Die Balance des Glücks

Thalheim by Ali Ghandtschi

Der Berliner Filmemacher Robert Thalheim

Foto: © Ali Ghandtschi

Seit dem 14. November läuft „Eltern“ im Kino. Eine Begegnung mit dem Regisseur.

Robert ist Künstler, Konrad auch. Robert hat zwei Kinder. Konrad auch. Robert und Konrad möchten viel Zeit mit ihren Kindern verbringen. „Nicht nur so ein arbeitender Satellit da draußen sein“, sagt Robert.

Wie macht Mann das heute? Robert Thalheim erzählt in seinem neuesten Film „Eltern“ von Konrad, der nach einigen Jahren als Hausmann wieder ins Berufsleben einsteigen möchte, und davon, was für Turbulenzen das in seiner Familie auslöst. Konrad ist Robert Thalheims Alter Ego. Der Filmemacher und sein Held sehen sich sogar ein bisschen ähnlich. Beide wirken gemütlich und stabil. Aber sie fühlen sich nicht immer so. Auch Robert Thalheim war ein halbes Jahr in Elternzeit, nach der Geburt seines ersten Kindes. Beim zweiten Kind entschied er, das nächste Drehbuch zu schreiben, statt wieder in Elternzeit zu gehen. An dieser Stelle laufen die Lebenslinien von Konrad und Robert auseinander. Aber der Anspruch, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, verbindet sie.

Dass es Thalheim zurück in den Job trieb, hing mit seinen Weiterlesen

Eine komische Frau

Das Foto zeigt den Schatten einer Skulptur der Bildhauerin Johanna Martin

Weil sie das Programm auf großen Bühnen zu weltfremd fand, gründete Constanze Behrends mit 22 ihr eigenes Theater in Berlin. Das „Prime Time“, das ohne öffentliche Gelder auskommt, wurde eine Erfolgsgeschichte.

Die Schauspielerin Constanze Behrends ist eine große Komödiantin. Sie dreht gerade für eine Vorabendserie in der ARD und führt ein eigenes Theater in Berlin, in dem sie auch spielt. Mit 31 Jahren hat sie 101 Bühnenstücke geschrieben. Constanze Behrends ist hübsch. Sie hat lange, blonde Haare und einen Körper wie ein Model. Verheiratet ist sie auch, und seit zwei Jahren Mutter.

Es gibt sie also, diese Menschen, die alles haben und denen alles gelingt.

Sie hat zur Premierenfeier in die Prime Time Kantine eingeladen, gleich neben ihrem Theater, Müller – Ecke Burgsdorfstraße im Berliner Wedding. In dieser Gegend treiben sich nachts gewöhnlich nur noch Spielsüchtige und Männer auf der Suche nach einem Bordell herum. Heute     Weiterlesen

Walhalla mit Vergnügen

Noch ein paar Tage am Kiosk: Die Sommerausgabe von DAS MAGAZIN „für alle, die sich nass machen lassen“ 😉 mit Texten u.a. von Kirsten Fuchs, Alex Capus und Anita Wünschmann, einem Komödien-Rätsel, der Geografie des deutschen Humors und guten Jungs wie Stefan Kaminski….

Foto: © Jeanne Degraa

An Richard Wagner scheiden sich noch immer die Geister. Bei Stefan Kaminski treffen sie sich wieder

Heute steht Kaminskis flexibler Bürostuhl auf der Bühne der Bar jeder Vernunft, einem Varieté im Berliner Westen. Das Publikum, gut situierte Paare und Familien, haben das Dinner beendet und sitzen nun in Erwartung der Kunst der Bühne zugewandt. Wie ein Bandleader winkt Stefan Kaminski den Gästen zu, als er zwischen der Glasharfenistin Hella von Ploetz und dem Percussio – und Cellisten Sebastian Hilken seinen Platz auf dem Bürostuhl einnimmt. Dort unternimmt er zuerst eine halbe Drehung nach hinten und hypnotisiert mit der ausgestreckten Hand die Studiolampe über der Bühne, bis sie rot aufleuchtet und der Schriftzug on air erscheint. Auf dem Programm steht das „Rheingold“, der erste Teil des „Ring der Nibelungen“ von Richard Wagner. Kaminski spielt alle Rollen selbst, ungeschminkt, in Jeans und T-Shirt, von seinem gepolsterten Stuhl aus: Nymphen und Zwerge, Riesen, Götter und Halbgötter. Später wird man schwören wollen, sie alle gesehen zu haben. Kaminski ist umgeben von einer Art Klangküche aus Werkzeugen, Materialien, Stoffen und Alltagsgegenständen, auch Mikrofonen, die seine Stimme verzerren, so wie er selbst auch mit den Fingern an seinen Lippen und Wangen zerrt, um Stimmen für das gesamte Wagnersche Personal zu erzeugen. Ein faltiger Luftballon quietscht wie pralle Nymphenhaut, als der Zwerg Alberich den Töchtern des Rheins nachstellt und…

