass ich so offen war für die Idee einer gerechten Sprache“, sagt er. „Meine Familie kommt aus dem Elsass, wo abwechselnd Deutsch und Französisch verboten waren, je nachdem, wer gerade an der Macht war.“ Als sein Großvater in den ersten Weltkrieg zog, verließ er ein deutsches Dorf und kehrte heim in ein französisches. Die Eltern wurden während der Annexion durch Hitler in ihrer Kindheit gezwungen, Deutsch zu sprechen. Nach 1945 war die Sprache der Nazis im Elsass unerwünscht.

Benoît Philippe wurde in Baden-Baden geboren. Er wuchs in einer Siedlung für die französischen Besatzer auf. Sein Vater arbeitete dort als Lehrer. „Wir nannten diese Siedlung ‚das Ghetto’, erzählt er. „Das war kein Frankreich. Das war kein Deutschland. Das war…“ Er schaut sich im Schulhaus nach einem Vergleich um. Sein Blick fällt in den verwahrlosten Lichthof im Zentrum des Gebäudes, gleich neben Zimmer 104. „Das war wie auf dem Mond. Die Militärs und ihre Familien blieben maximal drei Jahre. Ich war neidisch auf meine Mitschüler, weil sie wieder gehen konnten. Sie gingen an Orte, die so wunderbare Namen hatten wie Bordeaux oder Marseille. Wenn wir zu Beginn des Schuljahres die Formulare ausfüllen mussten, deckte ich meinen Geburtsort zu. Ich war der Boche, der schmutzige Deutsche.“

Ludwig Zamenhof, der Erfinder des Esperanto, wurde einhundert Jahre vor Benoît Philippe geboren, im Dezember 1859. Er wuchs in der Stadt Białystok an der Grenze des Russischen Reiches auf. Heute liegt Białystok in Polen. Als Ludwig Zamenhof ein kleiner, jüdischer Junge war, wurde in der Stadt Jiddisch, Polnisch, Russisch, Litauisch und Deutsch gesprochen. Ludwig Zamenhof führte die Feindschaft unter den Völkern auf ihre verschiedenen Sprachen zurück. Zamenhof wurde Augenarzt. Er sprach mehrere Sprachen. Mindestens ein Wörterbuch muss er immer unter seinem Arztkittel versteckt haben, das hebräische, lateinische oder griechische. Er wollte den Sprachen an die Wurzel gehen. 1887 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Doktor Esperanto“ –Esperanto bedeutet „Der Hoffende“ – seinen Entwurf einer Lingvo Internacia. Doktor Esperanto war nicht angetreten, die Sprachen der Völker zu verdrängen, sondern sie zu erhalten. Keine Sprache sollte in ihrer Bedeutung über die andere erhoben werden. Esperanto war als Brücke der Verständigung gedacht. Der jüdische Augenarzt hatte eine politische Bewegung ins Leben gerufen.

Die Idee fand schnell Anhänger. Zeitschriften entstanden, Kongresse wurden organisiert. Dresden hat eine reiche Esperanto-Geschichte. 1908 fand hier der Weltkongress der Esperantisten statt. Die Esperanto-Schriftstellerin Marie Hankel lebte in der Stadt. Heinrich Arnold, Sohn des Kunstmäzen und Bankiers Georg Arnold, an den in Dresden noch heute ein Bad erinnert, engagierte sich für die Verbreitung der Plansprache. Er schrieb das Vorwort für die Esperanto-Ausgabe des Buches „Die Waffen nieder!“ von Bertha von Suttner, mit der er auch befreundet war. Zeitgenossen berichten, dass er auf seiner Strandburg an der Ostsee die grüne Flagge der Bewegung hisste. In den Zwanzigerjahren lernten sogar die Dresdner Polizisten Esperanto, um für den Fremdenverkehr gerüstet zu sein.

Die Nazis verboten die pazifistische Sprache. In der DDR wurden erst wieder Mitte der Sechzigerjahre, nach dem Ende der Stalinzeit, Kurse an Volkshochschulen und in Betrieben angeboten.

Heute ist von dem einstigen Enthusiasmus nichts mehr in der Stadt zu spüren. Es gibt einen Stammtisch und einen Freundeskreis Esperanto, den der Leiter des Dresdner Esperanto-Archivs ins Leben gerufen hat. Zwei Lehrer fallen Benoît Philippe ein, die wie er Esperanto in Dresden und dem Umland unterrichten.

