Unterm Regenbogen

Berliner Zeitung

Diese Anzeige stand im Sommer in der taz:

ARNO

war fast 28 Jahre lang

in der Fahrradwerkstatt, im Wohnhaus, im Café und in der Baugruppe bei und mit uns. 

Jetzt ist er für immer von uns gegangen und wird doch für immer bei uns bleiben. 

Auf Dich, Arno…

Deine FreundInnen und KollegInnen aus der Regenbogenfabrik. 

Achims Sticker vom 1. FC Kaiserslautern sind so vergilbt wie die Fotos an der Wand. Ein Foto zeigt Arno. Er ist jung darauf. Arno trägt das glatte, lange Haar in der Mitte gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Sein Gesicht ist schmal, die Augen sind hell. Wasserblau. Achim trägt auch einen Zopf, doch sein Haar ist störrisch und grau. Er sieht ein bisschen aus wie Hagrid, der Halbriese aus Hogwart. Massig, bärtig. Seine Stimme ist brummig, ein Typ, dem man sofort ein weiches Herz unterstellt. Man glaubt, Tränen in seinen braunen Augen zu sehen, wenn er von Arno spricht. Achim Sand ist 53 Jahre alt. Sein Freund Arno Hoffmann starb in diesem Jahr mit 55 Jahren.

Auf einem anderen Bild an Achims Wand bereitet Arno Rahmschnitzel mit Lauchgemüse. Der Lauch war extra für Achim. „Arno glaubte, dass ich Lauch mag“, sagt Achim. „Bis ich mir nach vielen Rahmschnitzeln mit Lauchgemüse ein Herz fasste und Arno die Wahrheit sagte: Ich verabscheue Lauch. Arno brach vor Lachen fast zusammen.“

Arno und Achim arbeiteten zusammen in der Baugruppe der Kreuzberger Regenbogenfabrik. Die Regenbogenfabrik ist eines der alternativen, sozialen Projekte, die in den achtziger Jahren in Kreuzberg entstanden. Es gibt heute auf dem Gelände eine Kita, ein Kino, Seminarräume, einen Fahrradverleih mit Werkstatt, Tischlerei, Kantine, Café, eine Kuchenbäckerei. Und ein Hostel. Bis auf einen kleinen Senatszuschuss zum Betrieb der Kita und einigen Beschäftigungsmaßnahmen vom Jobcenter trägt sich das Projekt selbst.

Achim zeigt ein Foto, auf dem Arno einen Bagger steuert. „Das war 2007, da haben wir die alte Remise für den Neubau des Hostels ausgemistet“, erklärt Achim. Die Bäume werfen Schatten in das Zimmer im Seitenflügel der Kreuzberger Regenbogenfabrik, in dem Achim wohnt. Die frisch verputzte Wand des Hostels auf der anderen Seite des Hofes reflektiert das Sonnenlicht. „Diese Wand haben wir noch zusammen hochgezogen, vor zwei Jahren“, sagt Achim. Er nennt Arno den Filigranen, weil er auf dem Bau immer dort eingesetzt wurde, wo es auf Genauigkeit ankam.

Arno und Achim sind in Zweibrücken in der Pfalz aufgewachsen. Sie besuchten die gleiche Schule. Achim wurde Autoschlosser, Arno Dreher. Nach der Ausbildung schraubten sie am Fließband der gleichen Firma Türen für Wohnwagen zusammen. Arno ging zum Bund. Achim flüchtete nach Berlin, als der Einberufungsbefehl im Briefkasten lag.

Achim beobachtete damals die Besetzung der heruntergekommenen, leer stehenden Chemiefabrik Albert Carl in der Lausitzer Straße in Kreuzberg. Das war 1981. Die Besetzter nannten sie dann Regenbogenfabrik. Achim arbeitete in einer Fahrradwerkstatt im Kiez. Aus Solidarität mit den Besetzern verlegten sie ihre Werkstatt auf das Gelände der Regenbogenfabrik.

Arno lebte damals noch in der Pfalz, er besuchte seinen Freund gelegentlich in Berlin. Bei einem der Besuche verliebte sich Arno in ein Mädchen, wenig später zog er zu ihr nach Berlin. In der Regenbogen-Fahrradwerkstatt gab es ausreichend Arbeit für ihn. Arno fing dort an. Später ging er mit Achim in die Baugruppe.

Einmal hatte Arno seine Bleibe in der Regenbogenfabrik verlassen. Er zog zu einer Frau, die er kennengelernt hatte, in eine Wohnung im Wedding, mit Schrankwand, Kanarienvögeln und Nachtspeicheröfen. Gemeinsam zogen sie die neunjährige Tochter von Arnos Lebensgefährtin auf. Arno brauchte Geld. Er gab seinen Job in der Regenbogenfabrik auf und fing bei einer Baufirma an.

Die Freundschaft zwischen Arno und Achim blieb. Achim kam regelmäßig zum Fußballgucken vorbei. Arnos Frau erkrankte an Krebs, er pflegte sie in ihrem Elternhaus bis zu ihrem Tode. Achim schaute regelmäßig nach dem Freund. Arno kümmerte sich nach dem Tod der Mutter weiter um die Tochter, er bereitete Rahmschnitzel für sie, beriet sie in Beziehungsfragen, sorgte für die Französisch-Nachhilfe und bezahlte ihre Ausbildung. Er hielt die Nachtspeicheröfen am Heizen, bis das Mädchen sich verabschiedete und zu seinem Freund nach Hamburg zog. Arno zog, das war 1996, zurück in die Regenbogenfabrik und arbeitete weiter mit Achim in der Baugruppe.

An einem Tag im Mai 2007 kippte Arno auf der Baustelle um. Achim fuhr mit seinem Freund ins Krankenhaus. Stundenlang wartete er, bis Arno mit den Röntgenaufnahmen unter dem Arm von den Untersuchungen zurückkam. „Ich habe einen Tumor im Kopf, die Ärzte sagen, ich kann noch zwei Jahre damit leben, hat Arno nur gesagt“, erinnert sich Achim. Achim nahm ihn einfach in die Arme. Sie hatten nie viele Worte gemacht.

