Latenter Antisemitismus ist unter muslimischen Jugendlichen weit verbreitet. Eine Schule in Kreuzberg kämpft dagegen an – Lehrer besuchen mit ihren Schülern Orte jüdischer Geschichte in Berlin, die Sozialarbeiterin organisiert Klassenreisen nach Israel.
An einem warmen, sonnigen Junitag war das Schuljahr in der Skalitzer Straße in Kreuzberg mit einem Fest zu Ende gegangen. Die Schüler hatten Couscous-Salate zubereitet. Dazu gab es Süßigkeiten, Tee und Limonade. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen tanzte im Kreis zu orientalischer Musik. Es war ein schönes Fest für die Kinder der Sekundarschule in der Skalitzer Straße. Ein Fest, wie es in fast jeder Schule dieser Gegend stattfinden könnte.
Und doch gab es hier eine Besonderheit. An einem eigenen Stand informierte der Wahlpflichtkurs Menschenrechte über die gemeinsame Reise nach Israel. Die meist arabisch- und türkischstämmigen Schüler erzählten, wie überrascht sie waren von jenem Land, dem sie zuvor so ablehnend gegenüber gestanden haben. Und sie erzählten von ihren neuen jüdischen Freunden.
Als die Ferien vorüber sind und der Ramadan zu Ende, kommen die Jugendlichen aus Israel zum Gegenbesuch nach Berlin. Nach der gemeinsamen Woche begehen sie in der Aula ein kleines Abschiedsfest. Was sie während der Feier noch nicht wissen: Am Vorabend ist im Stadtteil Friedenau ein Rabbiner von arabisch aussehenden Jugendlichen verprügelt worden, weil er Jude ist. Der 53jährige wurde nach dem Überall ins Krankenhaus eingeliefert. Die Sozialarbeiterin der Schule, Nicole Nowarra, liest die Nachricht im Internet, als sie nach dem Fest nach Hause kommt. Wenige Tage später wird eine israelische Schülergruppe in Berlin bedroht. Ein Mädchen mit Kopftuch ist unter den Angreifern, weswegen der Verdacht nahe liegt, dass es sich auch in diesem Fall um muslimische Jugendliche handelt.
In den vergangenen Jahren hörte man von antisemitischen Übergriffen arabischstämmiger Jugendlicher vorwiegend aus anderen europäischen Großstädten. Jetzt scheint dieser gewaltbereite „neue“ Antisemitismus auch in Berlin angekommen zu sein.
Die Sozialarbeiterin Nicole Nowarra ist schockiert. Seit Jahren setzt sie sich im Schulalltag mit dem Antisemitismus junger Muslime auseinander. Sie war es, die schon zum zweiten Mal die Schülerbegegnungen in Israel und Berlin organisiert hat.
„Es beginnt damit, dass sie glauben, alle Juden seien reich“, erzählt die zierliche, blonde 43jährige, die selten lächelt. „Sie denken, McDonald müsse ein jüdisches Unternehmen sein, so groß und mächtig und reich wie die sind, was sie jedoch alle nicht davon abhält, bei McDonald essen zu gehen. Und dann kursieren Verschwörungstheorien wie, die Juden hätten die Anschläge vom 11. September inszeniert, um Muslime zu diskreditieren.“ In der gemeinsamen Woche mit den Israelis habe es heftige Auseinandersetzungen über den Nahost-Konflikt gegeben, die sie bis an die Grenzen ihrer Kraft gebracht hätten. Sie fühle sich gerade ziemlich ausgelaugt. Nowarra hat einen Master of Social Work. Früher engagierte sie sich in Projekten gegen Kinderarbeit in Afrika. Seit 1999 ist sie an der Schule. Sie ist eine Frau, die dahin gehen muss, wo es weh tut. Eine Schule in Steglitz, wo sie mit ihrer Familie lebt oder einem anderen gut bürgerlichen Berliner Stadtbezirk wäre nichts für sie. „Dort weiß man nichts über die Migrantenkinder. Man kann das Ignoranz nennen. Auf Französisch hat Ignoranz ja die Bedeutung von Nichtwissen.“
Auf den ersten Blick tut nichts weh in der 8. Integrierten Sekundarschule Skalitzer Straße. Die Schüler sind ausgelassen und fröhlich wie anderswo auch. Dass viele aus armen Familien kommen, sieht man ihnen nicht an. Vielleicht liegt es an der freundlichen Umgebung. Treppenhaus und Räume sind großzügig gestaltet, die Wände farbig gestrichen, der dunkle Holzfußboden gepflegt. Durch die großen Scheiben fällt ausreichend Licht. 1984 wurde das alte Schulhaus aus rotem Backstein anlässlich der Internationalen Bauausstellung Berlin erweitert und modernisiert. Aber Nicole Nowarra weiß von der Hoffnungslosigkeit vieler Schüler, ihren Identitätsproblemen, dem Gefühl, ausgegrenzt zu sein, von Schulschwänzerei und Drogen. 98 Prozent der Schüler haben türkische und arabische Wurzeln. Die meisten sind zwar in Deutschland geboren, aber sie identifizieren sich stark mit ihrer Herkunft. Als sie sich bei der Abschiedsfeier für die anwesenden Gäste vorstellen, sagen sie nicht, dass sie aus Berlin kommen, sondern nennen die Herkunftsländer ihrer Eltern und manchmal die ihrer Großeltern: Syrien, Libanon, Türkei und Palästina. Die Kreuzberger Schule war die erste in Deutschland, an der kein Kind deutscher Herkunft mehr anzutreffen war. Das ist über zehn Jahre her.