Die Weltsprache ist Esperanto eben nicht geworden. Man schätzt, dass es fünf Millionen Sprecher weltweit gibt, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Schätzung beruht auf einem Vergleich der Wikipedia-Einträge auf Esperanto mit denen anderer Sprachen.  So betrachtet, liegt Esperanto irgendwo zwischen Dänemark und Litauen. In Litauen leben über drei Millionen, in Dänemark zirka fünf Millionen Menschen. Die aktiveren Esperanto-Gruppen findet man in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es sind junge Intellektuelle, die in der Geburtsstadt Zamenhofs den Fernsehsender Bjalistoko Esperanto betreiben.

Esperanto ist heute zu einem Sprachsport geworden, ausgeübt von Sprachbegabten bei regionalen und weltweiten Treffen. Doch was motiviert zum Lernen? Esperanto hat keine Landschaft, kein Haus, kein Lied. Benoît Philippe würde sagen: Esperanto hat alle Landschaften, alle Häuser alle Lieder. Doch das läuft auf dasselbe hinaus. Die Entscheidung für eine Sprache erfolgt aus Notwendigkeit oder Liebe. Es ist heute nicht notwendig, Esperanto zu lernen. Wen oder was lieben Menschen, die sich für Esperanto entscheiden? Eine Idee? Ein Spiel?

Jonne Saleva ist ein Austauschschüler aus Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands. Er ist siebzehn Jahre alt. In seiner Muttersprache spricht man das „o“ in seinem Namen weder kurz noch lang. Man hält das „o“ ein wenig, man schaukelt es wie ein Baby, bis der Name eine kleine, unbekannte Melodie erzeugt, die es sonst in keiner anderen europäischen Sprache gibt. Man muss das üben. Es hilft, sich einen dunklen Wintertag in Lappland dabei vorzustellen. Es hilft, sich ein Haus in das verschneite, flache Land zu denken und darin ein Feuer.

„Es war komisch, allein Esperanto  zu lernen, ohne zu wissen, wofür“, erzählt Jonne. Sein Deutsch hat einen starken sächsischen Einschlag. Er hat die Besonderheiten dieses Dialekts längst analysiert. „In Lappland gibt es nur zwei Leute, die Esperanto sprechen: Mein Lehrer Pekka und ich. Eines Tages rief Pekka an und sagte, dass sein Freund aus Japan da sei. Dieser Japaner sprach nur Japanisch und Esperanto. Es war das erste Mal, dass ich jemanden traf, mit dem ich mich nur auf Esperanto verständigen konnte. Das war großartig.“

Zum zweiten Mal besucht Jonne den Stammtisch der Dresdner Esperantisten. Benoît Philippe organisiert die Treffen im „Neustädter Diechl“, einem Restaurant in der Äußeren Neustadt, dem Szeneviertel Dresdens. Überwiegend ältere Herren sind um die Tafel versammelt. Als Jonne gegen neun Uhr im Gastraum sein Hütchen lüftet und die graue Filzjacke auf das Kanapee wirft, machen sich die ersten Besucher bereits auf den Heimweg.

Die meisten der Akademiker beherrschen wie Jonne zwei oder mehr Sprachen perfekt. Ein stämmiger Lateinlehrer mit dunklen Haaren und breiten Hosenträgern spricht fließend Spanisch, Russisch und Arabisch. Jetzt lernt er Chinesisch und unterrichtet das auch schon an seiner Schule. Sein Tischnachbar hat in der DDR Ökonomie studiert. Seit vielen Jahren ist er arbeitslos. Langeweile hat er nicht. Er übersetzt Computerprogramme ins Nieder – und Obersorbische. „Um die Sprachen zu pflegen“, sagt er.

