© Illustration Liane Heinze
Erst als der Zug die Felswände vor Verviers passiert, rufe ich Leon an. Seine Überraschung klingt hell und weich, wehrlos glücklich.
Ich entdeckte ihn sofort, noch bevor der Zug hält. Er sitzt in einem weißen Leinenhemd in der Abendsonne auf dem Treppengeländer. Seine Locken fliegen im Wind des einfahrenden Zuges. Als wir aufeinander zugehen, scheint es mir, als sei mindestens ein Jahr vergangen, soviel ist geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Dabei ist es erst eine Woche her.
Aber in den letzten Tagen haben wir nicht miteinander telefoniert. Leon wollte sein Telefon am Wochenende ausschalten, um einmal in Ruhe über sein Leben nachzudenken. Zuerst hatte ich ihm nicht geglaubt und seinen Rückzug auf mich und Kolja bezogen. Vielleicht weiß oder ahnt er etwas?
Als wir uns in die Arme fallen, Leon meine Hand nimmt und mich hinter sich her aus dem Bahnhofsgewimmel zieht, weiß ich, dass es Unsinn ist. Das nachdenkliche Wochenende hat ihm gut getan. Er sieht aus wie ein Urlauber. „Beinahe hätte ich dich gestört“, sage ich. „Meine Sehnsucht war so groß. Ich wollte schon vorgestern in den Zug steigen.“
„Warum hast du es nicht getan? So muss es sein, so spontan müssen wir miteinander umgehen können“, sagt Leon.
„Ich wollte dich nicht stören. Ich fand gut, dass du nachdenken willst.“
Ich kann nicht aufhören, ihn zu küssen, sein Haar zu streicheln, ihn nach dieser gefühlten Trennung von einem Jahr immer wieder anzuschauen. „Was ist?“, flüstert er immer wieder. „Es ist gut, sich manchmal loszulassen“, sage ich.
Wir gehen wieder in das kleine Frittenbistro vom letzten Mal. Als wir uns an einem der marokkanisch gesteinelten Tische gegenüber sitzen, sagt Leon: „Es ändert sich gerade sehr viel.“ Ich spüre einen Anflug von Panik in meiner Kehle aufsteigen. „Was denn?“
„Schau dir die Nachrichten an“, sagt Leon. „Man sollte jetzt aufs Land gehen. Mir ist klar geworden, dass ich viele Dinge überhaupt nicht brauche.“ Er blickt durch mich hindurch. Seine äußeren Augenwinkel sind ein Stück tiefer gesackt, vorbei der frische Eindruck, den er eben noch machte. „Ich habe beschlossen, anders zu leben“, sagt er, aber es klingt kitschig, irgendwie falsch.
Durch die geöffnete Tür strömt kühle Abendluft. Mich fröstelt. Als ich mich zum Boulevard wende, auf den schon wieder der Regen prasselt, fällt mein Blick auf eine rot ausgeleuchtete Bühne auf der anderen Straßenseite. Der leuchtende Kasten schwebt wie losgelöst über den Autodächern und Köpfen der Leute. Es ist ein surreales Bild. Ein übergewichtiger Sänger sitzt reglos darinnen auf einem Barhocker. Er hält eine Gitarre auf seinem Schoß. Von hier drüben sieht er unglücklich aus. Jetzt entdecke ich, dass sich die Bühne im Hänger eines Trucks befindet, der in der kleinen, steilen Seitenstraße geparkt ist, die direkt gegenüber dem Bistro vom Boulevard abzweigt.
Ohne ein Wort zu wechseln, verständigen wir uns darüber, dass wir dort hin müssen. Unsere Pommes nehmen wir mit. Die Stuhlreihen sind ungefähr zur Hälfte besetzt. Die Zuschauer haben ihre Regenschirme aufgespannt. Einige Leute stehen unter einem Ahornbaum, Einwohner aus den Häusern nebenan, eine rundliche Frau in Pantoffeln hält ihr Kind im Schlafanzug auf dem Arm. Der Sänger drückt einen Knopf und der Konserven-Klang eines Sinfonieorchesters füllt den roten Bühnenwagen. Er schlägt dazu die Gitarre an und singt ein wehmütiges Lied vom Ende einer Liebe.
