Illustration © Claudia Pomowski. (http://www.c-pom.de)
Dann feiern wir eben, wenn alle wieder zu Hause sind, hatte Hannes gesagt. Zwischen den Jahren, hatte er gesagt, und Karla hatte gedacht: Zwischen den Stühlen.
Der Tisch war gedeckt. Es standen keine Stühle ringsum, sondern zierliche Sessel. Karla hatte sich in der Wanne quer gesetzt, ließ die Beine über den Rand baumeln und betrachtete durch die geöffnete Badezimmertür den gedeckten Tisch in der Küche. Weiße Teller. Darauf lagen die Geschenke. Sie würde noch Kerzen dazu stellen und Hannes müsste unbedingt Blumen vom Markt mitbringen. Sie rief ihn an. Er war gerade beim Fischhändler und konnte sich nicht entscheiden. Flussbarsche? – Ja, aber lass sie unbedingt schuppen und ausnehmen. – Klar. Und wofür die Blumen? – Für den Tisch. Ich meine, Weihnachten ist doch jetzt wirklich vorbei. Wir müssen nicht mit Tannengrün oder so anfangen. – Na gut. – Lass dir Zeit, ja? Ich brauche hier noch ein bisschen.
Karla ließ das Wasser ab, schälte sich umständlich aus der Wanne und griff bibbernd nach einem Badetuch. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt ihre Füße waren. Sie erschrak.
Zwischen dem Wäschekorb und der Wanne klemmte Bolek, Marikens Tierpuppe. Das Ziegenböckchen war abgestürzt. Karla befreite die Puppe. Mariken konnte nicht ohne Bolek sein. Sie ging nirgendwohin ohne ihr Ziegenböckchen. Sie schlief nicht ein ohne ihn. Karla zählte nach. Es waren schon fünf Tage. Seit fünf Tagen war Mariken bei ihrem Papa. Es musste passiert sein, als sie sich nach dem Frühstück die Zähne geputzt hatte und ihr Papa schon an der Tür gestanden und gedrängelt hatte. Wieso hatten sie nicht angerufen? Karla hätte Mariken die Puppe nicht nur bis ans andere Ende der Stadt, sondern bis ans andere Ende der Welt nachgetragen. Mariken musste doch sofort bemerkt haben, dass ihre Puppe fehlte. Sie setzte Bolek im Auto immer auf ihren Schoß, bevor der Sicherheitsgurt um sie beide geschlossen wurde. Sicher hatte sie geweint und gebettelt, Bolek holen zu dürfen. Ihr Papa hatte ihre Tränen einfach ignoriert, war zu faul gewesen, die vier Treppen noch einmal hoch zu traben, hatte ihr eingeredet, dass die anderen Spielzeuge bei ihm, die Puppen und Kuscheltiere viel schöner waren. Und jetzt hatte sie auch noch ein Brüderchen bei Papa. Und den Hund sowieso. Mariken hatte dem Böckchen für Weihnachten ein geblümtes Festkleid angezogen, wie das, das sie selbst trug.
Karla hielt den Kopf der Puppe wie den eines Neugeborenen in der Hand. Sie streichelte den schmalen, weichen Körper. Sie wiegte das Böckchen und drückte es an ihre Wange. Sie küsste es. Ihre Tränen liefen in das Fell zwischen Boleks Hörnern, die fest waren, aber auch weich und weiß. Ausgerechnet zu Weihnachten waren Mariken und Bolek zwangsgetrennt. Zu Weihnachten vor zwei Jahren hatte sie die Tierpuppe geschenkt bekommen, von Valentin, Karlas Bruder.
Er hatte Bolek in einem Laden für anthroposophische Spielsachen entdeckt und sofort erkannt, dass der freundliche Ziegenbock Marikens Gefährte sein würde. Nur Valentin hatte die Begabung, so etwas zu sehen. Er konnte in jemandes Haut schlüpfen und darin spazieren gehen. Eine kleine Spur dieser Begabung hatte Karla auch an sich entdeckt, neulich, als der Oberarzt ihre diagnostischen Fähigkeiten gelobt hatte. Es sei, als ginge sie in den Körpern ihrer Patienten spazieren, hatte er gesagt. Karla trocknete die Tränen am Badetuch und trug frische Creme auf ihr gerötetes Gesicht auf.