Ein buntes Hündchen mit spitzer Nase wedelt um den Tisch, wenn wieder ein knuspriges Bauernfrühstück oder ein Schnitzel serviert wird. In dieser Runde passiert es, dass die Männer aus dem Esperanto heraus ins Sächsische fallen. Je weiter sie von Benoît Philippe entfernt sitzen, desto ausgiebiger. Mi krokodilas – ich krokodiliere, sagen Esperantisten, wenn sie miteinander in ihrer Landessprache sprechen. An diesem Abend kämpft Benoît Philippe nicht allein gegen das Krokodilieren. Sein langjähriger Freund Hubert Schweizer, ein Heilpraktiker und altkatholischer Priester, sitzt am anderen Ende des Tisches. Die beiden achten darauf, dass am Tisch nicht wieder von der Aufgabe des Abends abgewichen wird. Doktor Philippe hat eine Liste mit Wörtern vorbereitet, für die es noch keine Entsprechung auf Esperanto gibt, das Wort „piercing“ beispielsweise. „Korpo traboraga“, lautet ein Vorschlag, der durchbohrte Körper, „pikornamo“ ein anderer, Stechschmuck. Man plaudert über die Traditionen des Piercing auf anderen Kontinenten, -es scheint ein spaßiges Thema zu sein- und diskutiert, ob eher das Verb bohren oder pieken zutrifft. Die erarbeiteten Übersetzungs-Vorschläge schickt Benoît Philippe nach Leipzig, an den Herausgeber des Wörterbuch Deutsch-Esperanto, Professor Erich-Dieter Krause. Um die Auflage des Werkes wird ein kleines Geheimnis gemacht. Der Verlag will nur verraten, dass sie irgendwo zwischen 1000 und 3500 Exemplaren liegt. Eine ähnliche Zahl liest man auch über den Weltbund der Esperantisten: 1300 Deutsche sind dort als Mitglieder erfasst.

Am nächsten Montag wartet Doktor Philippe wieder vor Zimmer 104 auf seine Schüler. Jonne steht neben ihm und knetet seinen Hut. Fast alle kommen, um den Gast aus Lappland kennenzulernen: Sophie, Vivien, Felix, Carolin und Janek. Jonne soll etwas über seinen Alltag in Finnland erzählen. Doktor Philippe hat bereits eine Finnland-Karte aus dem Geographie-Kabinett geholt. Pia hat abgesagt. Sie muss zur Orchesterprobe. Sie denkt sowieso darüber nach, die AG aufzugeben. Sie möchte sich stärker auf Englisch konzentrieren.

Kultur der Mischung

Berliner Zeitung

Isabelle Bruniquet hat afrikanische, asiatische und europäische Wurzeln. Sie weiß nicht recht, wohin sie gehört

Wegen ihres Akzents glaubt man, sie sei Französin. Sie ist schlank. Sie hat hellgrüne Katzenaugen, rotes Haar und Sommersprossen.
Die Schwarzen im Lumumba, ihrem Lieblingsclub in der Karl-Marx-Allee, sagen: „Du bist doch eine von uns. Hast eben nur die falsche Hautfarbe.“

„Es ist mein Dilemma“, sagt Isabelle Bruniquet. „Ich weiß eigentlich selbst nicht, wer ich bin.“

Isabelle Bruniquet ist Kreolin. Vor 39 Jahren wurde sie auf Réunion geboren, einer Insel im Indischen Ozean, achthundert Kilometer östlich von Madagaskar. Ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wurden ebenfalls auf Réunion geboren. Doch dann verlieren sich die Spuren der Familie auf drei Kontinenten, in Indien, Afrika und Europa.

Isabelle studierte in der Hauptstadt Saint-Denis französische Sprach – und Literaturwissenschaft. Sie liebt die französische Sprache und Literatur. Sie ist froh, dass Réunion politisch zu Europa gehört. Sonst hätte sie, die Tochter einfacher Leute, kaum die Chance zu studieren gehabt.

Sie war noch Studentin, als sie ein interessantes Angebot aus Deutschland bekam. An der Universität Bamberg arbeiteten Sprachwissenschaftler an der Erforschung der Kreolischen Sprachen. Sie erstellten ein Etymologisches Wörterbuch. Und Isabelle sollte dabei sein.

Das ist ihre Chance, die kleine Insel, um die man im Auto in drei, vier Stunden herum fährt, zu verlassen. Sie weiß schon lange, dass sie hier weg möchte, raus in die Welt, zu den Wurzeln ihrer Familie, ihrer Sprache.

Bamberg erschien ihr engherzig und kühl. Aber immerhin verliebte sie sich. In Bamberg kam ihr Sohn Lucien zur Welt. Nach zwei Jahren wurde ihr die Luft in der fränkischen Stadt zu knapp. Mit Mann und ihrem Sohn ging sie nach Berlin und fand Arbeit als Französisch-Lehrerin in einer privaten Sprachschule.

