MOMENTS MUSICAUX

Anne-Françoise Cart und Christine Düwel in der Galerie „Die Brücke“ in Kleinmachnow

Anne-Françoise Cart „Moments musicaux in Rot I“ 2019.

So verschieden die Werke dieser beiden Künstlerinnen auf den ersten Blick sind – es gibt einiges, das sie verbindet. Auf die Musik als größten gemeinsamen Nenner zwischen beiden weist der Ausstellungstitel hin: Moments musicaux. Franz Schubert nannte so eine Reihe kleiner Klavierstücke, die in ihrer Kürze und Struktur spontane Stimmungen skizzenhaft festhalten. 

Die Künstlerinnen Anne-Françoise Cart und Christine Düwel eigneten sich den Schubert-Titel an, um auf die Musik als Thema ihrer gemeinsamen Ausstellung und als Quelle der Inspiration und Schönheit hinzuweisen, auch auf die Musik als Rätsel und, ganz besonders: als Klangsprache und Klangbild. 

Anne-Françoise Cart hat Zeichnungen mitgebracht, die zu Musik entstanden sind, zu einem Cello-Spiel (die „Contrabass tunes“) und zu einem Konzert der Akkordeonistin Cathrin Pfeifer (die „Akkordeon tunes“) Es sind einfache, starke Zeichnungen, die schnell, in direkter Interaktion mit der Musik entstanden sind.  

Doch es geht in den „Moments musicaux“ um mehr. Beide Künstlerinnen erforschen Darstellungsformen des Klangs. Die Titel einiger Werkserien weisen darauf hin: „Impromptu“, „Danza“ und „Contrapunctus“ sind Begriffe aus der Klassik, die sich Christine Düwel für ihr bildnerisches Werk aneignet, nicht ohne auf die Musik zu verweisen. Teile von Partituren sind in fast allen ihrer Aquarelle versteckt, neben anderen Zeichen, großen und kleinen, mehr oder weniger deutlichen, die bei genauer Betrachtung aus dem Bildgrund treten und so ein Rauschen erzeugen (Sie wissen, dass bei der digitalen Bildbewertung von „Bildrauschen“ gesprochen wird. In den Arbeiten von Christine Düwel ist „das Rauschen“ angelegt. Wenn Sie die Zeichnungen länger betrachten, löst sich das Rauschen in einzelne Tonspuren auf. Christine Düwel arbeitet auch figurativ. In ihrer „Danza“ – Serie lösen sich die Figuren, tanzende Paare, ähnlich dem Klang, im Raum auf. 

In ihrer großen Arbeit „Soundcloud“ (Klangwolke) suchte sie nach dem dreidimensionalen Ausdruck dieses sinnlichen Begriffs aus der digitalen Welt. Ihre „Soundcloud“ ist ein offenes Gebilde. Sie kann Geräusche aufnehmen und in verschiedene Ebenen weiterleiten. Sie klingt und klingelt. Ihr Klang fließt, strömt, schwingt, verändert den Raum, die Gegenstände und Menschen darin und nimmt gleichzeitig deren Schwingungen auf. 

Klang an sich ist gestaltlos, doch er besitzt eine gestaltbildende Kraft. Diese Kraft s interessiert Anne-Françoise Cart. In ihrem Atelier lag ein Buch von Alexander Lauterwasser, das sich mit den sogenannten Chladnischen Klangfiguren beschäftigt. Der Forscher mit dem rhythmischen Namen, der beinahe an einen Walzerschritt erinnert:  Ernst Florens Friedrich Chladni war ein Zeitgenosse von Goethe. Er brachte feinen Sand auf Glasplatten mittels seines Geigenbogens zum Schwingen. Es entstanden harmonische Bildstrukturen. Später haben andere auf diesem Feld weitergearbeitet. Der Schweizer Arzt und Maler Hans Jenny unter anderen. Er lebte von 1904 bis 1972. 

Die pure Energie des Klangs, die kein Chaos erzeugt, sondern eine harmonische Struktur, die unser Auge als „schön“ und „geordnet“ wahrnimmt, als Muster, sogar Zeichen einer Intelligenz, führt zu der Frage, was Klang und was Bild ist? Kann ein Klangbild, das bestimmte Frequenzen zeigt wie andere Bilder Bäume oder Gesichter darstellen, abstrakt genannt werden? Hat es nicht einen Gegenstand: den Klang, die Musik? Ist Musik ein Gegenstand? 

Das Wort „Abstraktion“ kommt vom lateinischen abs-trahere, was so viel wie entfernen oder trennen bedeutet, auch weglassen. Ohne die Frage beantworten zu können, ob die Chladnischen Klangbilder abstrakt oder gegenständlich sind, möchte ich sagen, dass ich die Bezeichnung „abstrakt“ unzutreffend für die Malerei von Anne-Françoise Cart und Christine Düwel finde. Ich betrachte diese Bilder und höre Insekten summen, Wasser tröpfeln oder fließen, Feuer knistern, Wind durch Gräser streifen. Es sind Bilder, die mich in meine Erfahrungs- und Gefühlswelt bringen. Ich würde ihre Energie eher als verbindend bezeichnen. Farbe, Klang und Empfindung verschmelzen zu einer Erfahrung, für die ich kein Wort brauche. 

