Lillys Klavier

Berliner Zeitung

Ein Mädchen aus Schöneberg hat wenig Geld, aber gute Ideen

Wenn Lilly und ihr Bruder Robin morgens aus dem Haus treten, rollen die Blumenverkäuferinnen nebenan die Rosenbüsche und Palmen hinaus auf den Bürgersteig und die Buchhändlerin sucht wie jeden Tag vergeblich einen Parkplatz vor ihrem Geschäft. Lilly und Robin wohnen am Bayerischen Platz in Schöneberg.

Die meisten halten die beiden für Zwillinge. Robin ist nicht einmal ein Jahr älter als Lilly. Sie haben dasselbe blonde Haar, in dem einige Strähnen dunkler und andere heller sind. Und sie haben die gleichen karamellbraunen Augen. Am Nachmittag gehen die Geschwister entweder töpfern oder zum Judo oder in die Musikschule. Robin lernt Schlagzeug, Lilly Klavier spielen.

Eines Tages sagt die Lehrerin, Lilly brauche jetzt ein richtiges Klavier zum Üben. Das Keyboard reiche nicht mehr aus. Am Bayerischen Platz in Schöneberg gehören Klaviere ebenso selbstverständlich in den Alltag neunjähriger Mädchen wie Blumen und Bücher in die Wohnzimmer der Eltern. Doch Lillys Mutter hat gerade keine Arbeit. Das Geld ist knapp.

Lilly möchte deswegen mit keinem Mädchen am Bayerischen Platz tauschen. Sie ist viel zu sehr Abenteurerin, als dass sie sich wünschte, das Geld für ein Klavier einfach von der Sparkasse holen zu können. Ein neues Klavier zu kaufen, wenn man gerade kein Geld hat, das ist eine Herausforderung ganz nach ihrem Geschmack.

Als die Sommerferien zu Ende gehen, macht Lilly sich an die Arbeit. Sie wirft das lange, blonde Haar in den Rücken und zeichnet eine Annonce, die sie am nächsten Tag in verschiedenen Läden und in der Musikschule an die schwarzen Bretter pinnt. Am Abend bäckt sie mit ihrer Mutter einen Pflaumenkuchen und viele Muffins.

Ein Verkaufsstand ist bald gefunden: Das leere Gestell des verlassenen Lebensmittelladens, auf dem noch vor kurzem die Stiegen für Tomaten, Zwiebeln und Salate standen. Lilly und Robin breiten ein Tuch darüber, malen Noten darauf und stellen ihre Ware dorthin. Auf dem Bürgersteig platzieren sie einen bunt bemalten Schuhkarton mit einem breiten Schlitz im Deckel. „Wir sparen für ein Klavier“, steht auf dem Karton. „Selbst gebackene Kuchen“, ruft Lilly den Passanten zu. „Mit frisch geernteten Pflaumen aus dem Oderbruch.“

Einige Leute halten vor dem Stand inne, nicken, lächeln und gehen weiter. Ein älterer Herr läuft mit gesenktem Kopf vorüber. Seine Nase hängt wie ein dicker Tropfen aus dem Gesicht. Plötzlich bleibt er stehen und kommt zurück. Er hebt nur kurz den Kopf und lächelt die Kinder an. Dann steckt er zehn Euro in den Schuhkarton. Seine Hände zittern leicht. Kuchen möchte er nicht nehmen. Er hat gerade keinen Appetit. Später kommen andere Schöneberger, die gern Muffins und Pflaumenkuchen kaufen.

Nach zwei Tagen verliert Robin die Lust an dem Job für seine Schwester. Lilly möchte weitermachen. Die Marktfrau ist für sie nur eine weitere lustige Rolle des Lebens. Lilly zählt das Geld. Achtzig Euro haben sie an zwei Nachmittagen verdient.

Als erstes meldet sich eine ältere Frau auf Lillys Annonce. Sie sagt, sie habe ein Klavier zu verschenken. Doch als Lilly und ihre Mutter zur verabredeten Zeit bei ihr klingeln, öffnet niemand die Tür.

Die Mutter ersteigert ein Klavier auf Ebay. Es wird mit einem zerbrochenen Bein geliefert. Nachts hören sie die Holzwürmer darin kratzen. Lillys Mutter muss einen Anwalt nehmen, um das Klavier wieder los zu werden und ihr Geld zurück zu bekommen.

