Kathrins Notiz-Blog 28. Dezember 11

© Illustration Liane Heinze

Von meinem Platz im Küchenfenster halte ich den schmalen Lichtstreifen im Blick, der aus der angelehnten Garagentür fällt. Ich rechne eigentlich nicht mehr damit, dass die Tür sich in den nächsten Stunden öffnen und Leon erscheinen und hoch zu mir kommen und fragen wird, ob wir zusammen etwas kochen.

Heute ist Weihnachten. Ich habe den Tisch in der Küche aufgeräumt und eine rote Kerze darauf gestellt und ein paar Walnüsse ringsherum verteilt. Es könnte losgehen. Aber Leon feiert allein unten in der Garage. Er beschert sich selbst. In den letzten Tagen sind ein paar Fahrradrahmen aus den Achtzigern mit der Post aus Amsterdam eingetroffen. Ich habe geholfen, sie nach Hause zu tragen.

Im Fenster wird es kühl. Der Wind drückt gegen die Scheibe. Meine Füße sind kalt. Sie stecken in löchrigen Wollsocken. Ich könnte etwas Neues gebrauchen. Die rote Kerze auf dem Tisch brennt ruhig. Vielleicht würde es mir nichts ausmachen, wenn ich niemandes Frau wäre. Arbeiten könnte ich an diesem Abend wahrscheinlich nicht. Weihnachten bleibt etwas Besonderes in meinem Herzen, auch wenn ich die Art, wie die meisten es begehen, ablehne.

Es geht auf sieben. Ausgerechnet der Heilige Abend ist der längste des Jahres. Für die meisten beginnt er um sechs, einige fangen schon um fünf Uhr damit an.
Neben der roten Kerze liegt schwarz und flach mein Telefon. Jolanda ist mit Jakob zu seinen Eltern gefahren. Jakob hat richtige Eltern im passenden Elternalter, so um die Fünfzig, Vater und Mutter mit guten Berufen und einer richtigen Elternwohnung, in der man sich in ein Sofa lümmeln und den Fernseher anschalten kann.

Einmal haben Leon und ich in einem Geschäft vor einem Ledersofa gestanden und ernsthaft überlegt, aber dann schienen uns andere Dinge wichtiger.

Ich wähle Koljas Nummer. Er hält die Luft an, als ich sage, dass ich ihn gern sehen würde. Einen Moment lang höre ich nur die Laute in seiner Umgebung: Ellas Plappern und die Stimme von Koljas Mutter, wie dunkler Samt, dahinter Weihnachtsmusik. Koljas Frau höre ich auch, obwohl sie elfenhaft lautlos zwischen Küche und Esstisch hin und her huscht. Dann setzt Koljas Atem wieder ein. Er lacht. Er schlägt vor, sich in zwei Stunden im Büro zu treffen.

Ich schleiche ohne ein Wort an der Garage vorbei nach draußen. Die U-Bahn ist fast leer, die Straßen rings um das Architekturbüro wie ausgestorben. Viele Fenster sind dunkel. Jeder, der heute allein ist, verlässt sein Haus und drängt mit anderen Menschen um einen Tisch. Die Stadt wird komprimiert, der Energieverbrauch um mehr als die Hälfte reduziert. Mehr Liebe – das ist die Formel der Energieeffizienz.

Das Büro im ehemaligen Heizhaus ist grell erleuchtet. Durch die kahlen Forsythienzweige sehe ich Kolja in seiner Lederjacke am Monitor sitzen.
Er schließt die Tür auf, umarmt und küsst mich. Zu euphorisch. Ich winde mich frei.

„Du bist wirklich gekommen“, sage ich. „Wieso?“

„Man kann diesen Abend nur so verbringen.“

„Wie?“

Kolja zieht mich in der Taille an sich. „Mit dir. Mit einer Frau, für die man alles aufs Spiel setzt. Ich war so glücklich, als du angerufen hast.“

Er sieht blass aus. Oder liegt das am Neonlicht? Vielleicht hat ihn sein eigener Mut erschreckt. Ich spüre sein kaum sichtbares Zittern. „Liebst du mich?“ fragt er.

Ich schüttele den Kopf. „Nein.“

„Wunderbar!“ Kolja schwingt mich im Walzerschritt bis zu seinem Schreibtisch. Er duftet nach Leder und einem frischen Parfüm. „Lass uns keine Zeit verlieren, ja?“ Er dreht mich weiter zu den Lichtschaltern, knippst sie im Vorbeitanzen aus. Es ist sehr dunkel. Hinter den Forsythien auf der anderen Hofseite leuchten einige Lichtpunkte in der Fassade, kleine Fenster, verziert mit Gardinen, Papier – und Strohsternen und Schwippbögen. Diese kleinen Fenster deprimieren mich jedesmal, wenn ich hier bin. So klein ist der Platz, den sich zwei Menschen teilen. So schnell sind sie vergessen. Wir werden ihre Geschichten niemals erfahren.