Einmal saß ihr einer ihrer Schüler auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn gegenüber. „Plötzlich sagte er: ‚Ich wusste es! Sie haben afrikanische Füße. Sie kommen aus Afrika’.“

Ein paar Wochen später blätterte die Französischlehrerin im Wartezimmer in einer Zeitschrift und las, dass Anthropologen nach der Länge des zweiten Zehs in griechische und ägyptische Füße unterscheiden.

Isabelle Bruniquet ärgert sich, dass körperliche Nebensächlichkeiten wie Zehenlängen und Hautfarben in Europa ein Thema sind.

Natürlich unterscheidet man auch auf Réunion die Cafres, die Nachkommen der Afrikaner von den Zarabes, den hellhäutigen Indern aus dem Norden und den dunkleren aus dem Süden, den Malbars. Man nennt die Nachkommen der armen Europäer P’tit blancs und die Kinder der Reichen Grand blancs, man spricht von den chinesischen yabs und den französischen Z’oreilles. Wessen Herkunft nicht mehr klar erkennbar ist, der gehört zu den Créoles. Wie Isabelle. Und niemand macht eine große Geschichte daraus, dass sie ein bisschen heller ist und trotz ihrer roten Haare richtig braun wird im Sommer. Was Haut, Haare und Augen angeht, ist auf Réunion, der Name bedeutet Versammlung oder Zusammenkunft, alles möglich.

Bis ins 18. Jahrhundert lebte kein Mensch auf der Insel. Dann kamen gleichzeitig Europäer, Asiaten, Afrikaner, die einen als Plantagenbesitzer, die anderen als ihre Sklaven und Bediensteten.

„Es ist nicht so, dass aus der Mischung eine neue Identität entsteht“, widerspricht Isabelle Bruniquet dem Kulturtheoretiker Edouard Glissant, als er im Französischen Kulturzentrum in Berlin zu Gast ist. Glissant hat eine Vision von der „Kreolisierung“ der Welt, die Theorie, dass sich die Kulturen im Zuge der Globalisierung so weit miteinander vermischen, dass die Identität der Menschen nicht länger aus tief verwurzelten Traditionen und Gebietsansprüchen genährt wird, sondern aus dem Geflecht der Begegnungen und Mischungen. Glissant glaubt, dass daraus neue kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten entstehen. Dabei kritisiert er den „Kulturimperialismus“ der Kolonisatoren.
Isabelle sieht die Kolonialmacht Frankreich ambivalent. „Jeder auf Réunion ist froh über das Gesundheits – und Bildungswesen. Ich liebe die französische Kultur. Aber bin ich eine Französin? Nein. Obwohl ich in Berlin fühle, wie französisch ich bin.“

„Nimm dir von allem das Beste“, rät ihr Glissant, doch die rothaarige, weiße Kreolin findet darin keine Antwort. „Das beendet doch nicht diese Quälerei“, sagt sie.

Die Quälerei fing schon in ihrer Kindheit an. Obwohl in ihrem Elternhaus Kreolisch gesprochen wird, verbietet die Mutter Isabelle, draußen, auf der Straße oder in der Schule kreolisch zu sprechen, nicht, weil der Einwanderer-Mix, für den es keine einheitliche Schrift gibt, als offizielle Sprache verboten ist, sondern weil sie sich dafür schämt. „Wer kreolisch spricht, ist ein Depp“, sagt die Mutter. Kreolisch ist nicht die Sprache der Gebildeten. Ende der Siebzigerjahre existiert noch keine kreolische Literatur. Auf kreolisch werden Märchen von Generation zu Generation weiter gegeben. Es ist die Sprache der Sänger und der einfachen Leute, der Arbeiter, der Bauern. Als Isabelle zur Schule geht, publiziert lediglich die kommunistische Zeitung der Insel Artikel auf kreolisch. In den Siebzigerjahren kämpfen einige Intellektuelle dafür, dass die Sprache eine einheitliche Schrift bekommt, die sich möglichst von Französisch unterscheiden sollte. Sie gelten als radikal.

„Es ist meine Sprache“, sagt Isabelle. „Und es waren die Franzosen, die diese Sprache unterdrückt haben.“

Ihre Eltern verstehen bis heute nicht, dass sie sich ernsthaft mit ihrer Muttersprache auseinandersetzt, sie erforscht und sogar an einem Wörterbuch mitgearbeitet hat.