„Wir setzen uns mit den antisemitischen Stereotypen auseinander, hinterfragen, woher sie kommen und welche Funktion Stereotype erfüllen“, erzählt Nicole Nowarra. Es sei eine mühselige Aufklärungsarbeit. Dass die Schüler in der Begegnung die Israelis schätzen gelernt, sich sogar mit ihnen angefreundet haben und jetzt in einer Facebookgruppe auf Arabisch, Hebräisch und Englisch miteinander diskutieren, macht ihr Mut.
In diesem Jahr ist die Sekundarschule Skalitzer Straße, an der „Jude“ noch immer ein Schimpfwort ist, die erste und bisher einzige Patenschule des Jüdischen Museums Berlin geworden. Für die Schüler bedeutet das unter anderem freien Eintritt in alle Ausstellungen, für die Neuntklässler eine Geschichtswerkstatt im Museum. Wenn man in der Schule nach dieser ungewöhnlichen Patenschaft fragt, wird man nicht etwa in das Büro des Schulleiters Bernd Böttig geschoben, sondern zum Lehrerzimmer von Heiner Meise.
Es ist kurz vor 18 Uhr. „Er ist sicher noch da. Die Schule ist sein Leben“, hatte Nicole Nowarra gesagt. Der Vertrauenslehrer Heiner Meise sitzt an einem überladenen Schreibtisch am Fenster. Davor, in der Mitte des Raumes, steht ein überladener runder Tisch. Meises Büro liegt im Erdgeschoss, gegenüber dem Eingang. Im Jahr 2005, nach dem „Ehrenmord“ an Hatun Sürücü, hatten sich Vertreter aller Medien die Schulhaus-Klinke in die Hand gegeben. Hatun Sürücü und ihr Mörder, ihr Bruder, waren hier zur Schule gegangen. Heiner Meise hat diese Zeit nicht vergessen. Seit 1998 ist er an der Schule. Nach dem Überfall auf Rabbiner Alter hatte er befürchtet, dass einer seiner Schüler in den Angriff verwickelt gewesen sein könnte. Nun ist er sicher, dass dieser Schüler nicht beteiligt war. Wie er das herausgefunden hat, darüber möchte er nicht sprechen. Er habe da seine Quellen.
Heiner Meise wirkt zurückhaltend. Er spricht leise. Seine Stimme wird fast durchsichtig, als er auf dem großen, runden Tisch Platz für das Album mit den Fotos von der Israelreise mit den Schülern macht und erzählt, wie sie seinen 59. Geburtstag in Jerusalem feierten, in der Herberge Beth Ruth, wo sie zu dieser Zeit wohnten und als „muslim-group“ registriert waren: Schüler aus Deutschland, die in die Altstadt und zur Al-Aksa – Moschee ausschwärmten und islamische Devotionalien zum Sonderpreis kaufen durften, weil sie mit den Händlern arabisch sprachen. „Sie müssen unbedingt von dem Tag in Yad Vashem schreiben“, sagt er leise. Die Schüler seien überwältigt gewesen. Vielen sei das Ausmaß des Holocaust bis zu diesem Tag überhaupt nicht klar gewesen. Und wie sensibel sie die Zeitzeugin befragt hätten. Auch Heiner Meise ist müde und angeschlagen nach der Rückbegegnung in Berlin und der schockierenden Nachricht über den antisemitischen Überfall. Aber seine Rede auf der Abschiedsveranstaltung hat den meisten Applaus bekommen. Die Schüler mögen ihn.
