Liebeskummer

Illustration © Tine Schulz @tine.schulz.illustration

Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King Kong

Jetzt hat es mich erwischt. Risikobegegnung. Ein Gespräch, länger als 15 Minuten, und dann diese beunruhigende Nähe. Immer noch, nach so vielen Jahren. 

Ich bin ins Trespassers geflüchtet. Vor mir steht der zweite Gin Tonic und meine Freundin ist immer noch nicht da. Diesmal muss sie mir zuhören. Ich werde sie nicht mit Schwärmereien langweilen und all diesen hilflosen Waswärewenns, die seit drei Wochen in meinem Kopf Karussell fahren. Ich muss mit ihr das Phänomen Liebeskummer diskutieren. Liebeskummer! Was für eine hässliche Verallgemeinerung für einen Schmerz, der jedes Mal neu und jedes Mal anders ist und deshalb von niemandem geteilt werden kann. Er gehört mir allein. Ich hatte mich fast schon danach gesehnt, die lebendige Melancholie wieder einmal zu spüren, diese schöne Traurigkeit, wie wenn du nach einem Abend mit Freunden allein und halb verlassen das schmutzige Geschirr in die Küche trägst, am nächsten Morgen, nachdem sie wieder abgereist sind. Halb verlassen, weil sie ja noch zu deiner Welt gehören. Sie kommen wieder. Und bis dahin wird es Chats und Telefonate geben. 

Aber das hier ist der pure Schmerz der völligen Verlassenheit für immer. So schlimm war es noch nie. Das war definitiv meine letzte Chance. Seit Jahren sind wir uns zufällig wieder über den Weg gelaufen. Einmal hatte ich ihn von weiten gesehen, auch das ist schon länger her. Er war mit seinen Kindern. Das jüngste wiegte er in beiden Armen wie die Madonna ihr Neugeborenes, aber seins war kein Baby mehr, sondern ein Kind, das genauso gut an seiner Hand hätte laufen können, in seinen Gummistiefeln. Sein Gesicht war ein bisschen verzerrt von der Anstrengung. Überhaupt hatte er sich verändert, das ist normal. Doch jetzt war er wieder derselbe Typ wie damals und ich sofort wieder verliebt. Jetzt weiß ich, dass auch er einmal in mich verliebt war. Wir waren beide zu schüchtern, es uns zu sagen. Nun haben wir uns eine Minimalaffäre gegönnt, das musste sein nach diesem Geständnis. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Es ist vorbei. Geblieben ist der Schmerz. Wieso lässt er sich nicht abschalten, wenn wir doch in der Lage sind, eine Beziehung schlagartig zu beenden? Wenn wir so von unserer Vernunft gesteuert sind, warum beherrschen wir dann nicht unsere Emotionen? 

Es ist ein absurder, sinnloser Schmerz. Er kommt zu spät. Alles ist hoffnungslos. 

Wir wurden darüber aufgeklärt, dass Gefühle gut und richtig sind. Wir haben gelernt, unsere Wut zu umarmen. Wir wissen, dass Angst davor schützt, lebensgefährlichen Aktivitäten nachzugehen. Trauer ist gesellschaftlich anerkannt. Wenn einer gestorben ist, kümmert sich die ganze Welt um die Witwe. Sie bekommt Geschenke und überall eine Krankschreibung. Sie wird eingeladen und getröstet. Aber wenn du nach Jahren durch Zufall darauf gestoßen wirst, dass du die Liebe deines Lebens verkackt hast, dann wirst du nur schief angegrinst und taugst allenfalls noch als abschreckendes Beispiel für die Nachwelt. Sie war zu schüchtern! Hahaha! Sieh sie dir an! Willst du so enden? Dann hör auf, schüchtern zu sein! Hab keine Angst dich zu blamieren! Sonst kommt die Blamage, wenn es längst zu spät ist! Wenn nichts mehr zu retten ist, treibt dich der Kummer, die peinlichsten Dinge zu tun.

Ja, du blödes Schicksal, ich hab´s kapiert. Und wo, bitte schön, ist nun der Schalter?

