Was, zur Hölle, will der Mann im Puff?

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Illustration: Tine Schulz @ tine.schulz.illustration

Als wir uns wieder im Trespassers treffen, berichte ich meiner Freundin von den deprimierenden Ergebnissen der Bordell-Recherche. Weltweit gibt es keinen einzigen Puff für Frauen mehr, seit der letzte in den USA 2015 geschlossen wurde. In Hamburg bietet ein Etablissement immerhin sexuell stimulierende Performances ausschließlich für Frauen an.

Und nach der Performance? fragt meine Freundin. 

Nichts, sage ich. 

Wie? Nichts!? Wer vögelt sie denn anschließend? 

In diesem Laden vögelt sie jedenfalls keiner. 

Meine Freundin findet das krass. Sie bestellt einen Tequila, obwohl wir uns gerade für eine Flasche Cava rosé entschieden haben. 

Angeblich sind Bordelle für Frauen nicht nachgefragt. Ich halte das für einen Irrtum.

Es ist eine Frage der Macht, sagt meine Freundin, wobei sie dem Wort eine Schwerkraft verleiht, die sie vom Barhocker zu reißen droht. Vorsichtshalber lege ich einen Arm um ihre Schultern. Du meinst, dass es eine Frage der Männer-Macht ist, dass es keine Bordelle für Frauen gibt? 

Prostitution überhaupt, sagt sie. Es geht dabei nicht um Sex. Es geht um Macht.  

Ihr Tequila kommt. Sie streut sich Salz auf den Handrücken, leckt daran und kippt ihn auf Ex runter. Dass ihr das Thema so nahegeht, sorgt mich. Wahrscheinlich kocht in ihr die Geschichte mit ihrem Ex wieder hoch, dem sie auf die Schliche kam, wie er im Netz Frauen zum Fremdgehen recherchierte. 

Du musst dir doch nur mal anschauen, wer in den Puff geht, sagt sie. Männergruppen, die Geschäftsabschlüsse oder sportliche Siege feiern und nicht wissen, wohin mit ihrem Testosteron. Thats it! 

Ich hingegen hatte Umfrageergebnisse gelesen, denen zufolge die meisten Männer im Bordell menschliche Nähe suchen und jemanden zum Reden.

Diese Kerle lügen doch, ruft meine Freundin. Geburtstagsfeiern enden übrigens auch gern im Bordell. Nach dem Besäufnis schmeißt das Geburtstagskind eine Runde Nutten. 

Woher weißt du das alles?

Das weiß man doch, sagt sie und guckt mich an, als käme ich vom Pluto, dem letzten Steinklumpen hinter der Sonne, der inzwischen als Planet abgewickelt wurde, so eine Art DDR des Sonnensystems. Meine Freundin ist im Westen groß geworden. Erklärt das ihren Wissensvorsprung? In der DDR gab es keine Puffs, jedenfalls nicht offiziell. Während sie, vierzehnjährig, kaugummikauend, ihren Beobachtungsposten an der Hausecke gegenüber dem Kleinstadt-Bordell bezogen hat, war ich in Dresden auf Gerüchte angewiesen, die unter der Hand weitergegeben wurden. 

Zu meiner Jugendweihe luden meine Eltern die Familie zum Essen ins Interhotel Newa ein. Am Tisch nebenan saß eine Gruppe Männer. Schweden, sagte mein Vater sprachkundig. Er war zu dieser Zeit bereits ein bisschen rumgekommen in der Welt, weil er Maschinen für Schiffe konstruierte. Als die Schweden zahlten, fragte einer den Kellner auf Englisch, wo sie Ladies treffen könnten. 

Ich weiß nicht mehr, was der Kellner ihnen antwortete, ob er ihnen überhaupt antwortete oder nur einen Zettel mit einer Adresse rüberschob. Ich war vollständig absorbiert von der Frage, wieso die Schweden um diese Zeit Ladies treffen wollten und an wen sie dabei dachten. Ich kannte nur Lady Di. Sie lebte in einem Palast in London. Hatten die Männer etwa in Schloss Moritzburg oder im Pillnitzer Schloss Ladies erwartet? 