Arno hat dann nicht mehr gearbeitet, aber er blieb in der Regenbogenfabrik. „Wir glaubten, Arno wäre die Ausnahme, der eine von hundert, der durchkommt“, sagt Achim. Arno kam nicht durch. Als es zu Ende ging, zog er zurück in die Pfalz. Zwei Jahre nach der Krebsdiagnose ist er in seinem Elternhaus in Zweibrücken gestorben.

Im Café der Rgenbogenfabrik haben sich an diesem Sommertag Freunde von Arno versammelt. Es ist ein Raum mit groben Dielen, auf denen schwere, nackte Eichentische stehenm, er ähnelt eher einer Kneipe und es wird hier wohl auch mehr Bier als Kaffee getrunken. Marion ist gekommen, Arnos erste Freundin in Berlin. Ihr trotziger Blick und die kurzen, dunklen Haare erinnern noch an das Mädchen auf einem der Fotos an Achims Wand. Auch Uta Doro ist da, die letzte Lebensgefährtin von Arno, eine kleine Frau Mitte Fünfzig mit hoch angesetzten, dunklen Zöpfen und einer runden Brille, die hier alle nur „Citrone“ nennen. Mit ein paar Mitgliedern von Arnos Baugruppe sitzen sie um den großen runden Tisch. Tabakpäckchen und Papier liegen bereit, das Fenster ist weit geöffnet.

Es wird an diesem Abend in der Regenbogenfabrik viel geraucht und viel Bier getrunken. Geschichten machen die Runde, von früher, als Arno noch gesund war. Lustige Geschichten aus einer vergangenen Zeit. „Eines Nachts, als Arno und Achim wieder mal kein Ende fanden im Café, hab ich Arno einfach eingeladen, bei mir zu schlafen“, gibt Citrone zum besten. „Ich hab ihn einkassiert. Man musste ihn vor Tatsachen stellen, sonst passierte ja nichts. Einen Monat später wurde Arno krank.“

Arnos Freunde am Tisch erzählen von gemeinsamen Ausflügen an die Nordsee und in den Spreewald, von gemeinsamen Fußballabenden und Grillfesten. Die meisten Erinnerungen an Arno haben mit viel Bier zu tun.

„Wir waren doch jeden Abend auf der Piste“, sagt Marion. Sie erzählt von ihren Streifzügen durch die Kreuzberger Kneipen, von Rausschmissen und Beschimpfungen durch die „Spießer“. Das war in den Achtzigerjahren ihre Revolution.

Ein älteres Mitglied der Baugruppe erzählt von Arnos Motivationskünsten. „Los Achim, noch ’ne Stunde, hat er oft auf der Baustelle seinem Freund zugeredet. Danach gehen wir ins Café. Das half.“ Die Tischrunde lacht, Achim knackt das vierte Bier. „Achim und Arno kamen nach den langen Nächten hier im Café ständig zu spät“, erinnert sich der Anleiter der Baugruppe, ein Sozialpädagoge. „Man konnte sich den Mund fusslig reden.“

Citrone ist in den letzten zwei Jahren an Arnos Seite geblieben. Achim hatte sich noch mit Arno in seiner Heimatstadt verabredet, aber es war dann zu spät. Zu Arnos Beerdigung in der Pfalz sind sie alle gefahren. Achim hat da schon nicht mehr in der Baugruppe gearbeitet. Er sagt, er habe gesundheitliche Probleme bekommen. Seitdem ist er arbeitslos.

Das zerrissene Netz

Berliner Zeitung

Das ist die Geschichte zu einer Annonce, die ich in der Zweiten Hand fand: Imbissverkäuferin, Frau 47 z. Zt. im offenen Vollzug, sucht Job als Imbissverkäuferin Erfahrung Schicht kein Problem nur Festeinstellung.

Nach der Anhörung ruft sie ihre Tochter an. Sie sagt, dass es ein guter Richter war, dass nur drei Prozent aller Strafgefangenen in Berlin die Hälfte der Haft erlassen bekommen. Sie sagt: „Ich hab dich lieb“, und küsst ins Telefon. Ihre Tochter ist sechsundzwanzig Jahre alt. Ihre fünf Kinder sind alle erwachsen. Sie werden zusammen feiern. Sie werden reden, essen und Spiele machen, wie zu Weihnachten und den Geburtstagen.

Sie haben viel durchgemacht, die Kinder und sie. Das schweißt zusammen. Jetzt hat sie auch einen Lebensgefährten, der sie respektiert. Die Familie ist ihr Netz. Sabine Lemke steht im Garten der Haftanstalt Ollenhauer Straße. Sie blickt hinauf in den klaren Himmel. Sie ist frei, aber sie fühlt sich erschöpft.

Es gab Situationen, da trug das Familien-Netz nicht, Momente, in denen sie niemanden anrufen konnte. Für diesen Fall haben gut ausgerüstete Menschen noch ein Reserve-Netz im Kopf. Sie nicht. Sie sackt dann in sich zusammen, stürzt ab, kann nicht weiter blicken als bis zur Glut ihrer Zigarette, die großen, blauen Augen tief unter den Brauen versunken. Ihre mütterliche Stimme, das „Ich hab dich lieb“, und ihr Humor – weg. Man erkennt sie kaum wieder.

