Foto: © Jeanne Degraa
An Richard Wagner scheiden sich noch immer die Geister. Bei Stefan Kaminski treffen sie sich wieder
Heute steht Kaminskis flexibler Bürostuhl auf der Bühne der Bar jeder Vernunft, einem Varieté im Berliner Westen. Das Publikum, gut situierte Paare und Familien, haben das Dinner beendet und sitzen nun in Erwartung der Kunst der Bühne zugewandt. Wie ein Bandleader winkt Stefan Kaminski den Gästen zu, als er zwischen der Glasharfenistin Hella von Ploetz und dem Percussio – und Cellisten Sebastian Hilken seinen Platz auf dem Bürostuhl einnimmt. Dort unternimmt er zuerst eine halbe Drehung nach hinten und hypnotisiert mit der ausgestreckten Hand die Studiolampe über der Bühne, bis sie rot aufleuchtet und der Schriftzug on air erscheint. Auf dem Programm steht das „Rheingold“, der erste Teil des „Ring der Nibelungen“ von Richard Wagner. Kaminski spielt alle Rollen selbst, ungeschminkt, in Jeans und T-Shirt, von seinem gepolsterten Stuhl aus: Nymphen und Zwerge, Riesen, Götter und Halbgötter. Später wird man schwören wollen, sie alle gesehen zu haben. Kaminski ist umgeben von einer Art Klangküche aus Werkzeugen, Materialien, Stoffen und Alltagsgegenständen, auch Mikrofonen, die seine Stimme verzerren, so wie er selbst auch mit den Fingern an seinen Lippen und Wangen zerrt, um Stimmen für das gesamte Wagnersche Personal zu erzeugen. Ein faltiger Luftballon quietscht wie pralle Nymphenhaut, als der Zwerg Alberich den Töchtern des Rheins nachstellt und…
ihnen das Gold stiehlt, Blechteile von Berliner Flohmärkten, in einem Jutebeutel kräftig geschüttelt. Eben noch der unterwürfige Zwerg Alberich mit grün angestrahlten Gesicht, bläht Kaminski sich rasend schnell zu Wotan auf, stürzt ebenso schnell zurück ins Grün, leidet wenig später als Freia in gediegenem Alt, und berlinert dann als die Riesen Fafner und Fasold, bekleidet mit einem gelben Schutzhelm, wie ein Bauarbeiter.
Eine Oper ist das nicht, auch wenn die Musik von Richard Wagner gelegentlich zitiert wird. Dreidimensionales Live-Hörspiel nennt der Schauspieler Stefan Kaminski das Bühnenformat Kaminski on air, das er vor acht Jahren erfunden hat, im Deutschen Theater, als er dort festangestellt war. Dreidimensional, weil es sowohl Bühnenshow als auch offene Hörspiel-Werkstatt ist und drittens der Auftritt einer Band. Kaminski arbeitet immer mit Musikern zusammen. Der Instrumentalist Sebastian Hilken ist sein wichtigster Soundberater. Von ihm stammte die Idee, nach einer Glasharfe zu suchen, als Kaminski für das „Rheingold“ einen Klang brauchte, der sowohl zart als auch archaisch wirken sollte. Walhalla hallt. Kaminski quakt, dröhnt hoch aufgerichtet auf seinem Bürostuhl, von unten beleuchtet, er haucht und poltert, lamentiert und triumphiert, zittert und lacht. Weil die meisten Helden im Wald umher knirschen, tretelt er in einer mit Kieseln und Sand gefüllten Kiste.
„Wotan“, flüstert ein Herr im Publikum seiner Begleiterin zu, als Kaminski sich ein Auge mit schwarzer Schminke durchkreuzt. Er strahlt vor Begeisterung. So bereitet Kaminski dem Bildungsbürgertum in der Bar jeder Vernunft auch einen Ratespaß.
Sie sehe das „Rheingold“ heute schon zum zweiten Mal, erzählt die Älteste der vier Wagnerianerinnen, die sich einen Tisch direkt gegenüber der Bühne teilen. Sie mag um die siebzig sein. An diesem Abend war sie zuerst hier und hat den Tisch für die drei jüngeren Freundinnen aus dem Wagner-Verband frei gehalten. Die Jüngste, vielleicht Mitte vierzig, die vor der Show noch unentschieden war, ob sie guter oder schlechter Laune sein sollte, und dann gnadenlos raus ließ, dass sie im August wieder nach Bayreuth fahre, woraufhin sich die anderen knirschend ihre Anerkennung verkniffen, ist jetzt aufgelockert. Von diesem Kaminski habe sie noch nie gehört. Die Nachbarin der Tischältesten sagt, dieser Kaminski sei doch als Kind sicher jeden Abend mit dem „Ring“ in den Schlaf gewiegt worden. Die anderen stimmen ihr lachend zu. So muss es gewesen sein. Seine Mutter ist eine von ihnen.
