

Großmutter Lieselotte mit ihrem Hund Cora
Es gibt wieder Schlagsahne, Opis Magen streikt, Apollo 13 in Gefahr, Wäsche im Nu trocken – Kathrin Schrader sieht in den knappen Kalendernotizen ihrer Großmutter, wie man offenbar das Wesentliche aus dem Wust der Zeit herausfiltern kann. Das will heute nicht mehr gelingen.
Nach dem Tod meiner Großmutter entdeckte ich ihre Tagebücher.
Sie befanden sich in der Vitrine mit den festlichen Gläsern, aber im unteren Schrankteil, neben den Vasen. Es sind kleine Kalender mit Kunststoffeinbänden in verschiedenen Farben, die meisten aus dem einzigen christlichen Verlag der DDR, der älteste von 1953. Da war Großmutter 42 Jahre alt. Ich schlug die Bücher auf, blätterte in ihrem Leben vor und zurück. In knappen Notizen hat sie Ereignisse festgehalten, die ihr wichtig waren: Dienstag, 11. Januar 1966: Großeinkäufe für die Geburtstagskinder. Es gibt seit gestern wieder Schlagsahne. Kalter Ostwind -6.
Politische Ereignisse erwähnt sie seltener, aber die großen, auch im Rückblick bedeutenden wie Mauerbau und Mauerfall, der Mord an Kennedy, der Krieg gegen den Irak im Jahr 1991 und noch einige andere Kriege hat sie festgehalten. Kriege belasteten sie. Sie wusste, was Krieg bedeutet: Montag, 5. Juni 1967: Krieg zwischen Israel und Ägypten furchtbar! Wenn sie Ereignisse bewertet, dann knapp: Donnerstag, 10. Februar 1966: Radio sendet keinen Rias mehr. So eine Pleite! Montag, 29.Juli 1968: heiß, wegen CSSR Westreisen abgesagt. / 20. August 1968: Opis Magen streikt. Lustlos geht er mit in der Stadt herum. CSSR-Krise.
Kinofilme, Theaterstücke und Konzerte kommentiert sie mit maximal zwei Adjektiven. Die Entwicklung von uns drei Kindern, ihrer Enkel, beschreibt sie in Stichpunkten.
Großmutter wäre die perfekte Twitterin. 280 Zeichen – mehr brauchte sie nicht, mit Ausnahme der Raumfahrt, die sie regelrecht ins Schwärmen versetzte: Sonnabend, 3. Januar 1959: Am 2. Januar sowjetische Mondrakete gestartet, sie kreist, nachdem sie am Mond vorbei geflogen ist, um die Sonne. / Sonntag, 22.Dezember 1968: Fahrt um den Mond: 3 Mann. Die Sensation!/ Sonntag, 20.Juli 1969: Die ersten Menschen, Amerikaner, auf dem Mond gelandet! Dienstag, 14.April 1970: Apollo 13 in Gefahr, Manöver klappt nicht, Hoffentlich kommen die Astronauten wieder lebend zurück./ Freitag, 17.April 1970: +20°, Wäsche draußen getrocknet, Konzert, Astronauten kommen gut trotz allem wieder zurück.
Das Leben meiner Großmutter erscheint mir so klein wie diese schmale Nische im Haus, in der die Vitrine steht. In der schnörkeligen Sütterlin-Schrift, die sich Ecken erlaubt, wird der Spruch von Goethe, den sie ihrem Jahr 1965 voranstellt, zu einem Bild: Wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?
Ich kann über ihre Worte nicht hinweg scrollen. Ich sehe Großmutter, wie sie nachts an ihrem Sekretär sitzt und schreibt. Ich sehe sie abends auf ihrem Bett sitzen und in einem Buch blättern, auf der Suche nach dem Goethe-Zitat, das sie noch aufschreiben will. Die Nachrichten über die Raumfahrer haben sie beschäftigt. Sie würde selbst gern mal zum Mond reisen. Sie hat ein kapriziöses Abenteurerinnen-Herz, das sie vor der Welt versteckt. Aber dann liest sie die Worte von Goethe und findet, dass sie gut und richtig sind. Sie ist der glückliche Mensch, der sich inmitten von Monden und Planeten, Sternen und Milchstraßen, Kometen und Nebelflecken seines Daseins erfreut. Großmutter besaß die Größe, sich selbst in der richtigen Dimension wahrzunehmen. Als blicke sie wie eine Raumfahrerin aus dem All hinab auf die Erde und diesen winzigen Punkt, der ihr Leben ist. Sie nahm sich nicht wichtig. Deshalb machte sie wenig Worte. Weiterlesen →