„Wie möchtest du leben?“, flüstere ich.
„Freier, unbefangener, ich möchte aufhören, mir jeden Tag Gedanken über meine Zukunft zu machen. Ich muss wieder Musik machen, ein Zuhause finden.“
Das zweite Lied ist temperamentvoller, aber ich fühle mich schwerer und schwerer werden. Das Elend des Sängers, der einmal jung war und schön und viele Frauen liebte, liegt schwer auf meinen Schultern, das Elend der Frau in den Pantoffeln, Leons Elend, der nicht glücklich werden kann und mein eigenes Elend, einen Mann anheben zu wollen, der in Ketten geht. Ich muss mich setzen.
Nach zwei weiteren Songs knautschen wir unsere Pommes-Papp-Teller in den nächsten Abfalleimer und laufen den Boulevard hinab zum Hotel. Leon sagt, dass er bald mit Jan aus Amsterdam in Amerika auf Einkaufstour für den Webshop gehen möchte.
In dieser fremden Straße ist Leon mir fremd und auch ich selbst bin mir plötzlich so fremd, dass alle Gedanken, die ich mir über uns gemacht habe, zwecklos, völlig ohne Sinn scheinen, lächerlich. Selbst wenn Leon von Kolja wüsste, wäre es ihm gleich.
Unter der heißen Dusche wärmen sich meine Gedanken allmählich wieder auf. Ich denke an die Karl-Marx-Allee und an Synne, den ich nächste Woche treffen werde, um ihm meine Entwürfe vorzustellen.
„Du freust dich gar nicht“, sage ich, als Leon zu mir in die Dusche schlüpft.
„Doch“, sagt er. „Es wird gehen“, sagt er. „Wir müssen aufhören, uns fertig zu machen.“
„Ich mache dich fertig?“
„Aber nein.“
„He, geh ein Stück zur Seite bitte!“ Ich drängele mich unter das heiße Wasser. „Wer oder was macht dich fertig?“ Ich stelle das Wasser noch ein paar Grad heißer.
„Dieses Leben, verstehst du! Diese Unruhe“, sagt Leon.“Das Umherziehen, nur, um überleben zu können.“
Ich nehme in in die Arme, lehne meine Stirn gegen ihn, so dass die Wasserstrahlen, die von Leons Brust springen, in mein rechtes Ohr brodeln.
„Lass uns diesen Moment genießen.“ Ich lasse mich dahin rutschen, wo seine Schenkel sich unter seinen Leisten hervor wölben, die Stelle seines Körpers, die ich am liebsten mag. Ich nuckele wie ein Baby an dem Tier, das langsam aus seiner Höhle kriecht, angelockt von meiner Zärtlichkeit. Durch den Regen höre ich Leons Erregung, spüre sie in seinen Händen an meinem Gesicht und dann kommt sein Sperma, das salzig und ein bisschen nach Metall schmeckt.
Im Bett teilen wir uns ein Glas Wein, reden wenig, während der Fernseher läuft. Leon drückt die Fernbedienung hin und her. Rauschen. Reden. Plärrende Werbung. Comedylachen. Ich schlafe an seinem Schlüsselbein ein.
Schon am nächsten Morgen streiten wir beim Frühstück. Leon möchte, dass wir nach Verviers ziehen. Ich kann diese Idee nicht ernst nehmen. Ich glaube, dass er einfach nur streiten will.