So war es während der Haftzeit, als sie ihren Job im Call-Center verloren hatte, nicht mehr raus durfte und den ganzen Tag in ihrer Zelle hockte und die Angst wuchs, das mit der vorzeitigen Entlassung könne nichts werden. Sie mochte das Call-Center nicht besonders. Den ganzen Tag Lotto-Scheine verkaufen, an die dreihundert Anrufe pro Tag. Egal. Hauptsache raus. Abends mit ihrem Freund kochen, auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Erst um Mitternacht musste sie wieder rein. Manchmal hat die Pförtnerin sie aufgefordert, ins Röhrchen zu pusten, weil sie nach Knoblauch roch und weil Häftlinge, die nach Knoblauch riechen, Alkohol vertuschen wollen. Menschen mit Reserve-Netz halten so eine Verdächtigung aus. Aber sie stürzte ins Bodenlose. So tief beleidigte sie der Verdacht, getrunken zu haben, ausgerechnet sie, die sich mustergültig an alle Regeln hielt. Die sowieso nicht hierher gehörte.

Ein eigenes Restaurant hat sie führen wollen, nachdem sie viele Jahre in der Gastronomie gearbeitet hatte. Das war 2005. Sie fand ein günstiges Angebot zur Miete. Nachdem der Mietvertrag unterschrieben und sie das Restaurant eröffnet hatte, stellte eine Hygiene-Kommission fest, dass in der Küche eine Zugbelüftungsanlage fehlte. Eine neue hätte vierzehntausend Euro gekostet, Geld, das sie nicht hatte. Ohne war sie gezwungen, die Küche zu schließen. Sie ließ sich vom Vermieter überreden, nicht zu kündigen. Ein laufendes Restaurant ließe sich besser vermieten als ein geschlossenes, argumentierte er. Aber ohne Küche lief nichts. Die Mietschulden wuchsen. Eigentlich wäre der Vermieter verpflichtet gewesen, die Anlage zu bezahlen, denn sie hatte ja ein Restaurant mit funktionstüchtiger Küche gemietet. Als ihre Schulden  verhandelt wurden, war es zu spät, diesen Anspruch geltend zu machen. Wegen Mietschulden kommt niemand ins Gefängnis. Aber Sabine Lemke war auf Bewährung vorbestraft.

Es ist nach der einjährigen Haft der erste Tag draußen und er fühlt sich für Sabine Lemke noch seltsam an, als sie die leere Wohnung ihres Freundes betritt. „Man muss sich erst wieder daran gewöhnen“, sagt sie. Sie ist nervös, von einer Unrast, die nicht in diesen schweren Körper passt. Zwanzig Kilo hat sie in einem Jahr zugenommen. Sie will sich den Magen verkleinern lassen, die Knast-Pfunde verlieren. Es ist das erste, das sie sich für draußen vorgenommen hat.

Mit der Vorstrafe, das ist eine längere Geschichte. Angefangen hatte die Sache, sagt Sabine Lemke, als ihre kleine Tochter plötzlich nicht mehr essen wollte und ihr Sohn fragte, warum er denn immer zu Papa ins Bett müsse. Als ein Kinderpsychologe ihre Vermutung bestätigte, dass ihr zweiter Mann die Kinder aus ihrer ersten Ehe missbrauchte, packte Sabine Lemke die wichtigsten Sachen in eine Tasche, nahm ihre Kinder und floh. „Die erste Wohnung war ein Loch, aber meine Kinder waren so glücklich. Die sind richtig aufgeblüht“, erzählt sie.

Ihr Mann fand heraus, wo sie sich mit den Kindern aufhielt, stellte ihnen nach. Sie flüchtete weiter. In die nächste Wohnung. Stammgäste der Kneipe, in der sie arbeitete, transportierten die notwendigsten Dinge. Die Möbel ließ sie zurück, bestellte in der nächsten Wohnung neue. So ging das immer weiter. Mehrmals zog sie um, ließ die Möbel zurück, bestellte neue. Bezahlt hat sie nie. Drei Versandhäuser verklagten sie auf Betrug.

Damals ermunterte sie eine Bewährungshelferin, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, auch die Dinge aus ihrer Kindheit.
Die  Sache mit dem Vater zum Beispiel. Sabine Lemke nennt ihn nur ihren „Erzeuger“. Er hatte versucht, Sabines Mutter mit einem Beil zu töten. Da war Sabine acht Jahre alt.

Sie wuchs dann mit einem Stiefvater auf. Am Abend des 7. Januar 1976, es war 21 Uhr, schickte er die Fünfzehnjährige ins Bett und sagte, er werde noch mit der Mutter ausgehen. „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit bis zu diesem Abend zurückdrehen“, sagt Sabine Lemke. „Ich wäre nicht ins Bett gegangen. Ich wäre ihnen nachgeschlichen. Ich hätte meine Mutter gerettet.“

Die Mutter wurde auf den S-Bahn-Gleisen zwischen Oberspree und Schöneweide von einem Zug erfasst und getötet. Wie ein Kaninchen habe sie auf den Gleisen gehockt, berichtete der Fahrer des Zuges nach dem Vorfall. Sabine Lemke ist überzeugt davon, dass ihr Stiefvater die Mutter auf die S-Bahn-Gleise getrieben hat. Aber er gilt als Unfall.

Sabine lief von zu Hause fort. Sie versteckte sich tage- und wochenlang bei Freunden. Sie ging nicht mehr zur Schule. Als sie das erste Mal schwanger wurde, da war sie 16, nahm die Großmutter sie auf.

Als dann der Vater aus dem Gefängnis kam, war sie achtzehn. Sie empfing ihn in der Wohnung, die sie mit für ihn eingerichtet hatte. Er versuchte, sie zu vergewaltigen.

In dem Lebensbericht, den ihr die Bewährungshelferin empfohlen hatte, schrieb sie die Namen einiger Personen nicht aus, setzte sie lediglich in Initialen. Namen aus ihrer Kindheit, die sie nie mehr nennen wollte. Die Namen ihrer Geschwister hat sie in voller Länge geschrieben. Sie erzählt von Uwe, der sich mit achtzehn Jahren umgebracht hat und in seinem Abschiedsbrief darum bat, neben der Mutter beerdigt zu werden. Sie erzählt von Andrea, Achim und Frank. Durch Adoption und Kinderheim waren sie voneinander getrennt worden, als die Mutter lange Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Sabine Lemke hat nach allen gesucht und sie wieder gefunden. Im letzten Sommer war Frank bei ihr aufgetaucht. Nach 39 Jahren. Wie ein Zeichen, dass nun alles gut wird, jetzt, da sie wieder eine vollständige Familie sind.