Wenig später ging das Gerücht, in einem verfallenen Haus in unserer Nähe befände sich ein Bordell. Das Haus war von Bäumen und Gestrüpp umgeben. Nur hier und dort blitzte ein Stück bröckelnde Fassade durch das Grün. An der Gartenpforte befand sich eine kaputte Laterne, wie sie an den Eingängen von Gasthäusern hängen. Jeden Tag, wenn ich mit dem Bus von der Schule nach Hause fuhr, schaute ich, ob wieder ein Auto in der Einfahrt stand. Ich stellte mir vor, wie der Mann aus dem Wagen das Haus betrat, wie eine ältere, dickliche Dame in die Hände klatschte und die Prostituierten sich auf das Signal nackt in einer Reihe aufstellten.

So hatte ich es in einem der französischen Filme gesehen, die spät abends im DDR-Fernsehen liefen. Seit meiner Jugendweihe durfte ich sie mit anschauen.

Der Mann im Film entscheidet sich für eine sehr große, sehr dünne Frau mit strähnigen Haaren. Seine Wahl beschäftigte mich für den Rest des Films, so dass ich mich nicht mehr auf die Handlung konzentrieren konnte. Sucht er gar nicht Schönheit, sondern Vertrautheit? Oder Bewunderung? Sucht er jemanden zum Reden? Fürchtet er den Stolz der attraktiveren Frauen, die ihm dominant die Spitze ihrer High Heels in den Schenkel bohrten? Was, zur Hölle, will der Mann im Puff? 

Das schlimmste Ergebnis meiner Recherche habe ich meiner Freundin noch nicht erzählt. Ich schenke ihr das nächste Glas Cava ein. Was denkst du, was passiert, wenn Frauen in ein gewöhnliches Bordell gehen? Als Freier sozusagen, einfach nur, um in den Arm genommen zu werden und zu reden. Ist ja nicht völlig abwegig … 

Garantiert zahlt sie für Reden mit Umarmung dreimal so viel wie ein Mann fürs Vögeln, sagt meine Freundin. 

Trifft zu, aber nur für die Bordelle, die Frauen überhaupt empfangen. In den meisten werden sie nämlich abgewiesen. Und weißt du auch, warum? 

Kann ich mir denken. Aber sag schon! 

Darauf kommst du nicht! – Weil sich die Freier von ihrer Anwesenheit gestört fühlen könnten. 

Meine Freundin prustet den Cava aus und rutscht jetzt wirklich vom Hocker. 

Das ist so geil, sagt sie. Weißt du was? Wir gehen Männer stören im Puff. 

Meine Freundin hat immer gute Ideen, aber in der Kombi aus Tequila und Cava läuft sie zur Höchstform auf. 

Ihr Schmerz ist vergessen. Sofort machen wir einen Plan. Wir gehen in den Puff, setzen uns einfach dazu und fragen die Männer, wie sie es so mögen, was sie so mögen und wieso sie eigentlich so arme Würstchen sind, dass sie dafür bezahlen müssen … Meine Freundin krümmt sich. Wir fragen sie, ob sie ihre armen Würstchen mit Viagra oder einem guten Geschäftsabschluss pushen. 

Wenn sie uns rausgeworfen haben, ziehen wir weiter, in den nächsten Puff. 

Sie werden uns jagen. Aber sie kriegen uns nicht. 

Sie wollen wissen, wer wir sind. 

Die Phantominnen der Puffs. Wooo! Wir werden stadtbekannt. 

Wir werden berühmt. 

Wir sind überwältigt von unserer Idee. 

Ich frage meine Freundin, wie es in einem Puff aussieht. Sie sieht mich an, als hätte ich ihr in den Sekt gespuckt. Typisch Westfrau. Tut so, als wäre sie Bordell-Expertin und hat keinen Schimmer, wie es dort überhaupt aussieht. 

Ich erzähle von dem französischen Film, dessen Titel ich allerdings vergessen habe. Ich weiß nicht einmal, wer der Schauspieler war. Es war weder Michel Piccoli noch Jean-Louis Trintignant, auch nicht Delon. Meine Freundin kennt weder Piccoli noch Trintignant. Von Delon hat sie gehört. 

Ich kann es nicht fassen. Sie kennt eigentlich alle und jeden. Hast du nicht ferngesehen? 

Klar, aber doch keine Ostsender. 

Wir beschließen, dass es in einem Puff ein Foyer geben muss mit einem Tresen, und dass in diesem Raum wartende Männer abhängen, die wir belästigen können. 

Wir brauchen genial gute Masken. Inspiriert vom venezianischen Karneval? 