In der Berliner Wohnung von Isabelle stehen Regale voller französischer Literatur, zwischendrin Skulpturen und Instrumente aus Afrika. Sie lernt jetzt afrikanisch trommeln und tanzen. Sie hat sich auf die Suche nach Leuten von Réunion gemacht und tatsächlich einige gefunden. In Berlin sind sie zu dritt, es gibt noch jemanden in Dresden und mehrere im Rheinland. Sie haben den Verein „Reunion der Kulturen“ gegründet, den Verein zur Förderung der Kultur Réunions e.V.

In einer Ecke ihres Zimmers hat sie die Fotos ihrer Familie aufgehängt. Ihr sehr weißer Sohn Lucien neben dem dunklen Großvater. Die indische Urgroßmutter im Kreis ihrer Kinder.

„Auf Réunion“, sagt sie, „lebt man mehr in der Gemeinschaft. Wir lernen von klein auf, die Tabus der anderen zu respektieren. Es gibt jede Religion und eine Menge Aberglauben. Die Kirchen läuten, die Muezine rufen von den Moscheen. Und niemand beschwert sich, wenn er wegen einer religiösen Prozession im Stau steht. Wenn ich früher zu meiner Großmutter gegangen bin, habe ich darauf verzichtet, einen Ledergürtel zu tragen, weil es ihre religiösen Gefühle verletzt hätte. Sie glaubte, dass Kühe heilige Tiere sind.“

Es sieht aus wie ein kleiner Altar für ihre Ahnen, ein Ort der Sehnsucht. Vielleicht brechen Menschen auf und begeben sich an andere Orte, damit ihre Sehnsucht Namen bekommt. Die Namen der verlassenen Orte. Die Namen der Menschen auf den Fotos und den Gräbern.
In den Forts von Senegal, Ghana, Benin und Mosambik, an den Orten, an denen die Gefangenen Afrikas auf Schiffe verladen wurden, endet ihre Identität im Nichts.

Isabelle war erst einmal in Afrika. In Burkina Faso, der Heimat ihres Freundes. „Sie haben mich dort wie eine Einheimische behandelt“, erzählt sie. „Nicht wie eine französische Touristin. Niemand hat versucht, mich übers Ohr zu hauen.“ Sie spricht von der Solidarität der Afrikaner, dem Familiensinn, der ihr näher ist, als die zentrifugalen Ego-Kräfte Europas. Sie denkt, dass sie eher nach Afrika gehört als nach Europa.

Sie möchte dorthin zurück, die sogenannte Sklavenroute abfahren. Sie weiß, dass es unmöglich ist, die Wege der Sklaven nach Réunion nachzuvollziehen, aber sie hat in Erfahrung gebracht, auf welchen Wegen die Bevölkerung verschachert wurde, dass auch Schwarze Schwarze verkauften, die Stärkeren die Schwächeren. Sie hat gehört, dass es eine Route über Südafrika an die Ostküste gab, dass viele der Sklaven auch aus dem Landesinneren kamen, nur weiß keiner, aus welchen Ländern. In Burkina Faso hat sie Leute aus dem Tschad getroffen und Worte aus dem Kreolisch ihrer Heimat aufgespürt, mit derselben Bedeutung. Das ist noch kein Beweis. Es ist nur ein Gefühl, dass ihre Vorfahren möglicherweise von dort…?

„Aber solange ich auch suche“, sagt sie. „Ich werde es nie wissen.“

Botschafter der All-Welt: Interview mit Edouard Glissant

Freitag

FREITAG vom 22. September 2006

Das Miteinander von Ureinwohnern, europäischen Einwanderern und den Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die in seiner Heimat, den Antillen, neue Kulturen und Sprachen entstehen ließen, nimmt der Autor und Kulturtheoretiker Edouard Glissant zum Vorbild, um eine weltweite „Kreolisierung“ zu postulieren. Kreolisierung“ findet überall dort statt, wo verschiedene Kulturen unvermittelt aufeinandertreffen und Verbindungen eingehen.