Hätte sie früh genug gewusst, dass Hannes zu Weihnachten ebenfalls weg sein würde, hätte sie einen Flug nach Salzburg gebucht, wo Valentin am Heiligen Abend einen Auftritt gehabt hatte. Dann wäre diese alberne Geschichte zu Weihnachten nicht geschehen und sie würde sich jetzt besser fühlen. Mit Valentin, das waren die schönsten Heiligen Abende, schon damals in Rostock, als Mariken noch nicht geboren war und Valentin ein festes Engagement am Theater gehabt hatte und eine eigene, große Wohnung. Einmal hatte sie ihn zu einem Konzert in einem alten Schloss begleitet. Hinterher hatten sie gesessen und geredet.
Immer saßen sie dann und redeten. Sie brauchten kein Kaminzimmer. Wo sie zusammensaßen und redeten, war ein Kamin.
Karla trug Kissen vom Sofa und stapelte sie in den Sessel an Valentins Platz und setzte Bolek auf diesen kleinen Thron, damit er über die Tischkante schauen konnte. Sie streichelte seine schwarz aufgestickten Vorderhufe. Sie legte das Besteck an Valentins Platz auf die linke Seite. Sie sah ihren Bruder vor sich, sein verstrubbeltes, blondes Haar, die großen Augen und wie er ihren Gedanken mit einem kleinen Lächeln folgte, auch denen, für die sie keine Worte fand:
Letztes Jahr habe ich verstanden, dass Hannes seine alte Familie am Weihnachtsabend braucht. Du hast das Hin und Her die ganzen Jahre ja mitbekommen. Die Trennung ist ihm letztendlich echt schwergefallen. War eine Tragödie. Ich kenne seine Familie. Die sind alle toll. Hannes ist viel zu fein und zu sensibel, mich spüren zu lassen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Aber ich hab’s gespürt. Dieses Jahr war ich, na ja, sagen wir irritiert, als er sagte, dass er zu Weihnachten wieder zu seiner alten Familie fahren muss. Eine Woche vorher hat er es mir gesagt. So lange hat er mit sich gekämpft. Kannst du dir das vorstellen? Sobald die ersten Lichterketten in der Stadt hingen, hat ihn diese Unruhe erfasst. Nostalgie. Erinnerungen. Der ganze Mist. Seine Kinder sind fast erwachsen. Die haben gar keine Lust mehr auf Weihnachtsbaum und Liedersingen und Bescherung. Die ziehen los, auf Partys. Wie wir damals! Erinnerst du dich? Zur Hölle! Hannes Zuhause ist jetzt hier. Seine Entscheidung. Feigling! Wir hätten eine fantastische Heilige Nacht zelebrieren können! Wir waren allein. Mariken war bei ihrem Vater.
Es fällt mir schwer ‚seine Frau’ zu sagen. Sie sind immerhin noch verheiratet. Ich habe es nie für wichtig gehalten, verheiratet zu sein. Hat mir ja auch eine Menge Ärger erspart. Aber jetzt erscheint es mir vorstellbar, sogar schön auf eine gewisse Weise, zu sagen ‚mein Mann’. Hast du jemals daran gedacht zu heiraten, Tinchen? Damals Susann? Jetzt hast du nicht einmal einen festen Wohnsitz, nur noch eine Postadresse und dein Zimmer bei uns. Aber du könntest wieder eine große Wohnung haben. Du bist gut. Du willst nicht, stimmt’s? Wir müssen frei sein.
Hannes hat mir erzählt, dass die Menschen im Paläolithikum geglaubt haben, das Weltenrad könne in der Zeit der Wintersonnenwende aus den Fugen geraten. Deshalb war diese Zeit so heilig für sie und jede Aktivität verboten blabla. Die Sonne gerät im Dezember ins Stolpern und Stocken, also mal werden die Tage kürzer, dann wieder länger, dann nur vorn kürzer oder hinten. Ich hab’s mir nicht genau gemerkt. Ist ja auch minimal. Das geht bis in den Januar, ungefähr bis Heilige Drei Könige. Dann läuft die Sonne wieder rund. Na ja, und die Steinzeitmenschen haben das genau beobachtet. So etwas erzählt Hannes den Kindern im Museum. Ich bin sicher, sie mögen ihn. Er kann gut mit Kindern. Mariken liebt ihn. Allerdings sagt er, er kann sie nicht so lieben wie seine eigenen Kinder. Deshalb ist er dagegen, dass wir noch ein Kind bekommen. Er findet es nicht fair gegenüber Mariken. Das ist doch rücksichtsvoll gedacht, findest du nicht?
Mariken hat allen Leuten strahlend erzählt, dass sie zweimal Weihnachten feiern wird. Und mich haben sie dann mitleidig angeschaut, weißt du, wie eine, deren Weltenrad total aus den Fugen ist. Je älter ich werde, desto anziehender finde ich Sicherheit.