Eine Perücke macht es auch, falsche Wimpern und krasse Schminke, sagt meine Freundin. Aber was ziehen wir an? 

Gute Frage. In meinem Kleiderschrank hängen nur Sachen, die mich auf den ersten Blick als Schriftstellerin entlarven. 

Wir brauchen was Abgefahrenes, sagt meine Freundin. Wir könnten so tun, als seien wir Prostituierte, die sich bewerben, schlägt sie vor. 

Du denkst an Glitzerfummel? Habe ich nicht. Wir könnten uns als Freier verkleiden, ohne zu verstecken, dass wir Frauen sind, verstehst du? Anzug und Krawatte, die Krawatte gainsbourgmäßig, so ein Strick. Du weißt schon. 

Meine Freundin weiß es nicht. Immerhin kennt sie Serge Gainsbourg. Ich zeige ihr das berühmte Foto. Oder so birkinmäßig, mit Kaschmirpulli und Jeans. In diesem Look können wir gut flüchten. Das wäre praktisch. Ich muss plötzlich an die Szene aus dem Film „Das wilde Schaf“ denken, in der Trintignant Jane Birkin im Stundenhotel schlägt, nachdem sie sich ausgezogen hat. Die Szene bereitet mir jedes Mal Schmerzen, aber Birkin verkörpert perfekt Ekel, Scham und Wut. Trintignant ist in diesem Film ein armer Hund, der seinen Schmerz an einer Frau auslässt.

Meine Freundin findet, dass High Heels ein Muss für den Auftritt sind. Wenn wir keine Prügel beziehen wollen, müssen wir aussehen wie Frauen, sagt sie. 

Wir besitzen beide keine High Heels. Meine Freundin googelt Kostümverleihe, Theaterfundi und Läden. 

Wir müssen unsere Rollen klar definieren, sage ich. 

Gott, du klingst wie eine Lehrerin, sagt meine Freundin. Zuerst einmal sind wir gefährlich. 

Provokant, ergänze ich. 

Wir machen sie fertig, sagt meine Freundin.

Wir sollten nicht übertreiben, mahne ich. Denk dran! Männer sind auch Menschen. 

Die Augen meiner Freundin werden zu schmalen Schlitzen. Hast du etwa Mitgefühl mit Typen, die in den Puff gehen? Vergiss nicht! Es ist eine Frage der Macht.

Ich sehe die traurigen Augen von Philippe Noiret, in dem Film, in dem er eine Prostituierte in sein privates Sado-Maso-Studio einlädt. Er will gern brutal sein, aber er ist kein harter Typ. Er schildert der Prostituierten, was er mit den Geräten und ihr machen will, aber er tut es nicht. Einmal fesselt er sie halbherzig, aber die meiste Zeit sitzen sie zwischen all den Instrumenten und reden. Er blickt sie melancholisch an, völlig von ihr gefesselt. 

Als die Flasche Cava leer ist, diskutieren wir noch immer das Kostüm für unseren Auftritt, und als das Trespassers schließt, reden wir auf der Straße weiter. Ich mag keine High Heels und Glitzerfummel, kann meine Freundin aber weder vom Birkin- noch vom Gainsbourg-Look überzeugen. Die Wirkung von Tequila und Cava hat nachgelassen. Im Morgengrauen dämmert uns, dass es eine Schnapsidee war. Wir erklären unsere Intervention im Puff für gescheitert. Wir haben nichts anzuziehen. 

Für meine Facebook-Freunde im April 2022

Neulich las ich eine Eurer Diskussionen, setzte mehrmals zu einer Antwort, einem Beitrag an, doch kam ich nicht weiter. 

Ich habe mich für meine Bitterkeit entschuldigt angesichts dessen, was ich dort von Euch las. In mehreren Beiträgen wurde der Sinn politischen Engagements in Frage gestellt, er bringe ja nichts, interessiere Politiker überhaupt nicht. Was haben die „Kerzlein und Mahnwachen“ damals gebracht, als der Irakkrieg begann, schrieb eine. Er wurde dennoch geführt. Er war grausam. Und er basierte auf einer Lüge. 

Eine andere stellte die Frage, ob wir überhaupt richtig informiert würden, wieso „Gräueltaten verdeckt“ blieben. 