Mein Pullover sprüht beim Ausziehen Funken. Wir knistern beide. Koljas Hände lesen meine Haut wie seine Augen tags mein Gesicht lesen. Langsam werden unsere Umrisse in dem spärlichen Licht von draußen sichtbar. Koljas Zähne schimmern. Es ist seltsam, in diesem großen Raum nackt zu sein. Ich nehme Koljas Hand und lege sie auf die nackteste Stelle meines Körpers, wo kein einziges Haar mehr ist.

„Warum machst du das?“ fragt er.

„Gefällt es dir?“

Er antwortet nicht. Mit Kolja tut die Liebe nicht weh. Er ist kleiner und leichter als Leon. Er bricht nie in Schweiß aus. Er liebt mich wie er ein Buch liest. Er blättert langsam die Seiten um. Er bleibt aufmerksam und konzentriert, solange ich aufgeschlagen vor ihm liege.

Wir haben nichts in diesem Büro, nur Wasser aus der Leitung und Koljas Zigaretten. Also sitzen wir später, noch immer nackt, mit einem Glas Wasser und einer Zigarette auf dem Schreibtisch, die Füße auf der Heizung und blicken hinaus zu den Lebens-Lichtern.

„Jetzt sind alle schon fix und fertig vom Essen und Fernsehen.“ Kolja kichert. Leon, denke ich, wird irgendwann Hunger bekommen haben und rauf in die Wohnung gegangen sein. Er wird sich gewundert haben, wo ich bin. Ich habe das Telefon seinetwegen nicht ausgeschaltet. Ich möchte wissen, wann er anruft. Aber er ruft nicht an.

Zuerst hören wir Sting. „A soul cake, a soul cake, please, good misses, a soul cake, an apple, a pear, a plum or a cherry, any good thing to make us all merry, a soul cake, a soul cake….“ Wir springen umher. Später James Blake. „There is a limit to your love, like a waterfall in slow motion, like a map with no ocean….“ Ich halte Kolja, als wäre er der letzte Mensch, den ich treffe, am Ende der Welt. Gleich stürze ich vom Rand der Scheibe in das endlose Meer der Bedeutungslosigkeit. Die Computer hocken in der Dunkelheit wie stumpfe Tiere und sehen teilnahmslos meinem Ende zu. Die Lichter drüben erlöschen nach und nach. Die Leute gehen zu Bett. Wir kriechen in Koljas Schlafsack. Als wir uns endlich Ruhe geben, kann ich nicht einschlafen. Ich krieche nach draußen und suche in der Dunkelheit mein Telefon. Das Display leuchtet auf. Kein Anruf. Ich rauche noch eine Zigarette gegen den Hunger und blicke durch die große Scheibe in die Nacht, die jetzt nur noch von den Lichtern des Fernsehturms beleuchtet wird, die sich in den Wolken spiegeln.

Als ich am nächsten Tag nach Hause komme, ist der Lichtstreif aus der Garagentür genauso breit wie am Abend davor. Die Küche ist unberührt, ebenso das Bett. Ich lasse meinen Mantel im Flur fallen und gehe in den Hof, um zu schauen, ob Leon noch lebt. Von dem grauen Rasen aus höre ich Leon arbeiten. Er hat die Nacht also durch gemacht. Ich steige die Treppen wieder hinauf. Ich bin plötzlich müde. In der Badewanne presse ich mich so dicht wie möglich an den heißen Wasserstrahl. Kolja ist auf dem Weg zurück in die Märkische Schweiz, wo zwei Frauen mit einem festlichen Mittagessen auf ihn warten. Wir haben zusammen noch einen Kaffee getrunken, in dem Café vorn an der Ecke. Wir waren die einzigen Gäste.

Und Leon hat nicht einmal bemerkt, dass ich fortgegangen bin. Die Nacht hinterlässt keine Frage, nicht einmal die geringste Spur eines Zweifels.

Kathrins Notiz-Blog 8. Dezember 11

© Illustration Liane Heinze

Ich habe schon jetzt dieses 1. Januar-Flattern. Es will nicht gemütlich werden um mein Herz. Die leeren Blätter des neuen Kalenders machen mir Angst. Wo werde ich leben? Was werde ich tun?

Vor ein paar Wochen hat Synne seine Wohnung in der Karl-Marx-Allee bezogen. Er war zufrieden mit meiner Arbeit. Er hat die Räume, die Kolja und ich gestaltet haben, mit großer Selbstverständlichkeit eingenommen, wie jemand, der an funktionierendes Personal gewöhnt ist. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, aber ich hatte etwas mehr Anerkennung erwartet.

Synne hat Kolja und mich zu einem Konzert in eine düstere, archaische Halle im Wedding eingeladen. Dort wurde eine seiner Kompositionen gespielt. Sie gefällt mir. Ich fand mich darin wieder. Synne hat meinem Anfang-Januar-Gefühl-mitten-im-Advent einen Klang gegeben. Es klingt, als ob hauchdünnes Glas in Zeitlupe zerbricht, so dass man zuschauen kann, wie die Splitter durch die Luft wirbeln.