Sabine Lemke tritt auf den Balkon und nimmt eine selbstgerollte Zigarette aus dem Kästchen, in der sie den Vorrat aufbewahrt. „Diese Frau hat gemacht, dass man im Kopf wieder klar kam“, sagt sie über die Bewährungshelferin. Ihren Namen weiß sie noch: Frau Dorschjäger. „Wäre sie damals bei der Verhandlung über die Mitschulden da gewesen, ich wäre nicht ins Gefängnis gekommen.“

Aber sie sei nicht unglücklich. Sie vergleiche sich nicht mit anderen, die es leichter hatten. Sicher, wenn die Sache mit ihrer Mutter nicht passiert wäre, hätte sie die Schule beendet, eine Ausbildung gemacht wie die anderen. Sie sei ja eine sehr gute Schülerin gewesen. Ihr Klassenlehrer habe sie adoptieren wollen, sagt sie, aber sie habe die Nase voll gehabt von Stiefvätern. Ihre eigene Familie habe sie gründen wollen.

Sabine Lemke drückt die Zigarette aus, bleibt noch draußen auf dem Balkon, im Lärm der Stadt. Sie ist jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Sie möchte einen Kiosk führen, mit Stammkunden, die ihre Geschichten erzählen, während sie ihren Kaffee trinken. Ein Kioskbesitzer aus Neukölln hat sich auf ihre Annonce gemeldet. Sie muss ihn anrufen.

Der Amateur

Berliner Zeitung

Dies ist die Geschichte zu einer Annonce, die ich in Zitty fand: Amateurdarsteller/innen gesucht für Poesiekunstfilme. Keine Gage, interessante Mitarbeit und Spass. Harald

Zur Filmvorführung in die Z-Bar sind einige junge Frauen und zwei ältere Männer gekommen. Die jungen Frauen haben in dem Film mitgespielt. Die Männer sind langjährige Beobachter der Filmprojekte des 74jährigen Künstlers Harald Budde. Sie verpassen keine seiner Aufführungen.

Harald Budde trägt eine karierte Schirmmütze, die er den ganzen Abend nicht absetzen wird. Darunter fließt sein gutmütiges Gesicht auseinander. Er raucht eine Zigarre. Der Künstler und sein Publikum haben sich um den hintersten Tisch der Bar versammelt. Budde behält die Eingangstür im Auge. Ein paar Minuten möchte er noch warten. Drei Stunden wird sein neuester Film dauern. Das ist die übliche Länge. Eine Pause ist nach dem zweiten Rollenwechsel vorgesehen. In keiner Zeitung, auch nicht auf der Website der Z-Bar, wird das Ereignis angekündigt. Das ist Teil von Buddes Konzept. Er hält ein Streichholz unter seine erloschenen Zigarre. Die Spitze blakt. Er saugt. Rauchwölkchen steigen ihm ins Gesicht. Als das Zündholz abgebrannt ist, geht auch die Zigarre wieder aus. „Tolstoi hat gesagt: Wenn man mit seiner Kunst auch nur eine Person tief berührt, hat man alles erreicht.“

Harald Budde ist Amateur. Als junger Mann begann er mit der Kamera zu experimentieren. Er schrieb Drehbücher und Dramen und fiel früh durch seine Begabung auf. Doch Zeit seines Lebens hat er jegliche Professionalisierung seiner Kunst vermieden. Er wird nicht müde, Universitäten und Akademien als Verstümmelungs-Anstalten der Individualität und Originalität anzuprangern. Die Frauen, mit denen er arbeitet, und von denen seine Filme handeln, kennt er seit vielen Jahren. Es sind Frauen, wie man sie täglich auf der Straße sieht, Frauen, deren Schönheit ins Auge fällt und andere, deren Schönheit sich erst aufschließt, wenn man sie wie in Buddes Filmen, lange betrachten darf. Sie tanzen. Sie zerpflücken Blüten. Sie schwenken Zimmerlampen vorm Balkon. Sie sitzen auf einem Sofa.

Es kommen immer neue Frauen dazu. Budde braucht Nachschub. Jeden Monat produziert er drei Stunden Film. Konsequent. Eigentlich suche er händeringend auch Männer, obwohl ihm die Arbeit mit Männern schwerer falle, weil Männer nicht einfach so spielen könnten wie Frauen. Immer versuchten sie, etwas darzustellen, aber darum ginge es in seinen Filmen eben nicht.

Doch es melden sich eh wieder nur Frauen auf seine Annonce, unternehmungslustige, neugierige Frauen und Frauen wie Lucile, die spielen möchten, so oft sich die Gelegenheit ergibt. Die dreiundzwanzigjährige Lucile kommt aus Aix-en-Provence und lebt jetzt seit anderthalb Jahren in Berlin. Den Bachelor für Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und französische Philologie hat sie in der Tasche.

Schon in Aix-en-Provence hat sie neben dem Studium am städtischen Theater gespielt. Die Theaterprojekte haben sie so in Anspruch genommen, dass sie das Studium am liebsten abgebrochen hätte, aber die Eltern waren dagegen. Sie hat es eingesehen. Es ist wichtig, wenigstens einen Abschluss in der Tasche zu haben, findet sie. Nun ist ihr klar geworden, dass das Spielen das Wichtigste in ihrem Leben ist. Jetzt ist es fast zu spät. An der Universität der Künste sagte man ihr, dass sie für die Ausbildung schon zu alt sei.

Lucile wärmt ihre Hände an einem Teeglas. Sie trägt große, silberne Ohrringe, so leicht, dass sie sich immer wieder in dem schulterlangen Haar verheddern. Heute Abend sieht sie das erste Mal einen Film von Budde.