Ist sie nicht. Seine Mutter ist Grafikerin, in den Schlaf gesungen wurde er mit: Schlaf, Stefan, schlaf ein… Die Eltern trennten sich, als er vier war, seither hat er seinen Vater, einen Schauspieler, nicht mehr gesehen.
Stefan Kaminski, 38 Jahre alt, schmal, jungenhafter Ausdruck, helle Brauen, helle Augen, Berliner Dialekt, sitzt in seiner Garderobe in einem Zirkuswagen zwischen Mineralwasserstiegen, Sofa und Schminkspiegel auf Blümchentapete. Über dem T-Shirt trägt er jetzt eine abgewetzte Lederjacke. Er verkörpert nicht gerade die Sehnsucht nach dem deutschen Wald. Macht er sich über Wagner lustig wie er sich in seinen Stücken „Kong“ und „Es kam von oben“ über Hollywood lustig macht? „Ich habe Wagner erst vor ein paar Jahren entdeckt. Meine Frau hat eine große Klassiksammlung. Wir hören uns manchmal abends eine Oper an. Eigentlich war sie es, die mich auf Wagner aufmerksam gemacht hat. Als ich dann das Libretto las, war ich begeistert.“
Aufgewachsen ist Stefan Kaminski mit Mosaik-Comics, russischen Märchen und Partisanenfilmen von Professor Flimmrich und Rocksongs auf DT64. Das Spiel mit seiner extrem wandelbaren Stimme begann er im Alter von 15 Jahren. „Nach der Wende bekam ich meinen ersten Kassettenrecorder mit Doppeldeck geschenkt“, erzählt er. „Ich habe dann eigene Radiosendungen produziert, in denen ich alles war: Der Moderator und alle Mitglieder der Band, die zum Interview zu mir ins Studio gekommen waren. Ich war auch die Werbung zwischendurch.“ Seine Radioproduktionen verschenkt er an Freunde und Verwandte. Eines Tages gewinnt er einen Hörerwettbewerb bei Rockradio B, dem Nachfolger von DT64 und darf zu Gast im Studio sein. Bei dieser Gelegenheit zeigt er den Profis seine Aufnahmen. Gabriele Bigott, Dramaturgin beim ORB, bietet ihm sofort ein Praktikum an. Stefan Kaminski ist 19 Jahre alt. Das Abitur hat er in der Tasche. Nach dem Praktikum lässt ihn der Sender nicht mehr gehen. Kaminski moderiert die Kindersendung „Zappelduster“ auf Antenne Brandenburg und in der Sendung „Stahlwerk“ interviewt er jetzt echte Bands. Zu dieser Zeit nimmt er bereits erste Hörbücher und – Spiele auf.
Inzwischen hat er ungefähr 150 Hörbücher gesprochen. Er ist ein besonders gefragter Sprecher für Kinderbücher. Er spielt Kermit, den Frosch und Pumuckel. Er liest die Geschichten von Eliot und Isabella, Nulli und Priesemut und Klassiker wie „Der Zauberer von Oz“. Eigentlich müsste jedes Kind in diesem Land, das unter zehn Jahre alt ist, seine Stimme kennen. Doch er spricht nicht nur Kinderbücher und – Rollen. Kürzlich erschien seine Lesung von „Sand“, des neuen Romans von Wolfgang Herrndorf.
