Wohnzimmer-Lektionen

VOLKSBILDUNG: Wie kann man politisches Bewusstsein wecken? Der Franzose Pierre Kaskys gibt dazu Workshops in Berlin

Pierre Kaskys in Berlin, Oktober 2011

Foto: © Anna Kristina Bauer

Die Polstermöbel in dem hellen Zimmer sehen so aus als kämen sie vom Sperrmüll. Es ist eine typische Berliner Altbauwohnung mit Stuck an der Decke, sechs Leute unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität sitzen in den Sesseln um einen flachen Tisch und schreiben. „Wer möchte beginnen?“, fragt der Moderator.

„Petite histoire, grande histoire“ (kleine Geschichte, große Geschichte) heißt der Workshop, zu dem der 28jährige Pierre Kastner-Kysilenko über verschiedene Facebookgruppen in seine Wohnung eingeladen hat. Er notiert auf einer Papierbanderole an der Wand Jahreszahlen und „die kleinen Geschichten“ der Teilnehmer. Sie handeln vom ersten Golf – und zweiten Weltkrieg, von der Angst vor Krieg am 11. September 2001, von erlebten Rassismus und Armut, einer Ehescheidung und zwei Suchen nach der eigenen Identität.

Kastner-Kysilenko schreibt alles auf, das kurze, dunkle Haar aus der Stirn gewischt, das Kinn leicht vorgestreckt. Sein ausdrucksvolles Gesicht mit den neugierigen, grünen Augen würde zu jeder der Jahreszahlen auf der Banderole passen, von 1958 bis 2001. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen. Dieser Eindruck mag von den guten Manieren herrühren, die in seiner Berliner WG nostalgisch anmuten, und dem kleinen Oberlippenbart, der an Peter Sellers in seinen Siebzigerjahre-Filmen erinnert. Kastner-Kysilenko, der seinen elsässisch-ukrainischen Namen auf Kaskys verkürzt, spricht Französisch, Englisch, Deutsch und ein bisschen Russisch. Er spricht und reagiert schnell. Er ist glatt und mediensicher, mittendrin, immer mit der Angst, etwas zu verpassen. Er war unter den ersten, die im Oktober letzten Jahres, als sich vor dem Reichstag spontan eine Assamblea bildete, nach Hause fuhren und ihre Zelte holten, noch immer mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte bekleidet, die er zuvor beim „Wörterditschen“  getragen hatte – unter einem hauchdünnen Maleranzug. Sie hatten zwischen die Bäume vor dem Reichstag Wäscheleinen gespannt und eine große, farbig besprühte Pappe mit der Frage: WAS IST DEMOKRATIE? daran aufgehängt, waren mit den Leuten ins Gespräch gegangen, hatten deren Antworten auf kleineren Pappen daneben gehängt. „Das hier ist Demokratie“ hatte Christian Ströbele geschrieben. Porteur de paroles heißt Kaskys Aktion auf Französisch. Er hatte ein deutsches Wort gesucht, das beschreibt, wie ein Stein über das Wasser hüpft, weil auch dieses Bild in dem Begriff steckt. Jemand hatte ihm gesagt, dass es „ditschen“ heißt. „Wörterditschen“.

Kaskys, der in Frankreich in der Unternehmensberatung seines Vaters als Teamtrainer arbeitet und in Berlin lebt, hatte 2009, noch bevor er ins Berufsleben eingestiegen war, die PAD-Company gegründet, um die Berliner politisch zu aktivieren. „PAD steht für Professional Amateurs & Dilettants“, erklärt er. „Amateure sind Liebhaber und ein Dilettant ist im ursprünglichen Sinn des Wortes jemand, der etwas aus purer Freude an der Sache tut.“ Kaskys möchte politisch wenig gebildeten Menschen Wissen und Know-How vermitteln, damit sie eine eigene Haltung entwickeln und sich ihrer Stärke bewusst werden. Es ist diese Idee, die auch den weltweiten Demokratiebewegungen, vom Arabischen Frühling bis zu Occupy, zugrunde liegt. Doch sie ist nicht neu.

2010 traf Pierre Kaskys auf einem politischen Festival die Gruppe Le Pavé – französische Intellektuelle, die eine Genossenschaft für politische Bildung und Trainings gegründet haben. Le Pavé – der Name kommt aus dem 68er-Slogan „Unter dem Pflaster der Strand“- war ursprünglich ein Projekt für arbeitslose Akademiker. Sie sollten die Auswirkungen der Globalisierung auf die Bretagne untersuchen. Le Pavé bewegt sich in der Tradition der Education populaire, der Volksbildung, die in Frankreich, dem Land der ausgeprägten Klassenunterschiede und Eliteschulen, eine lange Tradition hat. Die kommunistische Partei forderte 1945 ein eigenes Ministerium für die Volksbildung. Die Konservativen verhinderten das. Heute unterstehen die Abend – und Stadtteilschulen der Education populaire dem Ministerium für Jugend und Sport. Der Begriff, mit den Jahren etwas angestaubt, wird seit 2006 von Le Pavé mit Witz und Kreativität wieder aufgefrischt. Kaskys leistete ein Praktikum in der Genossenschaft und importierte die Aktionen der „Plastersteine“ in die PAD-Company nach Berlin. „Man hat uns immer gesagt, dass die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme komplex sind, nur von Experten zu verstehen“, erzählt Kaskys. Mit dieser Haltung will sich die Bewegung der Empörten und die Occupy-Bewegung nicht länger abfinden. Die linke Tradition der Education populaire gewinnt so eine neue Bedeutung. Kaskys glaubt aber, dass basisdemokratisch geführte Versammlungen nicht ausreichen, um politischen Widerstand dauerhaft zu organisieren. „Menschen brauchen eine Struktur“, sagt er. Diese möchte er mit der PAD-Company anbieten.

Auch Kaskys hat eine Eliteschule absolviert, er studierte Politikwissenschaften am renommierten Science Po Paris. Während der Semesterferien absolvierte er eine Ausbildung zum Reserveoffizier. Manche linke Aktivisten misstrauen ihm aus diesem Grund.

Im Workshop „Petite histoire, grande histoire“ erzählt Pierre Kaskys dann von seinem Großvater, der aus einer kosakischen Adelsfamilie komme und ihm immer Vorbild gewesen sei. Bis ins hohe Alter habe er sich gesellschaftlich engagiert, zum Beispiel Hilfslieferungen in die Ukraine organisiert und sich darum gekümmert, dass strahlengeschädigte Kinder in Frankreich behandelt werden können.

Es wird einen Teil zwei des Workshops im Oktober geben. „Spannend wird es zum Schluss, wenn wir analysieren, warum wir uns politisch engagieren“, sagt Kaskys. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es persönlich erlebte oder so empfundene Erfahrungen mit Krieg und Gewalt sind.

 

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