Sicher bin ich völlig unbegabt. „Was willst du denn? Wir haben unseren Job gemacht und er hat bezahlt“, sagt Kolja in der Pause. Er stützt sich mit dem Ellbogen auf der klebrigen Bar ab. Er trägt die Lederjacke offen und rollt nervös eine Zigarette in den Fingern. „Kommst du kurz mit raus?“

Das ehemalige Werksgelände ist verlassen. Durch die Lichtkegel der Lampen sprüht feiner Regen. Es ist kalt. Ich bibbere. Mein Mantel liegt drin, auf der Lehne des Plastikklappstuhls.

„Hast du den Birkenast im Fenster an Synnes Arbeitstisch gesehen?“

„Klar“, sagt Kolja.

„Ich habe ihn auf der Straße gefunden und mit geschleppt. Das hätte ich doch nicht tun müssen, oder? Unsere Arbeit ist doch ein bisschen mehr als ein Job…genauso wie die Musik. Synne möchte auch wissen, ob uns sein Stück gefallen hat. Wir sagen doch nicht: Er hat seinen Job gemacht und wir haben bezahlt.“

„Ist aber so“, sagt Kolja. „Von den meisten Leuten bekommt er kein Feedback, es sei denn, sie fanden es unmöglich. Man klatscht ein bisschen, steht auf und geht nach Hause.“

„Na komm, erstens wird unterschiedlich geklatscht und dann passiert da doch noch was. Man redet darüber, wenn man nach Hause geht.“

„Was geredet wird, hört er ja nicht. Der Künstler bleibt allein zurück“, sagt Kolja. „Wenn er Glück hat, geht jemand mit ihm essen. Wenn er noch mehr Glück hat, findet er in irgendeinem Blog eine Kritik. Das war’s.“

Kolja fand meine Arbeit gut, aber auch er sagt das ohne Begeisterung. Begeisterung scheint uncool zu sein.

Ich bin sicher, Leon hätte den Birkenast auch mit geschleppt. Leon hätte ihn auch mit geschleppt, wenn er dreimal so schwer gewesen wäre. Aus purer Begeisterung über seinen Fund. Leon ist ungefähr so uncool wie ich. Er hätte Synne so lange von dem Ding geschwärmt, bis der wenigstens einen anerkennenden Pieps von sich gegeben hätte.

Kolja ist mir nahe, wenn er meinen Körper und mein Gesicht liest. Aber sobald er sich abwendet, reißt die Verbindung zwischen uns. Leon ist mir immer noch nicht fremd. Er ist immer noch mein Verbündeter.

Aber jetzt: Der neue, saubere Kalender, die leeren Seiten, mit denen ich wieder nicht klar kommen werde, weil meine Schrift zu groß und zu chaotisch ist, die Ungewissheit, die vor mir liegt, gehalten in einer Struktur aus Monaten und Tagen, die ich mit Terminen füllen, die ich abhaken und sogleich vergessen werde, ein ganzes Buch voll Zeit, für die der weitere Verlust der Liebe vorausgesagt ist, die also nicht zählt.

Kathrins Notiz-Blog 28. Oktober 11

© Illustration Liane Heinze

„Ich kann jeden Tag eine andere Wohnung einrichten, aber nicht mein eigenes Leben.“

Koljas Mutter nickt mir zu mit einem Lächeln, von dem ich nicht weiß, ob es Anerkennung ist für die Wohnungen oder Gewissheit, dass ich das mit dem Leben auch noch hinbekomme. Ich sitze gleich links, wenn man in das Haus tritt, auf dem Sofa, unter den Büchern. Im Kamin glühen noch ein paar Holzstücke. Koljas Mutter trägt wieder das wollene Tuch mit den langen Fransen. Sie hat es fester um sich geschlungen im Laufe meiner Erzählung. Sie sitzt mir zugeneigt mit diesem freundlichen, konzentrierten Blick. Ihr kurzes, lockiges Haar ist vor den Ohrmuscheln zu akkuraten, spitz zulaufenden Locken geschnitten.

„Ich wollte Sie wiedersehen, weil ich glaube, dass Sie solche Gefühlszustände kennen“, sage ich.

Sie nickt. „Ich freue mich, dass Sie wiedergekommen sind.“ Sie hat Kaffee gekocht. Der Apfelkuchen, den sie dazu serviert, ist selbst gebacken.

