Leben mit Leerstelle

Der Schriftsteller André Kubiczek, seine laotische Mutter, eine ostdeutsche Kindheit und der Versuch, das Fremdsein zu verstehen

Foto: © Stefan Pramme

André Kubiczek ist im Prenzlauer Berg geblieben. Er mag die Gegend, in der schon sein erster, 2002 erschienener Roman „Junge Talente“ spielt, auch wenn die Straßen heute nicht mehr grau und kohleverrußt sind wie damals in den letzten Jahren der DDR, in die sein erstes Buch führt. Mit seiner unaufgeregten, zurückhaltenden Art verkörpert Kubiczek noch immer etwas vom Lebensgefühl der alten Szene, die hier so gut wie ausgestorben ist.

Es scheinen mindestens drei Kinder bei ihm zu leben: Volle Kleiderhaken auf Hüfthöhe im Flur, gebastelte Figuren auf dem Schränkchen daneben, eine Wand voller Kinderzeichnungen in seinem Arbeitszimmer. Doch alle diese Spuren stammen von einem Kind, seiner achtjährige Tochter, die jede halbe Woche bei ihm lebt. „Dieses hier, das war ihre erste gegenständliche Zeichnung.“ Kubiczek weist auf ein Bild, dessen „Gegenstand“ jedoch nicht genau erkennbar ist. „Ein Mensch“, erklärt er. „Ein Gesicht mit Augen, Nase und Haaren, und einem Körper, allerdings fehlen die Arme und Beine.“

Die achtjährige Tochter kommt in seinem neuen autobiografischen Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ nicht vor, obwohl die Handlung bis in die Gegenwart reicht. „Das Buch ist beides, autobiografisch und fiktiv“, erklärt der Autor. Weitgehend authentisch ist die Familien- und Kindheitsgeschichte im ersten Teil. Auch André Kubiczek hat nun also ein Werk für den Kanon der DDR-Kindheitsbücher geschaffen. Der Roman, der die enge DDR teilweise verlässt und in die Heimat von Kubiczeks Mutter, nach Laos führt, ist atemberaubend und in vieler Hinsicht besonders. Für den Autor allerdings war es ein schwieriger Stoff.

Es sei nicht seine Idee gewesen, diese Geschichte zu erzählen, sagt Kubiczek. Er habe eigentlich nichts Besonderes in seiner Herkunft gesehen. Seine Agentin habe ihn eines Tages darauf angesprochen und dann gefragt: Warum schreibst du eigentlich nicht DAS?

Um für das Buch zu recherchieren, reiste Kubiczek zum ersten Mal nach Vientiane, der  Heimatstadt seiner Mutter und stieß auf die interessante politische Karriere seines Großvaters Quinim Pholsena, der für kurze Zeit Außenminister von Laos war. „Ich wusste zwar, dass mein Großvater irgendein hohes Tier in der Regierung war. Meine Mutter hatte davon erzählt und seine Orden hingen bei uns in der Schrankwand, aber mehr hat mich als Kind nicht interessiert.“ Etwas widerwillig begibt er sich in die laotische Familie. „Das ist ein richtiger Clan. Als Kind fand ich es schön, wenn die Tanten und Onkels und meine Großmutter uns besuchten. Dann war Trubel in der Wohnung. Es gab Geschenke. Es roch gut und es wurde ganz anders gekocht.“ Aber Laos sei ihm fremd geblieben, obwohl er sich lange mit der Politik und Kultur des Landes beschäftigt habe.

In Vorbereitung auf den Roman, im Interview mit dem Vater hörte er zum ersten Mal, wie sich die Eltern beim Studium in Moskau kennengelernt haben und auf welch abenteuerliche Weise die Mutter in die DDR geschmuggelt wurde. Es ist kaum nachvollziehbar, was Kubiczek über seine Familie alles nicht wusste. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Der private André Kubiczek wollte es bisher nicht wissen. Er hatte seine Kindheit wie eine alte Haut abgestreift und hinter sich gelassen. Die Familie hatte nur wenige, unbeschwerte Jahre. Kaum dreißigjährig, erkrankte die Mutter an Krebs und starb knappe zehn Jahre später. Als ihre Asche in zwei Städten beigesetzt wurde, in Potsdam und Vientiane, war André Kubiczek sechzehn Jahre alt. Für Kubiczek ist es unmöglich, die Ehe seiner Eltern als romantisches Happy End einer abenteuerlichen Studentenliebe zu sehen. Für ihn ist es der Beginn eines Niederganges. Er nennt es „die Agonie der Familie.“