Nach dem Film ist ihr klar, dass sie unbedingt mit ihm drehen möchte. Sie schwärmt von der Poesie dieser Bilder, dem anderen, behutsamen Blick auf die Frauen.  Wenige Tage später besucht sie den Filmemacher.

Harald Budde lebt mit seinen Puppen Mirabelle und Jasmin2 in einer winzigen Wohnung am Görlitzer Park. Auf dem Arbeitstisch am Fenster stapeln sich die Päckchen der Super-8-Filme neben einem Projektor, dessen Monitor nicht größer als eine Lese-Lupe ist. Damit sichtet Budde das Material und schneidet. Regale und Tische sind überfüllt mit grauen Filmrollen und Plastiktüten, in denen er die Filme nach Darstellerinnen sortiert hat. In der Mitte des Raumes häufen sich Dinge, die er irgendwo fand und ihrer Poesie wegen mit nach Hause nahm. Seine große Liebe, Jasmin2, die Puppe mit dem hängenden Augenlid, die in jedem seiner Filme mitspielt, rettete er aus einem Müllcontainer. Schon als kleiner Junge hat er mit Puppen gespielt, die Puppen auch mit in die Schule genommen. Damals in der Nazizeit fand das keiner niedlich.

Budde führt Lucile durch sein Atelier. Er zeigt es gern. Er findet, dass es die Radikalität seines Lebens unterstreicht. Was immer er tat, er tat es niemals des Geldes wegen. Jahrelang lebte er von Arbeitslosengeld, nun von einer kleinen Rente. Er holt die Kamera aus dem Küchenschrank, setzt die karierte Mütze auf und beginnt sofort im Treppenhaus  zu drehen. Lucile ist nicht darauf vorbereitet. Eigentlich ist ihr ein Anfang, auf den man sich wie im Theater vorbereiten kann, lieber.

In den Filmen von Harald Budde wird nicht gesprochen. Lucile kann einfach spielen. Sie treten auf die breite, belebte Straße. Lucile hat sich während der Filmvorführung in der Z-Bar gefragt, was Budde wohl für Regieanweisungen gibt. Gar keine. Sein Konzept sieht absolut authentische Filme vor. Er sagt nur: „Tu, was du willst. Spiele.“ Lucile, die bereits Hauptrollen im Theater hatte, steht auf der Straße zwischen all den Leuten und weiß nicht, wie man das macht: Spielen. „Tanze“, schlägt Budde vor. Lucile versucht zu tanzen. „Ich habe nicht die richtigen Schuhe an“, sagt sie. Sie findet Schuhe sehr wichtig für einen Schauspieler. „Er wechselt die Schuhe, bevor er die Bühne betritt. Das ist für ihn eine wichtige Handlung.“ Budde zieht einen roten Schleier aus seiner Anoraktasche, doch das ist Lucile zu konventionell. Schließlich entdeckt sie auf der anderen Straßenseite eine Mauer mit Graffiti.

Lucile tanzt vor der Wand mit den Graffitis. Sie fühlt sich plötzlich ganz leicht. Sie spielt. Sie nimmt die Passanten wahr, die vorüber gehen, aber sie stören sie nicht. Die Befangenheit ist vorüber. Sie berührt die Wand, schmiegt sich daran. Sie spielt wie als Kind in der Provence, als sie jeden Nachmittag etwas Neues erschuf, ein Theater aus einem Schuhkarton, Marionetten, und sie ihrem Zimmer jede Woche neue Namen gab, es immer wieder neu gestaltete und die Mutter manchmal genervt davon war.

Harald Budde ist von der letzten Szene begeistert. Trotzdem: Lucile entspricht nicht ganz seinem Anspruch. Sie ist keine Amateurin mehr. „Es ist schwierig mit ihr“, sagt er nach den Dreharbeiten. „Man merkt, dass sie in einer Theatergruppe spielt. Wahrscheinlich ist sie schon an Regieanweisungen gewöhnt.“

Wie ist es für ihn, mit so vielen attraktiven Frauen zusammen zu arbeiten, sie in Situationen zu führen, in denen sie sich preisgeben? „Ich bin froh, beim Drehen in einer Distanz zu sein, ich bin sehr misstrauisch. Ich habe viel erlebt. Die meisten Frauen, mit denen ich arbeite, sind Borderlinerinnen.“ Woher er das wisse? „Ich spüre das.“

Außerdem seien seine Puppen Mirabelle und Jasmin2 sehr eifersüchtig. Jedes Mal, wenn er von einem Dreh nach Hause kommt, sagt er deshalb: Keine Gefahr. Nur einmal sei Gefahr im Verzug gewesen. Das habe er seinen Puppen auch gestanden.

Am 6. und 30. April, jeweils um 21:00 Uhr läuft sein neuester Film „Romantica Nostalgica oder: Warten auf Cocteau“ in der Z-Bar. Darin wird auch Lucile zu sehen sein.

Afonsos Spur

Berliner Zeitung

Ein junger Mann verschwindet nach einer Clubnacht in Friedrichshain

Die Nacht, in der Afonso Tiago zum letzten Mal gesehen wurde, war kalt, die Spree trug Eis. Es war gegen 3.40 Uhr. Afonso verabschiedete sich von seinem Freund Ivo. Ivo wollte zum Geldautomaten am Ostbahnhof. Afonso nach Hause, in die Forsterstraße in Kreuzberg, auf die andere Seite des Flusses.

Ivo do Carmo ist Portugiese wie Afonso Tiago. Er glaubt, dass Afonso vom Ostbahnhof aus über die Schillingbrücke nach Kreuzberg gelaufen ist. Er lehnt am Geländer der Brücke. Graue Maskenmütze, dunkler Bart, langer Mantel, eine Krawatte über dem Baumwollhemd – er sieht aus wie eine Vorlage für Robert Capas Spanienkämpferporträts. Ein winziges Kreuz zittert an seinem linken Ohr. Afonso sei zu Fuß gegangen, sagt Ivo, da er kein Bargeld dabei hatte.