Als ich mich mit der Musikalität dieser Ausstellung beschäftigte, wurde mir klar, dass die Abstraktion in Wirklichkeit das Zeichen ist, also Buchstaben oder Noten. Diese Zeichen sind die Reduktionen eines Klangs, die Trennung von seinem Ursprung. Sein Ursprung könnte die Stimme des Erzählers gewesen sein oder ein erstes Instrument, ein Vogelruf, ein Tierschrei. Das Geschriebene aber kann den Klang der Stimme nicht transportieren. Vielleicht kennen Sie das Phänomen, dass sie eine Fremdsprache nur aus dem Mund einer vertrauten Person verstehen? Es gibt Musikstücke, deren ursprünglichen Klang wir nicht mehr hören können, weil es die alten Instrumente, für die sie komponiert wurden, gar nicht mehr gibt.  

Noten und andere musikalische Zeichen abstrahieren die Musik wie das Alphabet die Sprache. 

Die Bilder dieser Ausstellung können nicht abstrahiert werden. Sie sind auch nicht abstrakt. Die Senderinnen haben Gedanken, Ideen und Empfindungen in ihre Bilder gewebt. Jede Betrachter*in empfängt etwas anderes. Die Senderinnen haben keinen Einfluss mehr darauf, was. 

Anne-Françoise Cart, die in Burundi geboren wurde, in Indien aufwuchs und in der Heimat ihrer Eltern, der Schweiz, später Textildesign studierte, zieht es immer wieder nach Afrika. Sie hat sich insbesondere mit der Kunst der alten Stammeskulturen beschäftigt. Sie mag an diesen Kulturen, dass jedes Kunstwerk Bestandteil des alltäglichen und zugleich des spirituellen Lebens ist. Die Skulpturen vor den Häusern haben die Aufgaben, vor Krankheiten und Unwettern zu schützen. Die Lieder, die die Frauen sangen, während sie wochenlang an einem Teppich für ein junges Brautpaar webten, handelten von den Segnungen für die neue Familie. Die Frauen zweifelten nicht daran, dass die guten Wünsche aus ihren Liedern mit in den Teppich gewebt würden und später, im Haus des Paares, ihre segnende, schützende Wirkung entfalten würden. Die Schwingungen guter oder schlechter Wünsche, deren Einfluss auf die Dinge und der Einfluss der Dinge auf die Schicksale der Menschen bestimmten das alte magische Weltbild. So bildeten Kunst, Spiritualität und Alltag eine unlösbare Verbindung. 

Der Gedanke, der Wunsch oder die Idee, die zuerst den Gesang bilden und sich dann in einem Gegenstand manifestieren, der weite geistige Raum hinter der materiellen Welt, das ist der Schaffensansatz von Christine Düwel. 

Da war etwas. Etwas, für das es keine Worte gibt. Eine Stille vor dem kosmischen Knall, die keine Lautlosigkeit war, aber die Abwesenheit von Klang. Die Pause zwischen den Noten als das wesentliche Element der Musik, die Stimmung zwischen den Worten als die eigentliche Botschaft einer Stimme, das erforscht Düwel in ihrem Werk, ganz im Sinne des Komponisten John Cage, dessen Klavierstück 4’33 keine Noten braucht. Die Pianist*in sitzt vier Minuten und 33 Sekunden in Stille vor einem aufgeklappten Klavier. Christine Düwel, die neben Bildhauerei und Grafik auch Philosophie und Kunstgeschichte studierte, hinterfragt die Stille und die Leere und das scheinbar Unsinnige auf das eigentlich Bedeutende hin, das dort geschieht. 

In diesem Raum, in dem die Stille schwingt und einen Prozess in Gang hält, dessen Ziel nicht benannt werden kann, begegnen sich die beiden Künstlerinnen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Klang. Diese Intellektualität führt zu den spielerischen „Moments musicaux“. 

Sie dürfen übrigens mit den Klanginstallationen von Christine Düwel spielen. Das ist sogar ausdrücklich erwünscht. 

Zum Schluss dieser kleinen Einführung möchte ich auf eine Besonderheit hinweisen, die sehr fein illustriert, wie sich die beiden Künstlerinnen in Vorbereitung dieser Ausstellung gegenseitig inspirieren konnten. Christine Düwel arbeitete zuerst mit den kleinen Muschelblättchen, die Ihnen in der „Soundcloud“ und in den „fremden Federn“ begegnet. Die „fremden Federn“ sind die beiden Installationen am Eingang der Ausstellung, mit denen Sie auch spielen dürfen. Anne-Françoise Cart schuf mit den Muscheln eine „Erwiderung“. 

Christine Düwel „Contrapunctus personare“ 2019

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