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Leben mit Leerstelle

Der Schriftsteller André Kubiczek, seine laotische Mutter, eine ostdeutsche Kindheit und der Versuch, das Fremdsein zu verstehen

Foto: © Stefan Pramme

André Kubiczek ist im Prenzlauer Berg geblieben. Er mag die Gegend, in der schon sein erster, 2002 erschienener Roman „Junge Talente“ spielt, auch wenn die Straßen heute nicht mehr grau und kohleverrußt sind wie damals in den letzten Jahren der DDR, in die sein erstes Buch führt. Mit seiner unaufgeregten, zurückhaltenden Art verkörpert Kubiczek noch immer etwas vom Lebensgefühl der alten Szene, die hier so gut wie ausgestorben ist.

Es scheinen mindestens drei Kinder bei ihm zu leben: Volle Kleiderhaken auf Hüfthöhe im Flur, gebastelte Figuren auf dem Schränkchen daneben, eine Wand voller Kinderzeichnungen in seinem Arbeitszimmer. Doch alle diese Spuren stammen von einem Kind, seiner achtjährige Tochter, die jede halbe Woche bei ihm lebt. „Dieses hier, das war ihre erste gegenständliche Zeichnung.“ Kubiczek weist auf ein Bild, dessen „Gegenstand“ jedoch nicht genau erkennbar ist. „Ein Mensch“, erklärt er. „Ein Gesicht mit Augen, Nase und Haaren, und einem Körper, allerdings fehlen die Arme und Beine.“

Die achtjährige Tochter kommt in seinem neuen autobiografischen Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ nicht vor, obwohl die Handlung bis in die Gegenwart reicht. „Das Buch ist beides, autobiografisch und fiktiv“, erklärt der Autor. Weitgehend authentisch ist die Familien- und Kindheitsgeschichte im ersten Teil. Auch André Kubiczek hat nun also ein Werk für den Kanon der DDR-Kindheitsbücher geschaffen. Der Roman, der die enge DDR teilweise verlässt und in die Heimat von Kubiczeks Mutter, nach Laos führt, ist atemberaubend und in vieler Hinsicht besonders. Für den Autor allerdings war es ein schwieriger Stoff.

Es sei nicht seine Idee gewesen, diese Geschichte zu erzählen, sagt Kubiczek. Er habe eigentlich nichts Besonderes in seiner Herkunft gesehen. Seine Agentin habe ihn eines Tages darauf angesprochen und dann gefragt: Warum schreibst du eigentlich nicht DAS?

Um für das Buch zu recherchieren, reiste Kubiczek zum ersten Mal nach Vientiane, der  Heimatstadt seiner Mutter und stieß auf die interessante politische Karriere seines Großvaters Quinim Pholsena, der für kurze Zeit Außenminister von Laos war. „Ich wusste zwar, dass mein Großvater irgendein hohes Tier in der Regierung war. Meine Mutter hatte davon erzählt und seine Orden hingen bei uns in der Schrankwand, aber mehr hat mich als Kind nicht interessiert.“ Etwas widerwillig begibt er sich in die laotische Familie. „Das ist ein richtiger Clan. Als Kind fand ich es schön, wenn die Tanten und Onkels und meine Großmutter uns besuchten. Dann war Trubel in der Wohnung. Es gab Geschenke. Es roch gut und es wurde ganz anders gekocht.“ Aber Laos sei ihm fremd geblieben, obwohl er sich lange mit der Politik und Kultur des Landes beschäftigt habe.