In dem Regal neben Kubiczeks Schreibtisch steht ein Foto der Mutter in einem verzierten Holzrahmen. Es wirkt blass und unscharf, als wäre es stark vergrößert worden. „Das Lieblingsfoto meiner laotischen Großmutter“, sagt er. „Es hing in ihrem Zimmer. Sie wollte es mir schenken und ließ diese Kopie machen.“ Das Foto zeigt ein hübsches Mädchen von vierzehn Jahren. Vierzehn Jahre alt war die Mutter, als der von ihr selbst geschriebene Lebensbericht einsetzt. Er steht am Beginn des Romans. Die Mutter erzählt darin von der Flucht nach Kambodscha im Jahr 1960, als in Laos ein Krieg drohte, von der ersten Liebe, die sie wieder verlor, als ihre Mutter mit ihr und den Geschwistern weiter nach Vietnam flüchtete. Der Bericht bricht mitten im Satz ab. Im Roman überlegt der Autor, ob an dieser Stelle vielleicht ein Arzt das Krankenzimmer betreten hat oder die Schmerzen übermächtig wurden und sie am Weiterschreiben hinderten.

Seiner Mutter hat André Kubiczek diesen Roman gewidmet. Ihr Name Khemkham Pholsena, wird jedoch nur ein einziges Mal genannt, in der Widmung auf der letzten Seite. Im Roman heißt sie Téo. „Tèo war ihr Spitzname“, erklärt Kubiczek. „In Laos ist es üblich, den Kindern bei der Geburt so einen Spitznamen zu geben. Man tut dies, um die Geister zu verwirren und Unglück von den Kindern fernzuhalten.“

Nach dem abgebrochenen Bericht taucht die Mutter im Verlauf des Buches erst in Moskau wieder auf, diesmal aus Sicht des Vaters, streng bewacht von ihrer älteren Schwester, später, nach dem vereitelten Fluchtversuch, eingeklemmt zwischen vietnamesischen und russischen Geheimdienstlern auf einem Moskauer Bahnhof. In dem kleinen Harz-Städtchen, aus dem ihr Verlobter stammt, wird sie von der Schwiegermutter beaufsichtigt. Schließlich ist sie schwanger, heiratet und wird Bürgerin der DDR. Sie bekommt eine Anstellung in der gleichen „Akademie“ wie ihr Mann und promoviert. Der Vater erzählt noch, dass sie Schwierigkeiten mit dem Essen gehabt habe. Der Autor sagt nichts darüber, was sie dachte und fühlte, wie sie die nervliche Anspannung des Fluchtversuches verkraftet hat, wie es für sie war, in einer völlig fremden Kultur anzukommen. Er beschreibt weder ihr Gesicht, noch ihre Hände oder ihre Stimme.