„Ich verstehe Ihre Verunsicherung“, sagt sie. „Manchmal spürt man nur, dass etwas nicht stimmt, man will das nicht wahrhaben, man hört nicht auf das eigene Gefühl, man macht weiter…aber irgendwann weiß man, dass es Zeit ist zu gehen.“

„Wann?“

„Das ist schwierig. Manchmal wartet man zu lange.“

Wann ist ‚zu lange’?“

Sie schaut aus dem Fenster. Ihr Blick ist plötzlich nüchtern, fast kalt. Sie holt Luft. Dann kehrt sie schnell zurück, wieder freundlich. „Ist Ihnen warm genug?“

Ich nicke, aber sie steht trotzdem auf und wirft ein paar Holzscheite in den Kamin.

„Zu lange“, wiederholt sie. Sie schaut in das Feuer. „Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Sie tun auch richtig daran, auf die Liebe zu vertrauen, zu hoffen…an etwas zu glauben, das Sie miteinander verbindet. Tun Sie nichts überstürzt!“

Sie setzt sich wieder in den Sessel. Die Holzscheite krachen auseinander.

„Wenn man jemanden verlässt, verliert man so viele Dinge. Es ist, als ob man die Verankerung aus seinem Herzen fetzt“, sage ich.

„Denken Sie an sich. Passen Sie auf sich auf.“

Wie passt man auf sich auf, will ich sie fragen, aber ich schlucke die Frage hinunter.

„Vertrauen Sie Leon?“

„Ich weiß nicht…doch, ich glaube schon, in dem Sinne, dass er mir nichts vormacht. Aber er ist nicht gerade der Sicherheitsfaktor meines Lebens, falls Sie das meinen.“

„Es wäre gut, wenn Sie irgendwo etwas Ruhe finden könnten, einen Platz für sich“, sagt Koljas Mutter. „Einen Raum, in dem sie beginnen, aufzuräumen, zuerst Ihren Kopf, danach Ihr Herz, so lange, bis Sie sich völlig bei sich fühlen.“ Als sie das sagt,fühle ich mich wieder wie als Teenager, unbehauen, mit diesem naiven Ausdruck,  für den ich mich schämte und dann rutschten mir die Lippen aus wie kurz vor dem Weinen und ich wurde rot.

„Möchten Sie noch etwas Kaffee?“ Koljas Mutter schenkt aus der blau-weißen Kanne nach. Als sie die Kanne wieder absetzt, sagt sie: „Ich habe auch einmal einen Mann verlassen. Er hat mich immer wieder angelogen, aber es hat lange gedauert, bis ich es gespürt habe. Dann habe ich gegen das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, weiter gelebt und so getan, als wäre alles in Ordnung. Ich habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Davon bin ich krank geworden.“ Sie zieht das Fransentuch enger um die Schulter.

„Wie lange ist das her?“, frage ich.

„Dreizehn Jahre. Ich war fünfzig.“

„Aber Sie sind gegangen.“

Sie nickt. „Ich war noch sehr schwach. Es hat lange gedauert, bis ich wieder Kräfte gesammelt hatte.“

„Haben Sie sich nie wieder verliebt?“

„Doch“, sagt sie. „Einmal.“

„Ich habe ein bisschen Angst vor dem Alleinsein“, sage ich.

„Sie sind nicht allein“, sagt Koljas Mutter. Dasselbe, was ich vor ein paar Tagen zu Jolanda gesagt habe.

Später legt sie den Fransenschal ab und kocht uns Reis und brät Gemüse an. Sie entschuldigt sich für das einfache Essen. Vielleicht hätte ich längst gehen sollen, aber ich mag noch nicht gehen. „Machen Sie sich keine Mühe“, sage ich.  Sie schickt mich in den Garten Kräuter zu holen. Ich möchte am liebsten hier bleiben, wenigstens für diese Nacht, und morgen in Ruhe zurück nach Berlin fahren, nach dem Frühstück. Die Kühle im Garten ist weich. Es ist finster, aber als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, finde ich Rosmarin und Salbei.

Kathrins Notiz-Blog 26. September 11

© Illustration Liane Heinze

Ich liebe den September. Alles wird ruhig und klar. Es ist, als ob die Häuser und Bäume, die Stadt und der Himmel, näher zusammen rücken. Alles wird sich finden. Es ist nicht das Ende der Welt.

Auf den bunten Fliesen im Hausflur ist eine Nacktschnecke angetrocknet. Sie hat eine kleine Schleimspur hinterlassen. Sie ist hart wie Lakritz. Leon würde sie nehmen und in den Hof tragen, in ein würdigeres Grab. Aber Leon ist nicht hier.

Jolanda öffnet in Jogginghosen und T-Shirt. Sie ist heute vermutlich noch nicht vor die Tür gegangen. Ihr Gesicht ist verheult. Ich nehme sie in die Arme. Sie fühlt sich an wie eben erst aufgestanden, aufgeweicht und warm, formlos, aus der Fassung.

Ich lasse meinen Koffer im Flur stehen. Die Küche sieht noch genauso aus wie damals, als ich ausgezogen bin. Trotzdem wirkt die Wohnung dunkel. Jolanda hat in ihrem Zimmer schwere Vorhänge zugezogen.