In Vorbereitung auf den Roman, im Interview mit dem Vater hörte er zum ersten Mal, wie sich die Eltern beim Studium in Moskau kennengelernt haben und auf welch abenteuerliche Weise die Mutter in die DDR geschmuggelt wurde. Es ist kaum nachvollziehbar, was Kubiczek über seine Familie alles nicht wusste. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Der private André Kubiczek wollte es bisher nicht wissen. Er hatte seine Kindheit wie eine alte Haut abgestreift und hinter sich gelassen. Die Familie hatte nur wenige, unbeschwerte Jahre. Kaum dreißigjährig, erkrankte die Mutter an Krebs und starb knappe zehn Jahre später. Als ihre Asche in zwei Städten beigesetzt wurde, in Potsdam und Vientiane, war André Kubiczek sechzehn Jahre alt. Für Kubiczek ist es unmöglich, die Ehe seiner Eltern als romantisches Happy End einer abenteuerlichen Studentenliebe zu sehen. Für ihn ist es der Beginn eines Niederganges. Er nennt es „die Agonie der Familie.“

In dem Regal neben Kubiczeks Schreibtisch steht ein Foto der Mutter in einem verzierten Holzrahmen. Es wirkt blass und unscharf, als wäre es stark vergrößert worden. „Das Lieblingsfoto meiner laotischen Großmutter“, sagt er. „Es hing in ihrem Zimmer. Sie wollte es mir schenken und ließ diese Kopie machen.“ Das Foto zeigt ein hübsches Mädchen von vierzehn Jahren. Vierzehn Jahre alt war die Mutter, als der von ihr selbst geschriebene Lebensbericht einsetzt. Er steht am Beginn des Romans. Die Mutter erzählt darin von der Flucht nach Kambodscha im Jahr 1960, als in Laos ein Krieg drohte, von der ersten Liebe, die sie wieder verlor, als ihre Mutter mit ihr und den Geschwistern weiter nach Vietnam flüchtete. Der Bericht bricht mitten im Satz ab. Im Roman überlegt der Autor, ob an dieser Stelle vielleicht ein Arzt das Krankenzimmer betreten hat oder die Schmerzen übermächtig wurden und sie am Weiterschreiben hinderten.

Seiner Mutter hat André Kubiczek diesen Roman gewidmet. Ihr Name Khemkham Pholsena, wird jedoch nur ein einziges Mal genannt, in der Widmung auf der letzten Seite. Im Roman heißt sie Téo. „Tèo war ihr Spitzname“, erklärt Kubiczek. „In Laos ist es üblich, den Kindern bei der Geburt so einen Spitznamen zu geben. Man tut dies, um die Geister zu verwirren und Unglück von den Kindern fernzuhalten.“

Nach dem abgebrochenen Bericht taucht die Mutter im Verlauf des Buches erst in Moskau wieder auf, diesmal aus Sicht des Vaters, streng bewacht von ihrer älteren Schwester, später, nach dem vereitelten Fluchtversuch, eingeklemmt zwischen vietnamesischen und russischen Geheimdienstlern auf einem Moskauer Bahnhof. In dem kleinen Harz-Städtchen, aus dem ihr Verlobter stammt, wird sie von der Schwiegermutter beaufsichtigt. Schließlich ist sie schwanger, heiratet und wird Bürgerin der DDR. Sie bekommt eine Anstellung in der gleichen „Akademie“ wie ihr Mann und promoviert. Der Vater erzählt noch, dass sie Schwierigkeiten mit dem Essen gehabt habe. Der Autor sagt nichts darüber, was sie dachte und fühlte, wie sie die nervliche Anspannung des Fluchtversuches verkraftet hat, wie es für sie war, in einer völlig fremden Kultur anzukommen. Er beschreibt weder ihr Gesicht, noch ihre Hände oder ihre Stimme.