Neben seinem Schreibtisch fällt ein Plakat mit arabischen Schriftzeichen ins Auge. „Das Ausstellungsplakat einer Sammlung islamischer Kunst, die 2010 im Gropiusbau gezeigt wurde“, erklärt Meise. „Dies ist das Deckblatt der wissenschaftlichen Abhandlung von Avicenna, einem persischen Gelehrten.“ Heiner Meise interessiert sich für islamische Kultur und Religion. „Ich kann doch nicht jahrzehntelang mit Menschen einer anderen Kultur zusammen sein, ohne mir das mal anzuschauen, ohne mich damit auseinanderzusetzen“, sagt er und erzählt, dass er den Koran gelesen habe, leider nicht auf arabisch, was ihm von seinen muslimischen Schülern immer vorgehalten werde. Seinen Schülern vertraut er an, dass er manchmal betet. Aber öffentlich möchte sich der Vertrauenslehrer nicht zu seinem Glauben äußern. Es sei das Jahr 2001 gewesen, erzählt er, die Anschläge auf das World Trade Center, die Sympathie für Osama bin Laden, die einige Schüler damals bekundet hätten und der ausgerufene „Kampf der Kulturen“, die sein Interesse am interkulturellen, auch interreligiösen Dialog befeuert hätten. „Damals wurde uns klar, dass wir uns mit den antisemitischen Vorurteilen der Jugendlichen auseinandersetzen müssen.“ Heiner Meise ist Geschichtslehrer. Mit jedem seiner Kurse besucht er mehrmals das Jüdische Museum. Die Verständigung, die Aussöhnung zwischen Muslimen und Juden, ist ein großes, persönliches Anliegen für ihn.
„Er kennt sich im Nahost-Konflikt so gut aus wie kaum ein anderer Lehrer“, sagt Nicole Nowarra. „Für viele ist das vermintes Gelände. Sie wagen sich da nicht hin. Deshalb können sie auch nicht in dem Maße auf die Fragen der Schüler eingehen wie er.“ Ganz offensichtlich sind es dieses Wissen und die Kompetenz, die Heiner Meise den Respekt seiner Schüler eintragen.
Nicole Nowarra und Heiner Meise werden in ihrem Engagement unterstützt von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, KIGA, den Bildungsbausteinen gegen Antisemitismus des Bildungsteam Berlin-Brandenburg und natürlich dem Jüdischen Museum. Der Schulleiter Bernd Böttig findet gut, was seine zwei Mitarbeiter da auf die Beine stellen. Er habe Respekt und ließe ihnen völlig freie Hand, unterstütze sie auch. Ist ihm wirklich klar, was die Patenschaft mit einer Institution wie dem Jüdischen Museum für den Ruf der Schule bedeutet? Weiß er, wie viel Zeit Berliner Eltern daransetzen, die passende Schule für ihre Kinder zu finden, um anschließend um die Plätze in den besten Schulen der Stadt zu kämpfen? Hat er eine Ahnung, was es für das zukünftige Schülerpotential bedeutet, dass diese beiden Pädagogen sich weit über Mittelmaß hinaus verausgaben?
Mohammad geht in die 9. Klasse. Er ist groß und schmal. Über den Ohren hat er einen breiten Streifen seines lockigen Haars abrasiert. Sein Gesicht ist offen, die Züge noch weich. Er ist mit Schuljahresbeginn von seiner alten Neukölner Schule in die Skalitzer Straße gewechselt. Das war nicht schwierig, weil sein großer Bruder Achmed gerade als bester Schüler seines Jahrgangs ausgezeichnet worden war und jetzt an einem Oberstufenzentrum das Abitur macht. Achmed war nicht immer ein guter Schüler. Heiner Meise hatte sich für ihn eingesetzt, als er plötzlich immer schlechtere Noten bekam und sogar von der Schule fliegen sollte. Sein kleiner Bruder Mohammad ist wegen des Vertrauenslehrers an diese Schule gekommen. Er zeigt einen Hefter mit Zeitungsartikeln über den Angriff auf den Rabbiner. Die Schüler haben sie eine ganze Woche lang gesammelt. Im Geschichtsunterricht von Heiner Meise haben sie in dieser Woche nach dem Vorfall ausschließlich über Juden und jüdisches Leben in Deutschland gesprochen, in der Vergangenheit und Heute. Sie sind nach Schöneberg, zum Bayerischen Platz gefahren und haben die Schilder gelesen, die Auszüge aus den Nürnberger Gesetzen, die den Ausschluss der Juden aus dem gesellschaftlichen Leben und ihre Enteignung bezeugen. In Mohammads Hefter befinden sich außerdem die Geschichte einer jüdischen Berliner Familie, Karten von Israel und dem Nahen Osten. „So viele Blätter wie wir in einer Woche bei Herrn Meise gesammelt haben, habe ich in der alten Schule im ganzen Schuljahr nicht bekommen“, sagt er. Mohammad verurteilt den Angriff auf den Rabbiner. Das seien keine Moslems gewesen, meint er, denn der Koran verbiete solche Gewalt doch.
Nicole Nowarra sagt, dass es für viele Jugendliche schwierig sei, zu akzeptieren, dass im Namen dieser friedlichen Religion, der sie angehören, Gewalt geschieht. „Sie negieren diese Vorfälle dann. Auch darüber führen wir viele Auseinandersetzungen. Sie können mir glauben: Dass einige Jugendliche unsere Schule mit einer offenen, reflektierten Haltung verlassen, war ein hartes Stück Arbeit.“