Beim Lesen wartet man auf die Mutter, hofft, dass sie ihren Bericht wieder aufnimmt, während der Autor in sinnlichen, langen Satzgefügen die DDR wieder auferstehen lässt, ihre Wohnblöcke und Küchen und Kohlenkeller, die Fleischerläden und die Festessen in der guten Stube der Großeltern im Harz, das Angebot der Feinkostgeschäfte in Berlin. Kubiczek erzählt, wie man kochte, grillte, sich kleidete und zum Appell antrat. Er zeichnet detailreiche, sehr präzise Bilder. Seine Großeltern werden in allen Dimensionen sichtbar. Der Autor besitzt ein großes Talent, die Vielschichtigkeit von Charakteren zu zeigen. Kupfer, der Stuben-Schreck aus der Armeezeit, ein grober Typ mit oberflächlichen Sprüchen und aufgeriebenen Füßen, ist ein Rebell, dessen Glut man sich nicht ganz entziehen kann. Die kittelschürzige Nachbarin aus dem Wohnblock, die ihren Mann vor schickt, um sich über die exotischen Gerüche zu mokieren, die aus der Kubiczekschen Küche quellen, ist penetrant und zugleich mitleiderregend in ihren missglückten Versuchen, gütig zu sein. Kubiczeks Blick ist niemals überheblich. Er hat Zuneigung zu seinen Figuren. Seine fein beobachtende Distanz verliert er nur, wenn es um den Fahrradunfall des kleinen Bruders geht, um den Ärztepfusch an dessen Gehirn und den anschließenden körperlichen und geistigen Verfall des Jungen, bis zum Tod. Dann bricht die Wut hervor, aber sie ist völlig unbearbeitet. Der Vater bleibt blass, schweigsam, traurig am Steuer des Wagens, der ihn und den älteren Sohn an vielen Sonntagen in irgendein Krankenhaus bringt, und allein abends vor dem Fernseher mit einer Flasche Wein. Man sieht ihn meist von halb hinten. Die Mutter fehlt. Der Bericht ihres Lebens wird nicht wieder aufgenommen. „Sie ist die Leerstelle in diesem Buch“, sagt Kubiczek.  „Mehr als diese paar Seiten hat sie nicht hinterlassen.“ Er hätte seinen Vater im Interview nach ihr fragen können. Er hat es nicht getan. Vielleicht konnte er nicht. Vielleicht spürte er, dass der Vater nicht antworten kann. Er hätte nach anderen Menschen suchen können, die seiner Mutter nahestanden. Es gab diese Menschen. Er hat auch das nicht getan. Und jetzt, während des Interviews in seiner Wohnung, entgleiten die Fragen nach dem nicht gesagten, nicht gefragten. Die große, unbewältigte Trauer ist in diesem Roman eingesperrt.

Kubiczek zieht eine kleine Schachtel mit Fotos aus dem Regal neben dem Schreibtisch, Fotos wie jedes DDR-Kind seiner Generation sie irgendwo in einer Schachtel aufbewahrt. Schwarz-weiß-Aufnahmen von Ausflügen in die Mittelgebirge des Landes, die Jungen in Lederhosen, die Mutter, gerade mal einen Kopf größer, in weiten, hellen Schlaghosen.

Er erinnere sich, dass die Kinder im Wohngebiet ihn manchmal „Chinese“ gerufen haben. Es sei nicht böse gemeint gewesen, aber genervt habe es ihn trotzdem. „Wenn man Kind ist, möchte man so sein wie alle. Man möchte nicht anders sein.“ Aber Fremdenfeindlichkeit habe er erst in den Neunzigerjahren erlebt, erzählt Kubiczek, während seiner Studienzeit in Leipzig und in Berlin. Sogar durch den Prenzlauer Berg seien damals Nazihorden gezogen. In Potsdam sei er einmal angegriffen worden, habe sich mit ein paar Fußtritten gerade noch verteidigen können, dann aber das Geschoss aus einer Gaspistole im Rücken gespürt. „Wenn man so etwas erlebt, wird man paranoid.“ Er habe in seinem Roman eigentlich auch über diese Zeit geschrieben. Dem Lektorat sei das dann aber zu viel gewesen. „Eigentlich“, sagt Kubiczek, „habe ich beim Schreiben an meine Tochter gedacht. Sie soll einmal mehr in der Hand halten als die paar Seiten, die meine Mutter hinterlassen hat.“  Er kann sich vorstellen, aus den 300 Seiten, die nun rausgeflogen sind, den nächsten Roman zu schreiben.

Im zweiten Teil des Buches, der zehn Jahre vor und nach der Jahrtausendwende spielt, wird die Geschichte spürbar fiktiver. Der Autor führt seine Figuren jetzt in typisch ostdeutsche Lebensproblematiken, die zwanzig Jahre nach der sogenannten Wende deutlicher werden als zuvor. Das ist Kubiczeks eigentliches Thema, das Thema seiner Generation. Hier fühlt er sich Zuhause. Man hat den Eindruck, dass er auch heute auf keinen Fall etwas anderes, besonderes sein will, kein Experte für Doppelidentitäten oder – Staatsbürgerschaften, kein Spezialist für laotische Fragen, der in Talkshows eingeladen wird.

 

 

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