„Das sagst du doch nur, um mich los zu werden! Hast du einen Automatismus eingebaut, der jede Frau nach ungefähr zwei Jahren abstößt. Tut es dir weh, wenn es länger dauert? Du kannst doch nicht ernsthaft erwägen, eine Stadt wie Berlin zu verlassen, um in einem Nest wie diesem zu leben.“
„Berlin ist zu kalt, zu laut und zu schmutzig. Die Deutschen nerven mich mit ihren dicken Autos und Lebensversicherungen und ihrer politischen Ignoranz.“
„Wo soll ich denn hier studieren?“
„Es sind nur dreißig Kilometer bis zur nächsten Universität. Man ist ganz schnell mit dem Zug dort.“
Ich werfe fast den Tisch um, als ich aufstehe. „Gib mir den Zimmerschlüssel! – Außerdem: Gibt es hier eine Assamblea?“
„Es gibt überall eine“, sagt Leon.
„Hast du sie gesehen? Wo treffen sie sich?“
„Das kann man ganz einfach rauskriegen“, sagt er. „Sicher vor dem Rathaus.“
„Du weißt es nicht. Seit Wochen hängst du fast nur noch in diesem gottverlassenen Nest rum und weißt noch nicht einmal, ob es eine Assamblea gibt. Was bist du für ein Ignorant!“
Leon sieht sich um. Meine Lautstärke ist ihm peinlich. Obwohl er selbst ein Provokateur ist. „Ich komme mit rauf.“
„Ich fahre sofort nach Hause“, sage ich.
„Wieso bin ich der einzige, der seinen Arsch für uns bewegt?“, zischt Leon, als wir vor dem Aufzug stehen.
Der Aufzug kommt. Für die kurze Zeit der Gefangenschaft schweigen wir. Innerhalb weniger Sekunden habe ich meine Sachen eingesammelt und in die Umhängetasche gestopft. „Ich werde nie wieder Geld dafür ausgeben, in dieses Kaff zu reisen.“
Ich renne nach draußen, laufe durch die kleinen Straßen zum Bahnhof. Es ist schwülwarm ohne einen Strahl Sonne. Leon läuft mir nach. „Hau ab!“ Ich werfe meine Tasche nach ihm. „Ich rufe sonst die Polizei.“
Er grinst. „Ja, rufe die Polizei.“ Er kommt näher.
„Rühr mich nicht an! Wenn du mich anfasst, rufe ich die Polizei.“
Leon bleibt vor mir stehen. Seine Arme hängen. „Ich möchte dir etwas erklären.“
„Nicht nötig. Es ist Schluss“, rufe ich. Ich beginne zu rennen. Als ich japsend auf dem Bahnsteig ankomme, ist Leon immer noch hinter mir.
„Wenn du nicht sofort gehst, rufe ich die Polizei.“
Zitternd wühle ich mein Handy aus der Tasche, aber ich kenne nur die deutsche Nummer. Jemand meldet sich. „Ich werde von einem Mann belästigt“, sage ich. „Wo?“ fragt der Beamte. „In Verviers, das ist in Belgien“, sage ich. „Ich weiß, es ist nicht ihr Revier.“ Ich registriere Leons verunsicherten Blick, als er sich umdreht und geht.
Ich falle erschöpft auf eine Bank. Ich falle aus der Zeit. Als ich in Berlin aus dem Zug steige, fühle ich mich benommen und seltsam euphorisch, weil ich wieder frei bin. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich auf dem Bahnsteig in Verviers gesessen habe. Ich muss nach dem Fahrplan geschaut und etwas zu essen gekauft haben. Ich erinnere mich, dass ich im Zug gegessen habe, aber sonst weiß ich nichts mehr, außer, dass graue, belgische Felder am Fenster vorbei zogen, während ich aß und dass sie mir wie die Landschaft unserer Liebe vorkamen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, in Brüssel umgestiegen zu sein.
In der Nacht ruft Leon an. „Wir sollten zusammen weg fahren, nur ein paar Tage. Ich lade dich ein!“
„Nein“, sage ich.
„Versprich mir nur eins“, bittet Leon. „Dass wir uns niemals im Stich lassen, auch wenn sich unsere Wege trennen.“ Ich verspreche es. Und dann weine ich eine ganze Nacht lang.