Sie hatte angerufen und erzählt, dass Jakob weg ist, zurück zu seinen Eltern. Er sei sich plötzlich nicht mehr sicher gewesen, ob er das wirklich schon will, Zusammenleben in einer eigenen Wohnung und so.

„Das heißt doch nicht, dass er sich von dir trennen will“, sage ich.

„Er will für ein Jahr in die USA“, schreit Jolanda. Sie beginnt zu weinen.

„Aber das ist doch normal. Ihr seid jung. Er kommt zurück. Ein Jahr ist gar nichts.“

„Wieso spricht er nicht mit mir über alles? Wer bin ich denn für ihn?“ Sie lässt sich in einen der Korbstühle sacken, zieht die Beine an sich und schluchzt.

„Habt ihr nicht darüber gesprochen?“

„Mit den USA, das weiß ich nicht von ihm. Lukas hat es mir gestern erzählt.“

„Hast du Jakob gefragt, wieso er nicht mit dir zuerst darüber gesprochen hat?“

„Ja.“ Sie wischt die Tränen breit.

„Und?“

„Er sagt, ich würde zu schnell austicken. Was soll ich machen? Ich habe solche Angst davor, dass er geht.“

„Bleib ruhig! Es gibt unendlich viele Paare, die das überstanden haben.“

„Und genauso viele, die sich getrennt haben.“ Jolanda funkelt mich wütend an. Es ist das erste Mal, seit ich da bin, dass sie mich überhaupt anschaut.

„Alles war gerade so schön. Wieso kann es nicht so bleiben?“

„Weil ihr keine alten Leute seid.“

„Ich kann nicht alleine sein. Aber ich will auch nicht wieder mit dir hier leben. Jetzt ist es die Wohnung von Jakob und mir geworden.“ Sie schluchzt wieder.

„Ihr könnt telefonieren, skypen…“

„Aber er ist dann nicht hier, bei mir. Ich kann ihn nicht anfassen.“

„Er wird für dich da sein. Du kannst mit ihm reden, ihn besuchen. Vielleicht wird es eine wunderbare, intensive Zeit.“

Jolanda kaut auf ihrer Lippe.

„Aber hier in der Wohnung werde ich allein sein.“

„Davor hast du Angst?“

„Höllenangst.“

 

Jemand hat die Schnecke weg geräumt, aber ihre Schleimspur klebt noch auf den Fliesen. Sonne flutet die Straße. Ich versuche, mit dem Leben Schritt zu halten, wenigstens bis zu dem kleinen Laden an der Ecke. Als ich vor der Kühltruhe stehe, ratlos, welche Pizza ich für Jolanda und mich kaufen soll, ruft Leon wieder an. Er hat es im Laufe des Tages schon einige Male versucht, aber ich bin nicht ans Telefon gegangen.

„Ich wollte nur fragen, wie es dir geht“, sagt er.

„Geht so“, sage ich.

„Ich komme morgen Abend nach Berlin.“

„So.“

Schweigen.

„Wir können essen und reden.“

„Nein“, sage ich. „Es ist Schluss, ein für allemal.“

„Lass uns noch einmal reden.“

„Ruf an, wenn du hier bist.“ Ich lege auf. Die Tränen kommen.

Die bunten Pizzaschachteln verschwimmen. Ich greife in die Kühltruhe, ziehe etwas heraus. Wie in einer Tombola. Jolanda ruft an, bittet mich, Erdbeerjoghurt mitzubringen. Ich halte mit einer Hand das Telefon, tupfe mit der anderen die Tränen ab. Mein Portemonnaie kippt aus. Eine dünne Frau hilft mir, die Münzen aufzulesen. Ihre Umrisse verschwimmen. Jogginghose, enges, weißes Top. „Alles in Ordnung?“ Ihr Gesicht nähert sich. Dunkle Augen. Die Haare aus dem Gesicht. Pferdeschwanz. Wie wunderbar, dass es Menschen wie sie gibt. Sie tauchen im engen, überfüllten Gang des Spätverkaufs genau im richtigen Moment auf, machen, dass man einige Momente lang glücklich ist, und treten doch nur verschwommen, verwischt in Erscheinung.

„Sie haben nur Stracciatella und  Vanille“, melde ich Jolanda. Sie entscheidet sich für Stracciatella.

Ich suche nach der Frau in der Jogginghose, als das Telefon in meiner Tasche wieder surrt. Als ich den Tränenschleier weg gedrückt und Koljas Namen im Display gelesen habe, ist die Frau spurlos verschwunden.

„Ich mache mir Sorgen um dich.“ Koljas melancholische Stimme, die manchmal vornehm knarrt wie altes Parkett.

Vielleicht war die Frau ein Engel. „Achso”, sage ich.

„Wo bist du? Was machst du?“, fragt Kolja.

Ich erzähle ihm von Jolanda.

„Soll ich kommen?“

„Es ist schwierig“, sage ich. „Ich wäre heute lieber mit ihr allein.“

„Morgen?“

„Vielleicht morgen“, sage ich. Aber das ist auch keine Lösung, denke ich laut.