Im Oktober geschieht etwas Merkwürdiges. Die Dame ein Stockwerk tiefer hat gehört, dass Lilly ein Klavier sucht. „Ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird“, sagt sie. „Es ist schon sehr alt.“ Lilly trippelt ungeduldig hinter ihr ins Wohnzimmer. Wegen der schweren Tüllgardinen ist es dämmrig darin, doch der rötlichbraune Deckel des Klaviers und die gedrechselten Beine glänzen wie frisch poliert. „Ich habe mir immer ein altes gewünscht“, sagt Lilly und hält ihre Hände fest, damit sie das Klavier nicht aus Versehen streichelt. Sie ist nicht sicher, ob man ein Klavier, das einem noch nicht gehört, unter den Augen der Besitzerin einfach streicheln darf. Die Nachbarin schlägt den Deckel auf und nimmt das schwarze, blumenbestickte Filztuch von den Tasten. Hier und dort sind sie schon etwas vergilbt. Im Deckel ist der Name des Herstellers in Intarsien eingelegt: Julius Machalet Berlin.

„Darf ich?“ Lilly trippelt.
„Natürlich, probiere es aus.“ Die Nachbarin zieht den Hocker darunter hervor. Lilly rutscht auf dem Hocker hin und her. Dann spielt sie eines ihrer Lieblingsstücke, den ukrainischen Tanz, den sie ganz zu Beginn des Klavierunterrichts gelernt hat.

Sechshundert Euro möchte die Nachbarin für das Klavier haben. Ihre Tochter habe einst darauf gelernt, doch die sei schon lange ausgezogen. Vorher, erzählt die alte Dame, habe das Klavier bei einer Familie im dritten Stock gestanden.

Lilly mag nicht rechnen, wie viel Kuchen sie noch verkaufen müsste, um das Klavier bezahlen zu können. Sie rechnet nicht gern und traut ihren Ergebnissen nicht.

Zum Glück zahlt Oma den Rest. Oma, die von Beruf Sängerin war und mit Opa und einer berühmten Big Band durch die DDR tourte. Nach Opas Tod ist Oma zu ihnen an den Bayerischen Platz gezogen, in eine sehr kleine Wohnung. Sie sagt, sie brauche jetzt nicht mehr so viel Platz. Außerdem habe sie ja noch das Grundstück im Oderbruch. Da fahren Lilly, Robin und ihre Mutter jedes zweite Wochenende hin. Sie toben durch die Wiesen und reiten und musizieren zusammen.

Lillys Mutter ist auch Sängerin. Außerdem spielt sie Gitarre und Singende Säge. Aber das ist nicht ihr Beruf. Sie hat gelernt, Hüte und Kleider und Taschen zu entwerfen und zu nähen. Das Kleid, das Lilly zum Vorspielen in der Musikschule zu Beginn der Sommerferien trug, hat die Mutter genäht. Dazu bekam Lilly neue Schuhe, schwarze Ballerinas, etwas zu groß, aber sie haben Sohlen hinein gelegt. Schließlich sollen die Schuhe im nächsten Jahr noch passen.

Obwohl die Mutter viele Kleider, Hüte und Taschen entwirft und näht, hat sie noch nie in ihrem Beruf gearbeitet. Gleich nach dem Studium half sie in der Arztpraxis ihres Mannes mit. Doch seit sich die Eltern von Lilly und Robin getrennt haben, möchte die Mutter nie mehr in einer Arztpraxis arbeiten. Jetzt lernt sie einen neuen Beruf. Sie wird Eventmanagerin, weil ihr das Organisieren von Festen und Konzerten fast so viel Spaß macht wie das Entwerfen und Nähen von Hüten, Kleidern und Taschen.

Betritt man das alte Haus am Bayerischen Platz, durchquert man einen marmornen Flur mit blank gewienerten Spiegeln und läuft eine gewundene Treppe hinauf. In Lillys Wohnung sieht es aus wie bei Leuten, die am liebsten musizieren, töpfern, schneidern und basteln. Gegenüber dem riesigen Spiegel im Flur stehen ein bunt bemalter Marterpfahl und eine schwarze Kleiderpuppe, die einen Hut mit einem Schleier und einen breiten Gürtel trägt.

An einem Vormittag im November wird das alte Klavier hinauf getragen.

„Wo ist es? Wo ist es?“ Lilly wirft die Schultasche neben den Marterpfahl und stürzt in das Nähzimmer ihrer Mutter. Das Klavier steht an der Wand mit den Familienfotos. Lilly umarmt es zur Begrüßung. Ihre ausgebreiteten Arme reichen nicht ganz über alle Oktaven. Lilly schlägt den Deckel auf. Sie nimmt das blumenbestickte Tuch von den Tasten und beginnt zu spielen. Sie spielt den letzten Satz des 109. Menuetts von Mozart, den sie nicht so gut leiden kann, weil er so schwierig ist. An derselben Stelle wie immer beißt sie die Zähne zusammen und schneidet eine Grimasse. Macht nichts. Das war schon richtig so.

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