Glissant fordert die Öffnung für neue Beziehungsformen und Identitäten. Er kritisiert das lineare, analytisch – zentristische Denken des Westens als unzeitgemäß. Nicht mehr die Abgrenzung vom anderen, die tief verwurzelte Herkunft, aus der sich territoriale Besitzansprüche und die Legitimität des Seins ableiten, sollte die Quelle der Identität des Bürgers der neuen „All-Welt“ (tout-monde) sein, sondern das weit verzweigte, komplexe Rhizom, das Wurzelgeflecht, die Verschmelzung mit den Anderen, selbst dann, wenn diese unverstanden bleiben.

Edouard Glissant lebt auf Martinique und in New York, wo er an der City University of New York lehrt.
Auf Deutsch erschien zuletzt die Aufsatzsammlung „Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit“ 2005. Verlag Wunderhorn.

Edouard Glissant war 2006 Gast des Literaturfestivals Berlin. Er hielt die Eröffnungsansprache.

Interview mit Edouard Glissant am 8. September 2006

Herr Glissant, Sie sprechen von Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung, die den konfliktreichen Prozess der Kreolisierung begleiten. Welche Vorposten sind das?

E.G.: In vielen Gebieten Brasiliens und Mexikos, auch in Afrika beobachte ich den Prozess der Kreolisierung. Zum Beispiel vertiefen sich die Beziehungen zwischen Mali, Senegal und der Elfeinküste mehr und mehr.
New Orleans in den USA ist ebenfalls ein Ort der Mischung und Begegnungen.

Was ist mit New York, der Stadt, in der sie zeitweise leben?

E.G.: In New York spricht man von einer multikulturellen Gesellschaft, aber das ist nicht, was ich mit Kreolisierung meine. Die ethnischen Gruppen existieren nebeneinander. Sie vermischen sich nicht. Es gibt eine Straße, die Chinatown von Little Italy trennt, aber niemand überquert diese Straße.
Noch findet in New York keine Kreolisierung statt. Aber ich bin optimistisch.

Paradoxerweise zeigen uns die aktuellen Ereignisse auf der Welt, dass gerade jene Orte, in denen sich Anfänge einer Mischung, einer Kreolisierung, abzeichnen, Angriffsziel der Fanatiker sind. Sarajevo zum Beispiel oder Beirut.

Warum, glauben Sie, ist das so?

E.G.: Es geschieht dort etwas, das die Rassisten nicht steuern können. Normalerweise sind sie es, die Mischung kreieren. Sie sind es, die den Austausch kreieren. Sie legen fest: Ihr lebt dort und wir leben hier. Aber Kreolisierung entzieht sich ihrer Kontrolle.
Also zielen sie auf diese Orte, zerschlagen sie oder vernachlässigen sie wie New Orleans. Auch das ist typisch.
Das man diese Orte auf die ein oder andere Weise attackiert, zeigt, dass dort etwas sehr lebendiges geschieht.

Dann entzieht sich Kreolisierung also jeder Kontrolle. Das heißt, sie taugt auch nicht als politisches Programm?

E.G.: Kreolisierung ist etwas, das man geschehen lassen muss. Dieser Prozess hat keine Moral. Es werden nicht alle nett und freundlich miteinander umgehen, es gibt positive und negative Aspekte, es wird Rückstöße geben und Fortschritte.

Und keine „Leitkultur“ übernimmt die Führung in diesem Prozess?

E.G.: Das sind alte Ideen, dass eine Kultur der anderen überlegen ist, das sind die Ideen vieler Herrscher in Europa, im Westen.
Es mag Kulturen geben, die mehr technische Vorteile haben, mehr technische Kenntnisse, aber keine Kultur ist der anderen überlegen.

In ihrem Buch „Kultur und Identität“ schreiben sie, das die westliche Kultur auf das Eine und die Einheit gerichtet ist. Und sie sagen, das hätte auch mit den geschlossenen Landschaften des mediterranen Raums zu tun, im Gegensatz zu den geöffneten Landschaften der amerikanischen Küsten.
Was können wir Europäer denn tun, da wir nun einmal mit diesem Meer leben müssen, von dem jener Geist der Sammlung und Konzentration auf das Eine ausgeht?