Ich beschwerte mich über die politische Trägheit und das allgemeine Desinteresse in diesem Land. Ich war wütend und ich entschuldigte mich dafür. Das Wort Bitterkeit, das ich in meinem Post gebrauchte, triggerte einige von Euch. Es wurde sehr schnell abgewiesen. Ihr bedauertet mich, wünschtet mir, ich käme da raus. Ich spürte in dieser Diskussion Eure, unsere Hilflosigkeit, Eure, unsere Ohnmacht. Ich spürte Eure eigene Angst davor, bitter zu werden angesichts dessen, was geschieht, angesichts der Desillusionierung aus vergangenen Kämpfen. 

Ich weiß nicht, über welches Ereignis Ihr gesprochen habt an diesem 5. April 2022. 

Seit dem 24. Februar 2022 höre ich kein Radio mehr. Fernsehen gehörte auch davor nicht zu meinen Gewohnheiten. In den ersten Tagen ohne Radio war es plötzlich still in meiner Küche. Aber in mir drinnen war Kriegsgetöse. Diesen Kontrast zwischen dem Lärm drinnen und der Stille draußen konnte ich kaum ertragen. Ich begann, den Podcast polski daily for beginners zu hören, da ich seit zwei Jahren polnisch lerne. In den Interviews erzählen Leute von ihrer Familie, vom Leben mit ihrer Katze, von den Frühstücksgewohnheiten in Italien und Polen und vieles andere Interessante, Spannende. Ich erfuhr etwas über das Leben der Schauspielerin Pola Negri. 

Es ist nicht so, dass ich völlig dicht gemacht habe. Ich informiere mich über den Krieg in der Ukraine in den sozialen Netzwerken, hauptsächlich auf Twitter. Auch auf Facebook finde ich interessante Hintergrundberichte, meist aus linken Quellen. 

In den ersten Tagen des Krieges gab es auf Twitter viele Augenzeugenberichte aus der Ukraine, manchmal mit Filmaufnahmen. Irgendwann hörte das auf, und ich musste neue Quellen finden. Bisher hatten mich lediglich Tweets zum Klimawandel und zu Rassismus und Antisemitismus interessiert. Weil ich entsprechenden Quellen folge, erfuhr ich sofort vom Tod des Holocaustüberlebenden Boris Romantschenko, von der Bombardierung der Gedenkstätte Babyn Jar und eines Holocaustdenkmals in der Nähe von Charkiv. 

Dass ich das Radio nicht einschalte, ist eine Abwehr- und Schutzreaktion. Ich will keine Frontberichte hören. Obwohl ich mir auch auf Twitter schon eine Karte angesehen habe, auf denen die Frontlinien und die Orte, an denen gekämpft wird, eingetragen sind. Eigentlich bekomme ich ohne Radio und Fernsehen eine Menge mit. Es ist eher die Art der Berichterstattung im Radio, vor der ich Angst habe, die in direkter Linie zu den Traumata meiner Kindheit führt. Die emotionslose Stimme der Nachrichtensprecher*innen, wenn sie über die Front und Details des Krieges sprechen. Das ist komplett anders als die ebenso emotionslos vorgetragenen Corona-Todesfälle. Corona war neu und fremd. Corona hatte auch mit Gewalt zu tun, mit unserer Gewalt gegen den Planeten, doch zugleich entstand mit dieser neuen Gefahr eine breite Front der Aufklärung und Vernunft, wie ich sie kaum für möglich gehalten hatte. Es gab keinen Putin, kein abstraktes Waffenarsenal, keinen roten Knopf. Stattdessen erklärte Professor Drosten das Virus, diese Lebensform, die eigentlich keine ist. Etwas zwischen Leben und Tod, gewissermaßen auch eine Waffe. Eine Waffe von Gaia. Es gab Zeiten, da liebte ich das Virus. Als die Straßen leer waren. Als die Maschine tagelang stillstand. Als klar wurde, dass es möglich ist, die Maschine zu stoppen. 

Es gibt keinen Professor Drosten des Krieges, auch wenn der NDR so tut. Drosten hat nicht länger seinen Sendeplatz, den haben jetzt Militärexpert*innen eingenommen. Wären es Friedensforscher*innen, würde ich ihnen zuhören.  