 

Später liege ich wieder in diesem Bett, direkt über den Cafés und Bars der Straße. Es ist so laut, als stünde das Bett mitten in einer Bar, dabei trennen mich mindestens sieben Meter von den Partys da unten.

Ich frage mich, wie es sein wird, wieder allein zu sein. Vielleicht werde ich es für immer bleiben.

Kann man von der Vergangenheit zehren? Wenn ja, wieviel Kalorien hat sie? Vor zwei Jahren im Erdbeerfeld war eine Frau, die mir erzählte, wie gut es ihr gegangen ist, als sie noch mit ihrem Freund zusammen gelebt und gearbeitet hat. Dann hat er sie wegen einer anderen verlassen und sie verlor auf einen Schlag ihr Zuhause und ihre Arbeit. Sie sei noch einmal richtig durch gestartet, sagte sie. Man müsse den Schmerz transformieren. Sie habe eine Boutique eröffnet. Aber nach zwei Jahren war sie finanziell ruiniert. Sie sei einmal so schön wie eine Diva gewesen, sagte sie. Sie hielt sich für nicht mehr schön, aber sie war eine hübsche Frau in ihren Jeans, der abgetragenen Strickjacke und den Gummistiefeln, mit langen Fingernägeln, die vom Erdbeerpflücken schmutzig geworden waren, eine Frau Mitte Fünfzig mit einer warmen Ausstrahlung.

Aber was sind unsere Erinnerungen mehr als die Schleimspur der Schnecke, die unten im Hausflur vertrocknet ist? Wir sind was wir sind. Wir werden nicht attraktiver, erfolgreicher und glücklicher, wenn wir der Vergangenheit nachhängen.

Ich stehe wieder auf und betrachte die Wohnung, die nicht mehr meine ist. Vor der Fensterfront steht jetzt ein langer Arbeitstisch. Jakobs Seite ist aufgeräumt, beinahe leer. Auf Jolandas Seite liegen Bücher, Papiere, Hefte und Ordner zu einem gefährlich schiefen Berg gestapelt, dazwischen Kaugummipackungen, Zutaten für Zigaretten, Kopfschmerztabletten. Wie durch ein Wunder kommt der Berg nicht ins Rutschen. Ihr Computer befindet sich im Standby.

Ich will nicht an das Alleinsein denken, aber es sind keine anderen Gedanken da. Morgen kann ich Leon treffen. Ich kann morgen auch Kolja treffen. Aber das meine ich nicht. Ich werde beiden absagen.

Ich fahre in meine Jeans, ziehe den Trenchcoat über und verlasse die Wohnung. Allein treibe ich durch die laute, helle Nacht. Das fühlt sich nicht gut an, aber besser, als den alten Schleimspuren zu folgen.

 

Kathrins Notiz-Blog 27. August 11

© Illustration Liane Heinze

Erst als der Zug die Felswände vor Verviers passiert, rufe ich Leon an. Seine Überraschung klingt hell und weich, wehrlos glücklich.

Ich entdeckte ihn sofort, noch bevor der Zug hält. Er sitzt in einem weißen Leinenhemd in der Abendsonne auf dem Treppengeländer. Seine Locken fliegen im Wind des einfahrenden Zuges. Als wir aufeinander zugehen, scheint es mir, als sei mindestens ein Jahr vergangen, soviel ist geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Dabei ist es erst eine Woche her.

Aber in den letzten Tagen haben wir nicht miteinander telefoniert. Leon wollte sein Telefon am Wochenende ausschalten, um einmal in Ruhe über sein Leben nachzudenken. Zuerst hatte ich ihm nicht geglaubt und seinen Rückzug auf mich und Kolja bezogen. Vielleicht weiß oder ahnt er etwas?

Als wir uns in die Arme fallen, Leon meine Hand nimmt und mich hinter sich her aus dem Bahnhofsgewimmel zieht, weiß ich, dass es Unsinn ist. Das nachdenkliche Wochenende hat ihm gut getan. Er sieht aus wie ein Urlauber. „Beinahe hätte ich dich gestört“, sage ich. „Meine Sehnsucht war so groß. Ich wollte schon vorgestern in den Zug steigen.“

„Warum hast du es nicht getan? So muss es sein, so spontan müssen wir miteinander umgehen können“, sagt Leon.

„Ich wollte dich nicht stören. Ich fand gut, dass du nachdenken willst.“

Ich kann nicht aufhören, ihn zu küssen, sein Haar  zu streicheln, ihn nach dieser gefühlten Trennung von einem Jahr immer wieder anzuschauen. „Was ist?“, flüstert er immer wieder. „Es ist gut, sich manchmal loszulassen“, sage ich.