Der Fluss schwappt träge in Richtung Alexanderplatz. Auf der Kreuzberger Seite führen Stufen hinab zum Wasser. Man braucht nur über die hüfthohe Absperrung klettern.

Die Polizei vermutet, dass Afonso den Heimweg über die Spree abkürzen wollte, auf das Eis gegangen und eingebrochen ist. „Das passt nicht zu Afonso“, sagt Ivo. „Er war kein Abenteurer. Er ist nicht einmal nachts allein durch den Görlitzer Park gelaufen. Er war ein vorsichtiger Mensch, sehr praktisch und direkt, ein Ingenieur eben.“

Afonso und Ivo waren mit zwei Freunden in der „Kantine“, einem Club am Ostbahnhof. Später beschlossen sie, noch ins „Berghain“ rüber zu gehen. Ivo habe Geld gebraucht und sei deshalb zum Ostbahnhof gelaufen. Afonso habe nach Hause gewollt. Er sei absolut sicher, dass ihnen keiner gefolgt sei, sagt Ivo.

Wenn er heute an die Ereignisse dieser Nacht denkt, fällt ihm auf, dass Afonso weniger getrunken hat als es seine Gewohnheit war. Er habe sich lediglich zu drei Bier überreden lassen. „Ich kann nicht sagen, ob er traurig war oder nicht. Afonso war sehr reserviert. Man sah ihm nicht an, was er fühlte.“ Die Polizei hat nach seinen Kontakten aus dem „Berghain“ geforscht. Ivo erinnert sich an eine Frau, die Afonso mal hier getroffen hat. Die Frau war blond. Mehr weiß er nicht über sie, die Polizei hat keine Spur gefunden.

Ivo und Afonso hatten sich im Sommer in einer Bar kennengelernt, kurz nachdem Afonso mit einem Stipendium für ein Praktikum bei „Active Space Technology“, einer wissenschaftlichen Dienstleisterfirma, nach Berlin gekommen war.

„Als ich hörte, dass er verschwunden ist, vermutete ich zuerst eine Frauengeschichte“, erzählt Ivo. „Dann dachte ich, er wäre nach Portugal abgehauen. Ich wusste, dass ihm die Trennung von seiner Freundin schwer gefallen war. Nach dem Praktikum wurde ihm bei seiner Praktikumsfirma eine feste Stelle angeboten. Er hat sich zwar riesig auf eine Zukunft in Berlin gefreut, aber Berlin bedeutete auch die Trennung von seiner Freundin. Sie konnte nicht aus Lissabon weg.“

Die Erinnerungen an den Freund lassen Ivo keine Ruhe. Es gibt so viele weiße Flecken. Ivo merkt, dass er zu wenig weiß. Die Suche nach Afonso wird zur Suche nach einem Menschen, den er kaum kannte.

Die Tür zur Firma „Active Space Technology“ geht von einem gesichtslosen Korridor in einem grauen Neubau in der Wissenschaftsstadt Adlershof ab. Acht Ingenieure und Physiker in Afonsos Alter sitzen in zwei engen Büros vor ihren Computern.

„Ich dachte sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, ein Unfall“, sagt Ricardo Nadalini, der Geschäftsführer. Er mag zehn Jahre älter sein als seine Mitarbeiter. Er sieht müde aus. Ein Ende seines Oberlippenbartes druselt auseinander. Die Wasserflaschen auf seinem Schreibtisch sind zerknautscht. „Er hat sich immer sofort gemeldet. Er war zuverlässig. Als seine Eltern hier anriefen, haben wir sofort in allen Krankenhäusern der Stadt nachgefragt.“

Der Arbeitsplatz von Afonso ist nicht mehr vorhanden, denn an jenem Montag, an dem er nicht erschien, wurden die Tische auseinander geschraubt und neu sortiert. „Wir räumen häufig um“, erklärt Ricardo Nadalini. „Praktikanten kommen und gehen.“ Afonso sei an der Entwicklung von Instrumenten beteiligt gewesen, die später in Sonden zur Erforschung von Mars und Merkur eingesetzt werden sollten. Dass er wegen seines Insiderwissens entführt wurde, hält Nadalini für ausgeschlossen. „Hier gibt es kein Geheimnis.“

Afonso sei ein normaler Mensch gewesen. Er habe das geliebt, was alle jungen Leute an Berlin lieben: Die Clubs und Bars, die Diskotheken. Ansonsten weiß der Chef nichts über sein Privatleben. „Ich sehe Afonso oft“, sagt er noch. „Das sind kurze Momente, mitten am Tag. Er sieht mich an, wenn er draußen steht und raucht. Immer sind es Blicke, an die ich mich plötzlich erinnere.“

Catarina Tiago, die Schwester von Afonso, ist sofort nach seinem Verschwinden von Lissabon nach Berlin geflogen. Ihr Lebensgefährte Nono Gonzaga begleitet sie. Sie leben bei Nonos Cousin in einer Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg. Die Zimmerwände sind in mediterranen Farben gespachtelt. In einem kleinen Raum steht ein Eichentisch aus einem alten deutschen Wohnzimmer. Catarina sitzt reglos, wie eingeklemmt zwischen Tisch und Stuhl. Nur ihre Finger bewegen sich. Sie dreht eine Zigarette.

Seit zwanzig Tagen ist ihr Bruder bereits verschwunden. Noch immer fehlt jede Spur. „Es ist schwer, sich vorzustellen, wie das Leben danach sein wird“, sagt sie. Und es ist nicht ganz klar, was sie mit ‚danach‘ meint. Die Suche oder das Finden oder die Zeit nach Berlin, wenn sie nach Lissabon zurückkehren und ihre Tierarztpraxis weiter führen wird. Ihre Stimme klingt müde. Ihr langes Haar liegt in schweren Streifen auf den Schultern. Der Rhythmus von Wachen und Schlafen, von Hunger, Durst, Essen und Trinken ist dem Rhythmus von Trauer und Hoffnung gewichen.