Als ich Kind war, war kein Krieg. Und doch war Krieg. Jedes Flugzeug erinnerte mich an die Bomben, die auf Dresden gefallen waren. Ich hatte es nicht selbst erlebt. Meine Mutter hatte die Bomben und die Toten gesehen als Kind. Ihr Erleben wurde mein Erleben. Ihre Angst wurde meine Angst. Krieg ist das Schlimmste. Mit dieser Überzeugung wuchs ich auf. Ich erwarb sie in der Schule. Ich verinnerlichte sie zu Hause. Meine Mutter schaltete den Fernseher aus, wenn darin Krieg war. Ich durfte keine Filme sehen, in denen Krieg war und/oder geschossen wurde. Da war ich zehn Jahre alt. Vorher hatten wir keinen Fernseher besessen. 

Ich bin zehn Jahre alt, als ich das erste Mal Fotos von Auschwitz sehe. Zufällig. Der Bildband steht in unserem Klassenzimmer, in dem in zwanzig Minuten der Deutschunterricht beginnen wird. Es ist die große Pause vor der letzten Stunde. In diesem Raum steht ein Bücherregal. Ich esse einen Apfel. Es ist warm, einer dieser Frühlingstage, an denen es morgens kalt ist und mittags heiß. Ich trage einen grünen Wollpullover mit kurzen Ärmeln und Cordhosen. Ich erinnere mich an jedes Detail des Moments, als ich dieses Buch aufschlage und die Fotos sehe. Der Moment brennt sich ein wie eine Tätowierung. Dieser Moment ändert alles. Dieser Moment ist stets gegenwärtig.

Von diesem Tag an bin ich besessen davon, herauszufinden, was geschehen war. Bis heute. Bis zu diesem Tag suche ich und forsche. 

Im Radio war immer Krieg. Im Radio und im Fernsehen standen die Kernwaffen in endlosen Reihen aufgereiht. Es war nur die Frage eines Knopfdrucks und alles wäre zu Ende. Mit dieser Zukunftsaussicht wuchs ich heran und zeugte doch ein Kind. Unter Tränen. Als ich schwanger war, wurden weitere Atomsprengköpfe in den Wäldern um Berlin stationiert. Ich weinte viel. Ich fühlte mich schuldig. Ich war sehr jung, als meine Tochter geboren wurde, und sehr depressiv. Ich begann, mich selbst zu zerstören. Denn warum sollte ich das den Bomben überlassen? Ich zerstörte mich und suchte doch nach einem Ausweg. Ich erlebte Irrtümer. Bis zu diesem Tag habe ich überlebt: meine Selbstzerstörung, meine Irrtümer, meine alles verschlingende Traurigkeit. 

Die schlimmsten Bilder meiner Kindheit sind die Fotos von Auschwitz und die Vorstellung von hilflosen, deutschen Familien, die in ihren Kellern darauf warten, dass der Krieg endlich aufhört und nichts vom Holocaust wissen. 

Wenn ich lese, dass Widerstand keinen Sinn macht, dass er die Politiker nicht interessiert, wenn ich die Klage darüber lese, nicht richtig informiert zu werden, dann ploppen meine Bilder dieser deutschen Familien in ihren Kellern auf. Dann wird mein Schmerz getriggert, der Schmerz, deutsch zu sein, der Schmerz, Kind kriegstraumatisierter Kinder zu sein und selbst ein Kind belastet zu haben mit der unendlichen Kette des Krieges und der Angst.

Meine Mutter machte den Fernseher aus. Ich schalte das Radio aus. 

Ich bin nicht bitter. Ich bin eine heillose Optimistin, eine Menschenfreundin, eine Kriegerin. Das bin ich geworden. Ich gebe nicht auf. Ich gehe auf die Straße. Ich wühle nach Antworten, auch im Dreck. 2011 war ich Teil einer weltweiten Bewegung, die so stark war, dass ich glaubte: Jetzt! Jetzt beginnt es! Die Bewegung fiel auseinander, aber lebte in ihren Bruchstücken weiter. Heute weiß ich rückblickend, dass damals tatsächlich etwas begann. Es wird Erzählungen darüber geben. Doch es geschah nicht das, was wir erwartet hatten. Mir wurde klar, dass wir nicht viel erwarten dürfen. Es ist wahr: Du kannst mit „Kerzlein und Mahnwachen“ keinen Krieg verhindern. 