E.G.: So vereinfacht habe ich das nicht gesagt. Was ich sagen wollte, ist, dass die Kultur des Westens aus der Idee des Einen und der Einheit geboren ist, nicht aus der Idee der Vielheit. Es existierte aber eine Kultur der Vielheit rings um das Mittelmeer, bevor die monotheistische Religion dort ihren Anfang nahm.
Infolge der monotheistischen Religion sind die ursprünglichen Ideen der westlichen Kultur die des Einen, des Einzigen, sie verweigern sich der Vielheit und der Menge. Sie verweigern sich der Mischung und Teilung.
Übrigens ist die westliche Kultur mit sich selbst zerstritten. Der Konflikt mit dem Islamismus ist aus meiner Sicht kein Konflikt zwischen Orient und Okzident, sondern ein typisch westliches Problem. Der Islam ist eine der drei monotheistischen Religionen, eine westliche Religion. Ihr habt da ein Problem im eigenen Haus.

Ob es nun das eigene Haus ist oder das der Nachbarn. Die Frage ist doch: Wie sollten wir mit diesem Konflikt umgehen?

E.G.: Diese Frage dürfen Sie nicht nur mir stellen. Man muss alle fragen, auch die Terroristen: Was glaubst du, ändern zu können, wenn du mit einem Flugzeug in ein Hochhaus rast?
Ich weine, wenn ich den Krieg im Libanon sehe, wenn ich sehe, wie da ein junger Mann oder eine junge Frau sterben. Ich weine um sie.
Wir ändern doch mit diesen Kriegen nicht ihr Bild und ihre Vorstellung von der Welt. Wir dürfen unsere Beziehungen nicht länger mit den Kriegen, wie sie im 20. Jahrhundert geführt wurden, klären.

Heute überqueren Menschen unter großen Gefahren das Mittelmeer, um ein besseres Leben führen zu können, aber Europa schickt sie zurück. Schotten sich die Europäer gegen die Kreolisierung ab?

E.G.: Das kann man so nicht sagen.
Der Grund, warum die Menschen Afrika verlassen, ist doch, dass sie nicht mehr von ihren eigenen Ressourcen leben können und das ist so, weil die Ressourcen Afrikas den internationalen Konzernen phantastische Gewinne bringen.
Die Emigration würde sofort aufhören, wenn die Ressourcen Afrikas den Menschen dort zur Verfügung stünden.
Die Klärung dieses Problem muss heute an allererster Stelle stehen.

Zu Ihren Visionen neuer Beziehungs-Formen gehört das Recht des Menschen auf Opazität. Was genau verstehen Sie darunter?

E.G.: Die Transparenz war immer ein kultureller Anspruch des Westens.
Sie waren bestrebt, andere, ihnen fremde Kulturen auf die Transparenz ihrer eigenen Kultur zu reduzieren.
Man sollte aber akzeptieren, mit anderen zu leben, auch wenn man sie nicht immer versteht.
Den anderen auf die eigene Transparenz, auf sein eigenes Modell zu reduzieren, ist eine Form der Barbarei.
Zu akzeptieren, dass man den anderen nicht vollständig versteht, ist eine Form der Zivilisation.

Schafft das nicht große Unsicherheiten im Umgang miteinander?

E.G.: Aber nein, es ist ein Glück, es ist Poesie, den anderen nicht vollständig zu verstehen. Es ist doch langweilig, wenn ich immer sagen kann: Ich verstehe dich und du verstehst mich. Das grenzt doch aus. Es grenzt nämlich alles aus, was ich nicht verstehe. Deshalb sollte das Recht auf Opazität ein grundlegendes Menschenrecht sein.

Ist also die Forderung nach Integration eine Verletzung dieses Rechts?

E.G.: Das hängt von den Konditionen ab, die man verlangt. Ich denke, man kann Teil einer Gemeinschaft sein, ohne die Werte dieser Gemeinschaft zu teilen. Ich glaube, das dies möglich ist.
Ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen machbar ist, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass es möglich ist, miteinander zu leben und unterschiedliche Werte zu haben. Aber das ist eine Hochform der Zivilisation.
Ich weiß nicht, ob die Völker schon in der Lage sind, das zu akzeptieren.

Demnächst gründen Sie in Paris ein Institut der All-Welt (Institut de Tout-Monde). Mit welchem Ziel?

E.G.: Das Institut wird die Notwendigkeit und die Richtigkeit der Idee der Kreolisierung, der Mischung, unterstreichen.
Ein Studienzentrum wird dazu gehören, eine Zeitschrift, ein Theater usw.

Herr Botschafter der All-Welt, ich bedanke mich für dieses Gespräch.