Beim Lesen wartet man auf die Mutter, hofft, dass sie ihren Bericht wieder aufnimmt, während der Autor in sinnlichen, langen Satzgefügen die DDR wieder auferstehen lässt, ihre Wohnblöcke und Küchen und Kohlenkeller, die Fleischerläden und die Festessen in der guten Stube der Großeltern im Harz, das Angebot der Feinkostgeschäfte in Berlin. Kubiczek erzählt, wie man kochte, grillte, sich kleidete und zum Appell antrat. Er zeichnet detailreiche, sehr präzise Bilder. Seine Großeltern werden in allen Dimensionen sichtbar. Der Autor besitzt ein großes Talent, die Vielschichtigkeit von Charakteren zu zeigen. Kupfer, der Stuben-Schreck aus der Armeezeit, ein grober Typ mit oberflächlichen Sprüchen und aufgeriebenen Füßen, ist ein Rebell, dessen Glut man sich nicht ganz entziehen kann. Die kittelschürzige Nachbarin aus dem Wohnblock, die ihren Mann vor schickt, um sich über die exotischen Gerüche zu mokieren, die aus der Kubiczekschen Küche quellen, ist penetrant und zugleich mitleiderregend in ihren missglückten Versuchen, gütig zu sein. Kubiczeks Blick ist niemals überheblich. Er hat Zuneigung zu seinen Figuren. Seine fein beobachtende Distanz verliert er nur, wenn es um den Fahrradunfall des kleinen Bruders geht, um den Ärztepfusch an dessen Gehirn und den anschließenden körperlichen und geistigen Verfall des Jungen, bis zum Tod. Dann bricht die Wut hervor, aber sie ist völlig unbearbeitet. Der Vater bleibt blass, schweigsam, traurig am Steuer des Wagens, der ihn und den älteren Sohn an vielen Sonntagen in irgendein Krankenhaus bringt, und allein abends vor dem Fernseher mit einer Flasche Wein. Man sieht ihn meist von halb hinten. Die Mutter fehlt. Der Bericht ihres Lebens wird nicht wieder aufgenommen. „Sie ist die Leerstelle in diesem Buch“, sagt Kubiczek.  „Mehr als diese paar Seiten hat sie nicht hinterlassen.“ Er hätte seinen Vater im Interview nach ihr fragen können. Er hat es nicht getan. Vielleicht konnte er nicht. Vielleicht spürte er, dass der Vater nicht antworten kann. Er hätte nach anderen Menschen suchen können, die seiner Mutter nahestanden. Es gab diese Menschen. Er hat auch das nicht getan. Und jetzt, während des Interviews in seiner Wohnung, entgleiten die Fragen nach dem nicht gesagten, nicht gefragten. Die große, unbewältigte Trauer ist in diesem Roman eingesperrt.

Kubiczek zieht eine kleine Schachtel mit Fotos aus dem Regal neben dem Schreibtisch, Fotos wie jedes DDR-Kind seiner Generation sie irgendwo in einer Schachtel aufbewahrt. Schwarz-weiß-Aufnahmen von Ausflügen in die Mittelgebirge des Landes, die Jungen in Lederhosen, die Mutter, gerade mal einen Kopf größer, in weiten, hellen Schlaghosen.

Er erinnere sich, dass die Kinder im Wohngebiet ihn manchmal „Chinese“ gerufen haben. Es sei nicht böse gemeint gewesen, aber genervt habe es ihn trotzdem. „Wenn man Kind ist, möchte man so sein wie alle. Man möchte nicht anders sein.“ Aber Fremdenfeindlichkeit habe er erst in den Neunzigerjahren erlebt, erzählt Kubiczek, während seiner Studienzeit in Leipzig und in Berlin. Sogar durch den Prenzlauer Berg seien damals Nazihorden gezogen. In Potsdam sei er einmal angegriffen worden, habe sich mit ein paar Fußtritten gerade noch verteidigen können, dann aber das Geschoss aus einer Gaspistole im Rücken gespürt. „Wenn man so etwas erlebt, wird man paranoid.“ Er habe in seinem Roman eigentlich auch über diese Zeit geschrieben. Dem Lektorat sei das dann aber zu viel gewesen. „Eigentlich“, sagt Kubiczek, „habe ich beim Schreiben an meine Tochter gedacht. Sie soll einmal mehr in der Hand halten als die paar Seiten, die meine Mutter hinterlassen hat.“  Er kann sich vorstellen, aus den 300 Seiten, die nun rausgeflogen sind, den nächsten Roman zu schreiben.