Widerstand verhindert keine Kriege. Wiederstand verändert die Welt langsam, vielleicht zu langsam. Aber ich glaube daran, dass wir Menschen zu Gaia gehören und dass sie uns nicht verlieren möchte. Widerstand ist Würde und Schönheit. Dieser Schönheit fühle ich mich verpflichtet. 

Es geht um die Erzählungen für Deine Kinder. Wie hast Du Dein Leben verbracht? Was hast Du getan? Auf welcher Seite hast Du gestanden? Fühltest Du Dich der Würde und Schönheit verpflichtet? 

Es geht darum, solidarisch verbunden zu sein mit allen, die daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Eine andere Welt ist möglich. Und jeder, der sich die Zeit nimmt, das auf ein Pappschild zu schreiben und es hoch zu halten, jeder, der eine Demonstration mit seinem Namen anmeldet, jeder, der eine Petition in seinem Namen ins Netz stellt, jeder, der irgendwo seine Stimme, seinen Namen erhebt oder mit seinem Körper den öffentlichen Raum besetzt, beweist das. 

Das mindeste, was wir tun können, ist, dass wir Aktivist*innen unterstützen, indem wir einfach da sind, mit ihnen, auf der Straße. Ich wünschte, der Tag hätte die doppelte Länge. Ich wünschte, ich hätte mehr Jahre voller Kraft. Ich muss entscheiden, mit wem ich auf die Straße gehe, wo und in welchem Umfang ich mich engagiere. Meine Zeit ist begrenzt. Irgendwann werden wir als Hologramm gleichzeitig an mehreren Orten anwesend sein können. Aber auch dann werden wir entscheiden müssen, wohin wir diesen einen Körper bewegen.

Podcast

Im Corona-Shutdown telefoniere ich aus dem Homeoffice in meiner Küche mit Künstlerinnen. Achtung! Die Tonqualität ist den Umständen entsprechend schlecht.

Episode 11: Wie geht es dir, Ines?

Ein Telefon-Gespräch mit Ines Doleschal

https://inselgalerie.podigee.io/11-wie-geht-es-dir-ines

Ines Doleschal „Cubic-Cicle #27“ 2020. Acryl auf Papier. Collage.

https://www.inselgalerie-berlin.de

http://www.ines-doleschal.de

Von der Post – Post – Post – in die Moderne und zurück.

Zeitreisen in Dessau. Teil I

ION von Euripides in einer Inszenierung des Provinztheater Kosmos an orakelhaften Orten. Regie: Jens MehrleKarte mit Text

      Theaterplakat von Anja Mikolajetz

 

Ion hat eine goldene Stirn. Seine Gedanken sind edel wie Gold. Sensitiv und weise ist er. Seine Nase, die Wangen und das Kinn sind weiß, sein Mund noch nicht von den Dramen des Lebens gezeichnet. Er ist jung und schön, ein Tempeldiener des Apollon. Ein Gottessohn. Keiner von hier. Die anderen Personen sind mir vertraut: seine schwache Mutter und deren Mann, der nicht Ions Vater ist, es aber gern sein möchte, etwas einfältig in seinem Versuch, alles richtig zu machen. Grau ist sein Gesicht, die Augen liegen in tiefen Höhlen unter der vorspringenden Stirn, auf der senkrechte Falten stehen. Und der böse, alte Mann schließlich, der es schafft, Ions Mutter dazu zu bringen, Ion zu töten, obwohl sein Zorn sich zuerst gegen deren Ehe-Mann richtet, der aus einem fremden Geschlecht stammt, das ursprünglich nicht in Delphi ansässig ist. Er lacht, er grinst, selbstgewiss und selbstherrlich ist dieser Verteidiger seines Landes gegen den Fremden. Weiterlesen

Einsteins Spuk am Strand

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Auf Hiddensee habe ich ein Buch über Quantenphysik durchgeschmökert. 

Zuvor hatte ich im Radio gehört, dass es chinesischen Wissenschaftlern erstmalig gelungen ist, zwei miteinander verschränkte Lichtteilchen so weit voneinander zu trennen, dass eines auf der Erde „stationiert“ sein kann und das andere in einem Satelliten um die Erde kreisen könnte. Abgesehen davon, dass ich gerührt war vom Schicksal der zwei eng miteinander verschränkten und nun so weit voneinander entfernten Teilchen, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken, als ich hörte, dass dieses Pärchen in einer Verbindung steht, als existiere dieser gigantische Raum zwischen ihnen gar nicht. Erhält nämlich eines von ihnen eine Information, ist sie zeitgleich bei dem anderen. Die Entwicklung der chinesischen Wissenschaftler ist deshalb so gefeiert, weil es nun möglich sein wird, völlig abhörsichere Funkverbindungen herzustellen. Ist ja klar. Die beiden kleben so dicht aneinander, dass keine Störung sie jemals stören kann. Aber wie ist das über so eine weite Trennung möglich? Ich meine, Liebende kennen das ja. Sollte es tatsächlich eine wissenschaftliche Erklärung dafür geben?