Wenn ein Mensch stirbt, kann man einen Ort aufsuchen, an dem er ruht. Das ist ein Trost. So merkwürdig es klingt. Wenn ein Mensch verschwindet, gibt es keinen Ort der Ruhe. Als Untoter bleibt er unter denen, die ihn lieben, überlässt sie dem Handel mit dem Tod und dem Handel mit dem Leben. Sie drucken und kleben Plakate. Sie pflastern die Stadt mit den Porträts von Afonso. Die Plakate werden immer mehr und immer größer. Freunde und Bekannte kommen und helfen. Sie streifen nächtelang durch die Finsternis und kleben. „Sehen Sie, er lacht auf jedem Bild.“ Ein sozialer Mensch sei er, jemand, der verantwortlich mit allen umgehe.

Er habe noch nie ein solches Engagement von einer Familie erlebt, sagt Hans-Joachim Blume, Kriminaldirektor der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes. Zwei- bis dreitausend Erwachsene verschwinden jedes Jahr in Berlin. Beinahe alle werden wieder gefunden. „Wir schauen uns jetzt in Portugal um“, sagt er. „Wir möchten wissen, wen er zuletzt von seinem portugiesischen Handy aus angerufen hat.“ Dass Afonso verreist ist, hält die Polizei für ausgeschlossen. Auf seinem Konto bewegt sich nichts.

Es gäbe eine Besonderheit, sagt Blume. Beide Telefone, das portugiesische und das deutsche Handy, seien zur genau gleichen Zeit vom Netz gegangen, in unmittelbarer Nähe des Ostbahnhofes.

Doch keiner der Passanten, die zwischen den Partybezirken Kreuzberg und Friedrichshain pendelten, keiner der Taxifahrer, habe in dieser Nacht einen Unfall oder ein Verbrechen beobachtet. Keinen Schrei. Keinen Aufprall im Wasser. Nicht das Bersten von Eis. In der Nähe der Schillingbrücke haben die Taucher nichts gefunden. Im Winter seien die Strömungsverhältnisse unklar, so dass man nicht wisse, wo in den vielen Gewässern Berlins man eine nächste Tauchaktion unternehmen könne. „Wir müssen das Frühjahr abwarten“, sagt Hans-Joachim Blume.

Lillys Klavier

Berliner Zeitung

Ein Mädchen aus Schöneberg hat wenig Geld, aber gute Ideen

Wenn Lilly und ihr Bruder Robin morgens aus dem Haus treten, rollen die Blumenverkäuferinnen nebenan die Rosenbüsche und Palmen hinaus auf den Bürgersteig und die Buchhändlerin sucht wie jeden Tag vergeblich einen Parkplatz vor ihrem Geschäft. Lilly und Robin wohnen am Bayerischen Platz in Schöneberg.

Die meisten halten die beiden für Zwillinge. Robin ist nicht einmal ein Jahr älter als Lilly. Sie haben dasselbe blonde Haar, in dem einige Strähnen dunkler und andere heller sind. Und sie haben die gleichen karamellbraunen Augen. Am Nachmittag gehen die Geschwister entweder töpfern oder zum Judo oder in die Musikschule. Robin lernt Schlagzeug, Lilly Klavier spielen.

Eines Tages sagt die Lehrerin, Lilly brauche jetzt ein richtiges Klavier zum Üben. Das Keyboard reiche nicht mehr aus. Am Bayerischen Platz in Schöneberg gehören Klaviere ebenso selbstverständlich in den Alltag neunjähriger Mädchen wie Blumen und Bücher in die Wohnzimmer der Eltern. Doch Lillys Mutter hat gerade keine Arbeit. Das Geld ist knapp.

Lilly möchte deswegen mit keinem Mädchen am Bayerischen Platz tauschen. Sie ist viel zu sehr Abenteurerin, als dass sie sich wünschte, das Geld für ein Klavier einfach von der Sparkasse holen zu können. Ein neues Klavier zu kaufen, wenn man gerade kein Geld hat, das ist eine Herausforderung ganz nach ihrem Geschmack.

Als die Sommerferien zu Ende gehen, macht Lilly sich an die Arbeit. Sie wirft das lange, blonde Haar in den Rücken und zeichnet eine Annonce, die sie am nächsten Tag in verschiedenen Läden und in der Musikschule an die schwarzen Bretter pinnt. Am Abend bäckt sie mit ihrer Mutter einen Pflaumenkuchen und viele Muffins.

Ein Verkaufsstand ist bald gefunden: Das leere Gestell des verlassenen Lebensmittelladens, auf dem noch vor kurzem die Stiegen für Tomaten, Zwiebeln und Salate standen. Lilly und Robin breiten ein Tuch darüber, malen Noten darauf und stellen ihre Ware dorthin. Auf dem Bürgersteig platzieren sie einen bunt bemalten Schuhkarton mit einem breiten Schlitz im Deckel. „Wir sparen für ein Klavier“, steht auf dem Karton. „Selbst gebackene Kuchen“, ruft Lilly den Passanten zu. „Mit frisch geernteten Pflaumen aus dem Oderbruch.“

Einige Leute halten vor dem Stand inne, nicken, lächeln und gehen weiter. Ein älterer Herr läuft mit gesenktem Kopf vorüber. Seine Nase hängt wie ein dicker Tropfen aus dem Gesicht. Plötzlich bleibt er stehen und kommt zurück. Er hebt nur kurz den Kopf und lächelt die Kinder an. Dann steckt er zehn Euro in den Schuhkarton. Seine Hände zittern leicht. Kuchen möchte er nicht nehmen. Er hat gerade keinen Appetit. Später kommen andere Schöneberger, die gern Muffins und Pflaumenkuchen kaufen.