Im zweiten Teil des Buches, der zehn Jahre vor und nach der Jahrtausendwende spielt, wird die Geschichte spürbar fiktiver. Der Autor führt seine Figuren jetzt in typisch ostdeutsche Lebensproblematiken, die zwanzig Jahre nach der sogenannten Wende deutlicher werden als zuvor. Das ist Kubiczeks eigentliches Thema, das Thema seiner Generation. Hier fühlt er sich Zuhause. Man hat den Eindruck, dass er auch heute auf keinen Fall etwas anderes, besonderes sein will, kein Experte für Doppelidentitäten oder – Staatsbürgerschaften, kein Spezialist für laotische Fragen, der in Talkshows eingeladen wird.

 

 

Grazy

Shirat Isaak kam nach Berlin, um den Weg ins Internationale Musikgeschäft zu finden


© Foto Stephan Pramme

Shirat Isaak läuft den Kurfürstendamm hinauf. Sie ist auf dem Weg nach Hause. Ihr Gang wirkt trotz des sperrigen Gitarrenkoffers leicht. Der kühle Wind bläst das Haar aus ihrem Gesicht, so dass es noch schmaler wirkt. Es ist ein Gesicht, das die Blicke auf sich zieht, obwohl die junge Israelin eine zurückhaltende Erscheinung ist, ungeschminkt und so einfach wie die Musik, die sie schreibt: eingängige Songs zwischen Folk und Rock. Aber ihre unbedingte Natürlichkeit fällt auf, weil sie so verletzlich scheint.

Als die dreißigjährige Künstlerin von ihren Plänen spricht, wird klar, dass diese Natürlichkeit nichts ist, was ihr durch ein behütetes Leben bis heute erhalten blieb, sondern ein Charakterzug, den sie zu schützen und zu verteidigen weiß.

Vor vier Monaten ist sie von Tel Aviv nach Berlin gezogen. Sie hatte gehört, dass Berlin die europäische Stadt ist, die jungen Künstlern auf dem Sprung in eine internationale Karriere die besten Bedingungen bietet: noch offene Strukturen, bezahlbare Lebens – und Arbeitsräume und die Präsenz großer und kleiner Musikunternehmen, die sich in den letzten zehn Jahren in der Stadt an der Spree ansiedelten. Nach einer Testphase von zwei Monaten steht für die Künstlerin fest, dass sie bleiben wird. „Ich habe in dieser kurzen Zeit viel mehr Leute getroffen, die sich für das, was ich mache, interessieren, als in Israel in mehreren Jahren.“ Ihre Auftritte im Café Bialik in Tel Aviv waren beliebt, aber sie genügten ihr nicht mehr. Die abgestoßenen Ecken des schwarzen Gitarrenkoffers erzählen von Auftritten an wechselnden Orten, von engen Clubs mit rauen Fußböden, voll gepackten Kofferräumen, vom Hin und Her des Künstlerlebens, von lange geprobten und spontanen Konzerten.

Das Mädchen aus der kleinen Siedlung Karnei Shomron im Westjordanland, Tochter orthodoxer Juden, brachte sich das Gitarrespielen selbst bei, brach ihr Architekturstudium mit 22 Jahren ab und finanzierte ihr Leben als Musikerin fortan mit Jobs in Musikgeschäften und – Verlagen, Agenturen und Radiostationen. Sie traf dabei auf erfahrene Kollegen, die ihr rieten, nicht aufzugeben. Der Umzug nach Berlin ist der vorläufige Höhepunkte dieses Weges. Ihre Eltern unterstützen die Entscheidung.