Noch einen Gin Tonic bitte! Evolutionär betrachtet, macht Liebeskummer erst Recht keinen Sinn. Er hindert Menschen im zeugungs- und gebärfähigen Alter wochenlang daran, sich fortzupflanzen. Liebeskummer! Was für eine maßlose Untertreibung! Kummer. Kümmerlich. Verkümmert. Nein. Dieser Schmerz ist riesig. Er ist King-Kong. Und plötzlich, während meine Freundin mich in der Kälte warten lässt und ich im Phon das dämliche Wort eingebe, um eine Erklärung zu finden für das, was mir gerade widerfährt, schreitet der Riesenaffe über den Platz auf mich zu und ich kapiere schlagartig. Wir sind von Wesen umgeben, die sich von unserem Liebeskummer ernähren. Sie sind unsichtbar. Aliens. Oder winzig wie Viren. Liebeskummer, lese ich, veraltet: Herzeleid, bezeichnet umgangssprachlich die emotionale Reaktion auf unerfüllte oder verlorene Liebe. Im Volksmund spricht man von Gebrochenem Herzen. Nach der ersten Phase des Nicht-wahr-haben-wollens, in der der oder die Verlassene oft versucht, den verlorenen Partner zurückzugewinnen, stellt sich eine Trauerphase ein, die von Monaten bis zu Jahren dauern kann. Ich kann jedes Wort bestätigen. Es dauert bis zu J A H R E N. Wie aberwitzig! Und dann -haltet euch fest- nach Monaten, vielleicht Jahren, beginnt Phase drei, in der das Leben wieder beginnt, Spaß zu machen und wir das Geschehen verarbeiten. Nach Jahren also fällt dir auf, dass der Typ, dem du nachgetrauert hast, der dich in sexuelle Inaktivität getrieben hat, als hättest du ein Gelübde abgelegt, nicht Gott war, sondern ein narzisstischer Holzkopf. Das ergibt doch keinen Sinn! 

Meine Freundin kommt. Sie wickelt sich eine Decke um die Hüften, zündet sich einen Glimmstängel an und lässt sich neben mir auf die Bank fallen. Hast du jemals darüber nachgedacht, wieso immer mehr Singles in den Großstädten leben, frage ich sie. So sichern die Liebeskummer-Aliens sich ihr Futter. Sie manipulieren uns. Sie sind überall. Sie haben das Internet besetzt. Ist doch logisch! Denk nach! Nur so können sie uns permanent in neue Beziehungen drängen, die wir bald darauf kummervoll beenden müssen. 

Meine Worte dampfen stoßweise in die Winternacht. Meine Freundin kichert und fragt, was ich getrunken habe. Sie bestellt Kamillentee. Hast du dich entgegen aller guten Vorsätze doch wieder im Netz auf die Suche begeben? 

Ich war auf der Straße, zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich rede auch gar nicht von mir, ich meine generell. Liebeskummer passt nicht in eine Welt, in der alles irgendeinem Zweck dient. 

Geht vorbei, sagt sie. 

Wie ich das hasse, wenn jemand sagt: Geht vorbei! Ja klar, auch das Leben geht vorbei. Alles ist irgendwann vorbei. 

Sie sagt: Wird Zeit, dass wir mal wieder tanzen gehen! 

Tanzen gehen! Ha! Ein Lösungsweg, der bis auf unabsehbare Zeit verbarrikadiert ist. Danke!

Bleib entspannt, sagt meine Freundin und sieht mich an, als wolle ich ihr den Liebeskummer-King-Kong auf den Hals hetzen. Du solltest mal in den Süden fliegen. Du hast doch am Ende des Winters immer irgendwas: Depressionen, Schwächeanfälle, Spuren von Wahnsinn…

Ich ärgere mich über sie und stelle mir vor, in den Süden zu fahren. Was wäre denn anders, wenn ich mich am Meeresstrand entlang schleppen würde oder durch die Straßen einer fremden Stadt? Alles nähme ich mit, meine Sehnsucht und den Schmerz. Mein Herz würde vor Einsamkeit und Angst hart pochen. 