Nach zwei Tagen verliert Robin die Lust an dem Job für seine Schwester. Lilly möchte weitermachen. Die Marktfrau ist für sie nur eine weitere lustige Rolle des Lebens. Lilly zählt das Geld. Achtzig Euro haben sie an zwei Nachmittagen verdient.

Als erstes meldet sich eine ältere Frau auf Lillys Annonce. Sie sagt, sie habe ein Klavier zu verschenken. Doch als Lilly und ihre Mutter zur verabredeten Zeit bei ihr klingeln, öffnet niemand die Tür.

Die Mutter ersteigert ein Klavier auf Ebay. Es wird mit einem zerbrochenen Bein geliefert. Nachts hören sie die Holzwürmer darin kratzen. Lillys Mutter muss einen Anwalt nehmen, um das Klavier wieder los zu werden und ihr Geld zurück zu bekommen.

Im Oktober geschieht etwas Merkwürdiges. Die Dame ein Stockwerk tiefer hat gehört, dass Lilly ein Klavier sucht. „Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird“, sagt sie. „Es ist schon sehr alt.“ Lilly trippelt ungeduldig hinter ihr ins Wohnzimmer. Wegen der schweren Tüllgardinen ist es dämmrig darin, doch der rötlichbraune Deckel des Klaviers und die gedrechselten Beine glänzen wie frisch poliert. „Ich habe mir immer ein altes gewünscht“, sagt Lilly und hält ihre Hände fest, damit sie das Klavier nicht aus Versehen streichelt. Sie ist nicht sicher, ob man ein Klavier, das einem noch nicht gehört, unter den Augen der Besitzerin einfach streicheln darf. Die Nachbarin schlägt den Deckel auf und nimmt das schwarze, blumenbestickte Filztuch von den Tasten. Hier und dort sind sie schon etwas vergilbt. Im Deckel ist der Name des Herstellers in Intarsien eingelegt: Julius Machalet Berlin.

„Darf ich?“ Lilly trippelt.
„Natürlich, probiere es aus.“ Die Nachbarin zieht den Hocker darunter hervor. Lilly rutscht auf dem Hocker hin und her. Dann spielt sie eines ihrer Lieblingsstücke, den ukrainischen Tanz, den sie ganz zu Beginn des Klavierunterrichts gelernt hat.

Sechshundert Euro möchte die Nachbarin für das Klavier haben. Ihre Tochter habe einst darauf gelernt, doch die sei schon lange ausgezogen. Vorher, erzählt die alte Dame, habe das Klavier bei einer Familie im dritten Stock gestanden.

Lilly mag nicht rechnen, wie viel Kuchen sie noch verkaufen müsste, um das Klavier bezahlen zu können. Sie rechnet nicht gern und traut ihren Ergebnissen nicht.

Zum Glück zahlt Oma den Rest. Oma, die von Beruf Sängerin war und mit Opa und einer berühmten Big Band durch die DDR tourte. Nach Opas Tod ist Oma zu ihnen an den Bayerischen Platz gezogen, in eine sehr kleine Wohnung. Sie sagt, sie brauche jetzt nicht mehr so viel Platz. Außerdem habe sie ja noch das Grundstück im Oderbruch. Da fahren Lilly, Robin und ihre Mutter jedes zweite Wochenende hin. Sie toben durch die Wiesen und reiten und musizieren zusammen.

Lillys Mutter ist auch Sängerin. Außerdem spielt sie Gitarre und Singende Säge. Aber das ist nicht ihr Beruf. Sie hat gelernt, Hüte und Kleider und Taschen zu entwerfen und zu nähen. Das Kleid, das Lilly zum Vorspielen in der Musikschule zu Beginn der Sommerferien trug, hat die Mutter genäht. Dazu bekam Lilly neue Schuhe, schwarze Ballerinas, etwas zu groß, aber sie haben Sohlen hinein gelegt. Schließlich sollen die Schuhe im nächsten Jahr noch passen.

Obwohl die Mutter viele Kleider, Hüte und Taschen entwirft und näht, hat sie noch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Gleich nach dem Studium half sie in der Arztpraxis ihres Mannes mit. Doch seit sich die Eltern von Lilly und Robin getrennt haben, möchte die Mutter nie mehr in einer Arztpraxis arbeiten. Jetzt lernt sie einen neuen Beruf. Sie wird Eventmanagerin, weil ihr das Organisieren von Festen und Konzerten fast so viel Spaß macht wie das Entwerfen und Nähen von Hüten, Kleidern und Taschen.

Betritt man das alte Haus am Bayerischen Platz, durchquert man einen marmornen Flur mit blank gewienerten Spiegeln und läuft eine gewundene Treppe hinauf. In Lillys Wohnung sieht es aus wie bei Leuten, die am liebsten musizieren, töpfern, schneidern und basteln. Gegenüber dem riesigen Spiegel im Flur stehen ein bunt bemalter Marterpfahl und eine schwarze Kleiderpuppe, die einen Hut mit einem Schleier und einen breiten Gürtel trägt.

An einem Vormittag im November wird das alte Klavier hinauf getragen.

„Wo ist es? Wo ist es?“ Lilly wirft die Schultasche neben den Marterpfahl und stürzt in das Nähzimmer ihrer Mutter. Das Klavier steht an der Wand mit den Familienfotos. Lilly umarmt es zur Begrüßung. Ihre ausgebreiteten Arme reichen nicht ganz über alle Oktaven. Lilly schlägt den Deckel auf. Sie nimmt das blumenbestickte Tuch von den Tasten und beginnt zu spielen. Sie spielt den letzten Satz des 109. Menuetts von Mozart, den sie nicht so gut leiden kann, weil er so schwierig ist. An derselben Stelle wie immer beißt sie die Zähne zusammen und schneidet eine Grimasse. Macht nichts. Das war schon richtig so.