Ein Freund hat ihr die kleine Neubauwohnung am oberen Ende des Kurfürstendamms für den Beginn des Berlin-Experiments zur Verfügung gestellt. Der Raum ist wie ein Hotelzimmer mit dem nötigsten ausgestattet. Die Gitarre bekommt einen Platz neben dem Bett. Shirat Isaak klappt den Laptop auf. In Berlin ist sie zunächst eine von vielen jungen Künstlern, die auffallen möchten. Sie hat ein ganzes Debütalbum im Gepäck, das sie endlich produzieren will. Sie schaut sich nach neuen Musikern um, mit denen sie in Zukunft zusammen arbeiten kann. In Tel Aviv hatte sie eine sechsköpfige Band. „In Israel ist der Markt sehr klein. Du musst schon ein Star sein, bevor sich ein Label überhaupt für dich interessiert. Du musst ein großer Schauspieler sein, eine große Sängerin und ein Model obendrein. Aber ich will mich auf meine Musik konzentrieren.“ Ihre musikalischen Vorbilder sind John Frusciante, Bernard Butler und Amy McDonald.

Den Eindruck von Introvertiertheit bestätigt das Video zu dem Song „Grazy“, das auf Youtube zu sehen ist. Er stammt aus der Feder ihres Freundes David Swirsky. Das Lied scheint wie für sie gemacht. Begleitet von einem satten Gitarrensound singt Shirat Isaak mit warmer, voller Stimme von Trennung und der „Verrücktheit“, aus dem gewohnten Leben auszubrechen und einen neuen Weg zu finden. „Evrything looks different from the other side“, heißt es darin. Wie hat der Sprung nach Berlin ihren Blick verändert? Sie sei mit der europäischen Kultur durch ihr Elternhaus sehr verbunden, sagt Shirat Isaak. Als Kind habe sie sogar einige Jahre in Schweden gelebt. Ihr Vater hatte eine Zeitlang dort gearbeitet. Er vermittelt Gastspiele israelischer Künstler in jüdische Gemeinden in Europa und bringt europäische Künstler nach Israel. Shirat Isaak war zehn Jahre alt, als die Familie nach Skandinavien ging, zugleich die Heimat ihres Vaters. Er ist Anfang der Fünfzigerjahre in Dänemark geboren worden, wohin seine Eltern vor den Nazis in Deutschland geflüchtet waren. „In Israel haben mich viele gefragt: ‚Wie kannst du nach Deutschland gehen? Hast du vergessen, was geschehen ist?’ Auch meine Eltern. Auch sie sind vom Holocaust betroffen. Ich habe die Geschichte nicht vergessen, aber ich weiß, dass Deutschland sich verändert hat. Es gibt andere Dinge, die mich interessieren, zum Beispiel, dass Berlin eine wichtige Stadt für Musiker aus aller Welt geworden ist.“

Viele Leute erzählen Shirat Isaak, dass sie Bescheid wissen, dass sie in der Schule alles über den Holocaust gelernt haben. „Ich habe das Gefühl, sie warten darauf, zu hören, dass ich ihnen verzeihe“, sagt sie. „Aber ich bin nicht deswegen nach Berlin gekommen. Wenn ich erzähle, dass ich Musik mache, dann kommen wir ganz schnell zurück in die Gegenwart und zu anderen Themen.“ Nach der zweimonatigen Berliner Probezeit ist sie noch einmal nach Hause, nach Israel gereist. Sie kam als Gast, als jemand, der seine Heimat bereits von der anderen Seite aus betrachtet. „Es hat mir sogar Spaß gemacht, über das Wetter zu reden. Ich sagte: Bei uns in Berlin ist es viel angenehmer als hier, nicht so heiß.“

Shirat Isaak sucht jetzt Arbeit, was nicht einfach ist, da sie noch kein Deutsch spricht. Die Arbeitssuche beansprucht einen großen Teil ihrer Zeit. Sie sucht im Internet und auf ihren Stadtspaziergängen. Warten und Schauen, so könnte man ihre jetzige Beschäftigung beschreiben. Ihr Debütalbum hat sie verschiedenen Labels vorgestellt. Einige signalisierten Interesse, aber noch ist nichts geschehen. Die kurze Zeit in Berlin wirkt sich aber schon belangvoll auf ihre Arbeit aus. Sie hat neue Songs geschrieben und an ihrem Stil gearbeitet. „Ich möchte das Folk-Element stärker betonen und insgesamt nachdenklicher und zurückhaltender im Ausdruck werden.“ Klingt, als hätte sie ein Stück mehr zu sich selbst gefunden.