Ich las „Einsteins Spuk“ von Anton Zeilinger. Er ist einer der Wissenschaftler, denen es zuerst gelang, jene rätselhafte von Einstein entdeckte Verbindung der Photonen im Labor nachzuweisen, und zwar in Wien, unter der Donau. Einstein selbst mochte seine Erkenntnis nicht. Er nannte das Verhalten der Lichtteilchen „spukhaft“.

Durch „Einsteins Spuk“ erfuhr ich noch viel abgefahrenere Dinge. Nicht nur, dass die Zwillings-Photonen schneller als das Licht Informationen hin und her beamen, sie nehmen ihre Eigenschaften NACHWEISLICH erst im Moment ihrer Messung oder Beobachtung an. Diese närrischen Krümel veralbern uns auf Schritt und Tritt, nach dem Motto: Guckt gerade einer? Dann bin ich heute grün! Und morgen rot! Erst, wenn sie angeschaut werden, entscheiden sie sich, wer oder was sie gern sein möchten. Das könnte glatt eine Verschwörungstheorie sein, wenn es nicht inzwischen in zahllosen Versuchen bewiesen worden wäre.

Falls jemand von euch noch glaubt, dass die Welt ganz unabhängig von uns so existiert, wie wir sie beobachten und messen, hängt er einem ziemlich überholten Weltbild an, das Quantenphysiker „lokaler Realismus“ nennen. Folgender Dialog soll zwischen Niels Bohr und Albert Einstein stattgefunden haben: Einstein: „Wollen Sie etwa behaupten, der Mond existiere nicht, wenn niemand hinschaut?“ Bohr: „Können Sie das Gegenteil beweisen?“
Nein. Niemand, nicht einmal Einstein konnte bisher beweisen, dass die Welt unabhängig von unserer Beobachtung überhaupt existiert. Auch wenn wir eine Kamera hinstellen, die den Mond filmt, während wir gar nicht durch den Sucher schauen, haben wir das Gerät doch gemäß unserer Wahrnehmung eingestellt und programmiert.

Ich lief am Strand entlang und dachte darüber nach. Kein Ort ist besser geeignet, sich Fragen über Raum und Zeit zu stellen, denn unter der Größe des Meeresrauschens schrumpft die Zeit. Der Grund, warum unser Weltbild nicht längst revolutioniert wurde, ist, dass die Entdeckungen der Quantenphysik mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Zu Kopernikus Zeiten war das anders. Er lieferte ein neues Weltbild. Das alte war abgelöst.

Ich stelle mir vor, wir leben in einem Bild, in einer Art verdichteten Wirklichkeit, die alle unsere Sinne anspricht. Gleichzeitig erschaffen wir gemeinsam dieses Bild, in dem das stattfindet, was wir Leben nennen. Es gab immer Menschen, die wussten, dass die Wirklichkeit eine Folge unserer Gedanken ist. Viele von ihnen wurden verbrannt. Vielleicht sind sie alle noch da. Wenn die Zeit nicht existiert? Oder nur in diesem kleinen Bildausschnitt, den wir die Welt und das Leben nennen? Jemand sagte einmal, ich könne mich an meine Ahnen anlehnen. Sie seien alle für mich da. Ich sollte mir ihre lange Reihe vorstellen, die Großmütter hinter meiner linken Körperseite, die Großväter hinter der rechten. Ich stellte mir diese lange Reihe vor, wie wenn du zwischen zwei Spiegeln stehst und dich selbst unendliche Male siehst. Vielleicht sind wir miteinander verschränkt. Vielleicht verändern sie sich alle in dem Moment, in dem ich mich verändere. Jede Information, die ich aufnehme, ist zeitgleich bei ihnen. Und umgekehrt vielleicht auch.

Was sind Raum und Zeit?