Wir gehen wieder in das kleine Frittenbistro vom letzten Mal. Als wir uns an einem der marokkanisch gesteinelten Tische gegenüber sitzen, sagt Leon: „Es ändert sich gerade sehr viel.“ Ich spüre einen Anflug von Panik in meiner Kehle aufsteigen. „Was denn?“

„Schau dir die Nachrichten an“, sagt Leon. „Man sollte jetzt aufs Land gehen. Mir ist klar geworden, dass ich viele Dinge überhaupt nicht brauche.“ Er blickt durch mich hindurch. Seine äußeren Augenwinkel sind ein Stück tiefer gesackt, vorbei der frische Eindruck, den er eben noch machte. „Ich habe beschlossen, anders zu leben“, sagt er, aber es klingt kitschig, irgendwie falsch.

Durch die geöffnete Tür strömt kühle Abendluft. Mich fröstelt. Als ich mich zum Boulevard wende, auf den schon wieder der Regen prasselt, fällt mein Blick auf eine rot ausgeleuchtete Bühne auf der anderen Straßenseite. Der leuchtende Kasten schwebt wie losgelöst über den Autodächern und Köpfen der Leute. Es ist ein surreales Bild. Ein übergewichtiger Sänger sitzt reglos darinnen auf einem Barhocker. Er hält eine Gitarre auf seinem Schoß. Von hier drüben sieht er unglücklich aus. Jetzt entdecke ich, dass sich die Bühne im Hänger eines Trucks befindet, der in der kleinen, steilen Seitenstraße geparkt ist, die direkt gegenüber dem Bistro vom Boulevard abzweigt.

Ohne ein Wort zu wechseln, verständigen wir uns darüber, dass wir dort hin müssen. Unsere Pommes nehmen wir mit. Die Stuhlreihen sind ungefähr zur Hälfte besetzt. Die Zuschauer haben ihre Regenschirme aufgespannt. Einige Leute stehen unter einem Ahornbaum, Einwohner aus den Häusern nebenan, eine rundliche Frau in Pantoffeln hält ihr Kind im Schlafanzug auf dem Arm. Der Sänger drückt einen Knopf und der Konserven-Klang eines Sinfonieorchesters füllt den roten Bühnenwagen. Er schlägt dazu die Gitarre an und singt ein wehmütiges Lied vom Ende einer Liebe.

„Wie möchtest du leben?“, flüstere ich.

„Freier, unbefangener, ich möchte aufhören, mir jeden Tag Gedanken über meine Zukunft zu machen. Ich muss wieder Musik machen, ein Zuhause finden.“

Das zweite Lied ist temperamentvoller, aber ich fühle mich schwerer und schwerer werden. Das Elend des Sängers, der einmal jung war und schön und viele Frauen liebte, liegt  schwer auf meinen Schultern, das Elend der Frau in den Pantoffeln, Leons Elend, der nicht glücklich werden kann und mein eigenes Elend, einen Mann anheben zu wollen, der in Ketten geht. Ich muss mich setzen.

Nach zwei weiteren Songs knautschen wir unsere Pommes-Papp-Teller in den nächsten Abfalleimer und laufen den Boulevard hinab zum Hotel. Leon sagt, dass er bald mit Jan aus Amsterdam in Amerika auf Einkaufstour für den Webshop gehen möchte.

In dieser fremden Straße ist Leon mir fremd und auch ich selbst bin mir plötzlich so fremd, dass alle Gedanken, die ich mir über uns gemacht habe, zwecklos, völlig ohne Sinn scheinen, lächerlich. Selbst wenn Leon von Kolja wüsste, wäre es ihm gleich.

Unter der heißen Dusche wärmen sich meine Gedanken allmählich wieder auf. Ich denke an die Karl-Marx-Allee und an Synne, den ich nächste Woche treffen werde, um ihm meine Entwürfe vorzustellen.

„Du freust dich gar nicht“, sage ich, als Leon zu mir in die Dusche schlüpft.

„Doch“, sagt er. „Es wird gehen“, sagt er. „Wir müssen aufhören, uns fertig zu machen.“

„Ich mache dich fertig?“

„Aber nein.“

„He, geh ein Stück zur Seite bitte!“ Ich drängele mich unter das heiße Wasser. „Wer oder was macht dich fertig?“ Ich stelle das Wasser noch ein paar Grad heißer.

„Dieses Leben, verstehst du! Diese Unruhe“, sagt Leon.“Das Umherziehen, nur, um überleben zu können.“

Ich nehme in in die Arme, lehne meine Stirn gegen ihn, so dass die Wasserstrahlen, die von Leons Brust springen, in mein rechtes Ohr brodeln.

„Lass uns diesen Moment genießen.“ Ich lasse mich dahin rutschen, wo seine Schenkel sich unter seinen Leisten hervor wölben, die Stelle seines Körpers, die ich am liebsten mag. Ich nuckele wie ein Baby an dem Tier, das langsam aus seiner Höhle kriecht, angelockt von meiner Zärtlichkeit. Durch den Regen höre ich Leons Erregung, spüre sie in seinen Händen an meinem Gesicht und dann kommt sein Sperma, das salzig und ein bisschen nach Metall schmeckt.