Karla hatte den Heiligen Abend mit einem Mann verbracht, dem sie einige Wochen zuvor erste Hilfe geleistet hatte, nachdem er mit dem Fahrrad gestürzt war. Seine Schulter war ausgekugelt. Sie hatte auf dem Bürgersteig hinter ihm gesessen, ihn gehalten und beruhigend auf ihn eingeredet und sich daran erinnert, wie sie einmal am Strand zwischen den Steinen eine abgestürzte Uferschwalbe gefunden und zum Tierarzt gebracht hatte. Ihr Flügel war gebrochen. Schwerlos und zart hatte der Vogel in ihren Händen gelegen. Sein Herz hatte heftig gepocht.
Am Weihnachtstag, nachdem Mariken zu ihrem Papa und seiner neuen Familie gefahren war und Hannes sich verabschiedet hatte, um zu seiner alten Familie zu fahren, hatte sie diesen Mann angerufen. Den Heiligen Abend musste sie begehen, egal wie. Er musste aus der Zeit fallen, besonders sein. Sobald Ende August die ersten Spekulatius im Supermarkt auftauchten, freute sie sich auf diesen Abend. Die zwei Feiertage danach waren für sie lediglich der Raum hinter der Ziellinie, in dem die Sprinter ausliefen, weil sie nicht sofort stoppen konnten. Karla brauchte nicht unbedingt eine Familie, um den Heiligen Abend zu begehen. Als Mariken noch nicht geboren war, hatte sie auch gern gearbeitet. Sie hatte den Dienst am Weihnachtsabend wie ein Schweben empfunden. Die Stimmung auf Station hob diesen Tag aus allen anderen heraus. Karla konnte sich vorstellen, die Heilige Nacht draußen auf der Straße zu verbringen und Leute anzusprechen, die gezwungenermaßen draußen waren: Obdachlose, Polizisten, Feuerwehrleute, Busfahrer.
Sie war dann zu diesem Mann gefahren. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen, als sie gekommen war, in seinem Büro, inmitten grauer Ordner. Er arbeitete sogar am Weihnachtsabend. Er hatte ihr irgendwie leidgetan.
Am nächsten Morgen hatte sich ein schales Gefühl in ihr ausgebreitet. Es war ein düsterer Wintertag gewesen. Hannes hatte sie nicht angerufen, die ganze Heilige Nacht lang nicht. Sie stellte sich vor, wie er ihr zu Hause die Tür öffnen und sie fragen würde, wo sie gewesen war und wie sie beiläufig sagen würde: Bei einem Freund. Während sie den Kühlschrank ansteuerte, um ihn zu inspizieren. Sie hatte sich ausgemalt, was in Hannes Kopf dann passieren würde. Sie hatte sich bei der Vorfreude auf seine Eifersucht ertappt.
Aber Hannes war gar nicht zu Hause gewesen. Er hatte bei seiner Frau übernachtet.
Sie hatte in der leeren Wohnung gestanden. Das Licht war fahl. Ein paar Nadeln waren vom Baum gerieselt.
Karla stand noch immer in ihr Badetuch gehüllt in der Küche. Bolek auf seinem Thron lächelte sie an. Sie nahm das Telefon. Hannes sagte, er sei gleich zu Hause. Sie sagte: Ich möchte dich heute nicht mehr sehen. Fahr zu deiner Familie. Da ist dein Zuhause. Nimm die Barsche mit. Sie legte auf, nahm Bolek, drückte ihn an sich und lief nach vorn in Valentins Zimmer und schaute aus dem Fenster. Hannes stand unten, in einer Hand die Plastiktüte mit den Fischen, in der anderen sein Telefon. Neben ihm auf dem Bürgersteig lag der Blumenstrauß. Er blickte auf sein Display und stand eine Zeitlang völlig reglos. Dann schaute er sich um, wie um zu verstehen, wo er war. Er zog den Wagenschlüssel aus der Manteltasche und entsperrte das Auto. Sie hörte das Geräusch und sah den Wagen aufblinken. Hannes nahm die Blumen auf und lief zum Auto. Sie blieb stehen und schaute, wie er aus der Parklücke rangierte und wegfuhr.
Sie atmete auf. In zwei Stunden würde Mariken hier sein. Valentins Flug war pünktlich gelandet. Das hatte sie vorhin in der Badewanne recherchiert. Es würde ein Weihnachtsabend werden wie vor zwei Jahren, als er Bolek mitgebracht und sie miteinander gespielt hatten und dann, als Mariken endlich eingeschlafen war, bis in die Morgenstunden geredet hatten. Ohne Kamin. Ohne Sekt. Nur sie beide. Zwischen den Jahren.