Damals, als er die ersten Hörbücher aufnahm, arbeitete er im Studio mit gestandenen Schauspielern wie Dieter Mann und Carmen-Maja Antoni zusammen. Er entschloss sich zu einer Ausbildung, studierte dann von 1999 bis 2003 an der Schauspielschule „Ernst Busch“. Bereits 2001 gastiert er am Deutschen Theater. Nach seinem Studium folgt ein festes Engagement am Haus. Er arbeitet mit Regisseuren wie Dimiter Gotscheff, Nicolas Stemann, Stephan Kimmig und Hans Neuenfels. „Trotzdem hatte ich nach einigen Jahren das Gefühl, verschwunden zu sein. Ich war nicht mehr der Stefan. Ich vermisste die schöpferische Freiheit, die ich hatte, als ich meine eigenen Radiosendungen produziert habe. Am Theater wurde ich nur noch besetzt. Ich begriff, dass es extrem wichtig für mich ist, etwas Eigenes zu machen.“ 2004, Kaminski ist dreißig Jahre alt, installiert das Deutsche Theater für eine Spielzeit die „Deutsche Box“, in dem die Künstler des Hauses ihre eigenen Inszenierungen zeigen können. Vor zirka 50 Zuschauern führt Kaminski sein erstes dreidimensionales Live-Hörspiel auf. „Im Banne des Psycho-Pudels“ ist ein SciFi-Krimi um einen Neukölner Privatdetektiv, der weggelaufenen Haustieren nachspioniert. Das Publikum ist hingerissen. „Willst du das nicht öfter machen?“, fragt ihn der Dramaturg Oliver Reese. Kaminski-on-air ist geboren. Drei Jahre später verlässt der junge Schauspieler das Deutsche Theater, aber er gastiert dort immer wieder mit seiner Show. Kaminski ist jetzt Intendant, Dramaturg und Regisseur in einer Person, auch Komponist, denn wenn er ein Stück schreibt oder bearbeitet, hat er den Klang schon im Ohr. Während der ersten Proben verändert sich die „Partitur“ noch, inspiriert von den Musikern, vor allem von Sebastian Hilken, in dem er einen begabten Partner gefunden hat. Und nun also Wagner. Ausgerechnet. „Diese hehre Vergötterung muss aufhören“, sagt Kaminski. „Ebenso die hehre Verdammung. Der Ring ist eine tolle Geschichte von faustischer Tiefe. Wir erzählen sie so, wie sie uns aus dem Herzen kommt. Wir machen ‚den Ring’ von unten, eine echte Alternative zu Bayreuth, wo du zehn Jahre lang auf ne Karte wartest, so lange wie wir früher auf nen Trabi.“ Eine gute Geschichte möchte er erzählen, für Leute, die nie in die Oper gehen, sein Publikum, das er als sowohl Trash als auch Poesie liebend charakterisiert und im Kern zwischen 25 und 45 Jahren ansiedelt. Eine bizarre Wanderung entlang an Wagners Libretto, voller Aberwitz, Komik und Slapstick sei es. Ein Bruch also mit dem Pathos, aber keinesfalls als Parodie gemeint. Kaminski schwärmt von dem jugendlichen, ungestümen Wesen Siegfrieds, von der Szene, in der Siegfried den Bären erschlägt und wie er sich schweren Herzens davon verabschieden musste, weil sie in seinem Format on-air nicht funktionierte, wie er nun im Dialog mit dem Drachen den Spieltrieb und die Kraft Siegfrieds zeige. Würde man die Augen schließen, wäre die Geschichte vielleicht wirklich so ernst wie das Original, aber dann öffnet man die Augen und sieht Stefan Kaminski als Drache mit einer grünen Kinderkappe mit Froschaugen bekleidet.
Kein Zweifel, dieser Kaminski, der einstige Klassenclown, ist unter der Lederjacke ein Romantiker. Aber irgendwie stehen ihm der Hollywood-Macho im Straßenkreuzer und der Neukölner Detektiv besser als Alberich und Wotan.
Wie auch immer man seine genialen Einfälle auffasst – Kaminski on air ist Kult. Ganz offenbar lieben auch Menschen jenseits der 45, mit hohem Anspruch seinen frischen Umgang mit Wagner. Anfangs konnten die Kritiker mit Kaminski on air nichts anfangen. Ein Hörspiel auf der Bühne als Bandereignis – wer ist dafür überhaupt zuständig? Inzwischen gastierte Kaminski mit dem „Ring“ in der Berliner Philharmonie und der Deutschen Oper München. In diesem Jahr stehen Gastspiele in Mannheim, Leipzig, Prag und Wien auf dem Programm. Die Theaterkritiker betrachten ihn nun als Theatermacher, die Radioleute als Hörspiel-Produzenten, die Wagnerianer sehen ihn als einen der ihren an, die Nicht-Wagnerianer glauben, er mache sich über den nordischen Sagenkult lustig. Und Kaminski? Spielt einfach; mit seiner Stimme, seinem Gesicht, mit Klängen, Musik und Licht. Das ist alles. Noch findet er Zeit, die Facebook-Kommentare seiner Freunde selbst zu beantworten. Doch 2013 ist Wagner-Jahr. Immer wieder erinnert Kaminski im Gespräch daran. Er ist aufgeregt wie vor einem Wettkampf. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag des Meisters wird er alle vier Teile des „Rings“ in Bayreuth aufführen.