Im Bett teilen wir uns ein Glas Wein, reden wenig, während der Fernseher läuft. Leon drückt die Fernbedienung hin und her. Rauschen. Reden. Plärrende Werbung. Comedylachen. Ich schlafe an seinem Schlüsselbein ein.

Schon am nächsten Morgen streiten wir beim Frühstück. Leon möchte, dass wir nach Verviers ziehen. Ich kann diese Idee nicht ernst nehmen. Ich glaube, dass er einfach nur streiten will.

„Das sagst du doch nur, um mich los zu werden!  Hast du einen Automatismus eingebaut, der jede Frau nach ungefähr zwei Jahren abstößt. Tut es dir weh, wenn es länger dauert? Du kannst doch nicht ernsthaft erwägen, eine Stadt wie Berlin zu verlassen, um in einem Nest wie diesem zu leben.“

„Berlin ist zu kalt, zu laut und zu schmutzig. Die Deutschen nerven mich mit ihren dicken Autos und Lebensversicherungen und ihrer politischen Ignoranz.“

„Wo soll ich denn hier studieren?“

„Es sind nur dreißig Kilometer bis zur nächsten Universität. Man ist ganz schnell mit dem Zug dort.“

Ich werfe fast den Tisch um, als ich aufstehe. „Gib mir den Zimmerschlüssel! – Außerdem: Gibt es hier eine Assamblea?“

„Es gibt überall eine“, sagt Leon.

„Hast du sie gesehen? Wo treffen sie sich?“

„Das kann man ganz einfach rauskriegen“, sagt er. „Sicher vor dem Rathaus.“

„Du weißt es nicht. Seit Wochen hängst du fast nur noch in diesem gottverlassenen Nest rum und weißt noch nicht einmal, ob es eine Assamblea gibt. Was bist du für ein Ignorant!“

Leon sieht sich um. Meine Lautstärke ist ihm peinlich. Obwohl er selbst ein Provokateur ist. „Ich komme mit rauf.“

„Ich fahre sofort nach Hause“, sage ich.

„Wieso bin ich der einzige, der seinen Arsch für uns bewegt?“, zischt Leon, als wir vor dem Aufzug stehen.

Der Aufzug kommt. Für die kurze Zeit der Gefangenschaft schweigen wir. Innerhalb weniger Sekunden habe ich meine Sachen eingesammelt und in die Umhängetasche gestopft. „Ich werde nie wieder Geld dafür ausgeben, in dieses Kaff zu reisen.“

Ich renne nach draußen, laufe durch die kleinen Straßen zum Bahnhof. Es ist schwülwarm ohne einen Strahl Sonne. Leon läuft mir nach. „Hau ab!“ Ich werfe meine Tasche nach ihm. „Ich rufe sonst die Polizei.“

Er grinst. „Ja, rufe die Polizei.“ Er kommt näher.

„Rühr mich nicht an! Wenn du mich anfasst, rufe ich die Polizei.“

Leon bleibt vor mir stehen. Seine Arme hängen. „Ich möchte dir etwas erklären.“

„Nicht nötig. Es ist Schluss“, rufe ich. Ich beginne zu rennen. Als ich japsend auf dem Bahnsteig ankomme, ist Leon immer noch hinter mir.

„Wenn du nicht sofort gehst, rufe ich die Polizei.“

Zitternd wühle ich mein Handy aus der Tasche, aber ich kenne nur die deutsche Nummer. Jemand meldet sich. „Ich werde von einem Mann belästigt“, sage ich. „Wo?“ fragt der Beamte. „In Verviers, das ist in Belgien“, sage ich. „Ich weiß, es ist nicht ihr Revier.“ Ich registriere Leons verunsicherten Blick, als er sich umdreht und geht.

Ich falle erschöpft auf eine Bank. Ich falle aus der Zeit. Als ich in Berlin aus dem Zug steige, fühle ich mich benommen und seltsam euphorisch, weil ich wieder frei bin. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich auf dem Bahnsteig in Verviers gesessen habe. Ich muss nach dem Fahrplan geschaut und etwas zu essen gekauft haben. Ich erinnere mich, dass ich im Zug gegessen habe, aber sonst weiß ich nichts mehr, außer, dass graue, belgische Felder am Fenster vorbei zogen, während ich aß und dass sie mir wie die Landschaft unserer Liebe vorkamen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, in Brüssel umgestiegen zu sein.

In der Nacht ruft Leon an. „Wir sollten zusammen weg fahren, nur ein paar Tage. Ich lade dich ein!“

„Nein“, sage ich.

„Versprich mir nur eins“, bittet Leon. „Dass wir uns niemals im Stich lassen, auch wenn sich unsere Wege trennen.“ Ich verspreche es. Und dann weine ich eine ganze Nacht lang.