Und doch mache ich es. Ich reise in den Süden, laufe allein am leeren Strand entlang, vorbei an einer Ferienstadt, deren Fenster mit Läden verrammelt sind, wie mein Glück verrammelt ist. Ein Ort, so verlassen wie mein Herz. 

Eine Stunde hinter der Stadt schieben Felsen ihre spitzen Scharten in den Sand. Es ist kühl, aber heller als bei uns im Norden. Das Licht ist warm. Die Felsen leuchten rötlich. Ich möchte diese Bilder mit jemanden teilen. Nicht mit irgendwem. Ich möchte sie einem Menschen schicken, der begierig darauf ist, von mir zu hören. Diesen Menschen gibt es nicht. Ich denke darüber nach, hinter dem nächsten Felsvorsprung für immer aus der Welt zu verschwinden. Würde mich jemand vermissen? Würde jemand länger als zwei Wochen um mich trauern? Ich habe eine Tochter, aber sie ist erwachsen und lebt längst ihr eigenes Leben. Welche Erinnerungen an mich würde sie behalten? Würde ich meinen Freundinnen im Trespassers fehlen? Bin ich wirklich eine gute Zuhörerin? Ich setze mich auf einen Stein und blicke über das Meer, das in kleinen Wellen gegen den Sand gluckst und ebenso rötlich schimmert wie die Felsen. 

Ich sollte anfangen, mich darum zu kümmern, am Ende von jemandem vermisst zu werden. Ich sollte meine Freunde häufiger anrufen, mich mehr für sie interessieren. Ich wühle das Telefon aus der Tasche und schreibe meinen Freundinnen aus dem Trespassers, wie sehr ich sie vermisse. Meiner Tochter beschreibe ich das rötliche Licht im Süden und den Unterschied zwischen diesem Meer und der Ostsee, wo wir mal zusammen Ferien gemacht haben. Es wird eine lange Nachricht. Ich schreibe, dass ich sie gern wieder einmal zum Essen einladen und mit ihr reden würde, über ihr Leben. Ich schreibe, dass ich ihre Sommersprossen küsse und ihr Haar streichele. Ich schreibe, dass ich immer an sie denke, besonders, wenn ich etwas Schönes erlebe. Meiner Dienstags-Freundin schicke ich zusätzlich Dankeschön-Herzen für den Rat, mal wieder in den Süden zu fahren.

Mir fällt auf, dass ich grinse, während ich das alles tippe, dass ich meinen Körper in die Worte lege. Wie eine Pianistin sich über die Klavier-Tasten körperlich in ihre Musik begibt, gehe ich mit meinen Nachrichten in das kleine Phon. Ich atme sehr tief, als ich das bemerke. Ich mache eine Pause und lausche dem Meer und dann geschieht etwas Seltsames: Eine Welle von Glück flutet mich. Mein Herz pocht nicht mehr. Es pulsiert. Ich laufe zurück und kaufe in dem einzigen Kiosk, der am Rand der verlassenen Ferienstadt eine Flagge gehisst hat, Ansichtskarten. Sie sind wellig und klamm von der Winternässe in diesem Bungalow, der heute wahrscheinlich das erste Mal nach dem Winter wieder geöffnet ist. Ich schäme mich nicht für mein schlechtes Französisch, als ich sie kaufe und dazu einen kleinen, schwarzen Kaffee bestelle, wie ihn die Einheimischen hier trinken. Ich bin die einzige Fremde. Eben dachte ich noch, dass es typisch für mich ist, in der falschen Saison umher zu irren. Aber jetzt denke ich, wie toll es ist, die einzige Urlauberin in dem einzigen geöffneten Haus dieser Stadt zu sein. So, als wäre dieser einzige Tag herausgeschnitten aus der Zeit, als schwebten der Kiosk und wir losgelöst über dem Meer. Der frische Wind hat alles Davor und alles Drumherum unter uns weg gepustet, ins Landesinnere, über das hinweg ich später nach Hause fliegen werde. 

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