© Illustration Liane Heinze
In der Nacht, schon in unsere Kissen versenkt, sahen wir im Fernsehen, wie in Japan radioaktives Wasser ins Meer tropfte. Die japanische Regierung sagte, dass es noch lange tropfen wird.
Leon hat Fieber. „Wir brauchen die Revolution“, jammerte er und drehte sich auf die Seite. „Na komm.“ Er griff mir zwischen die Beine.
Wieso wurde nicht längst eine internationale Luftbrücke eingerichtet, um die Menschen aus den verstrahlten Gebieten herauszuholen? Immerhin gibt es in Berlin eine Gruppe junger Leute, die Hilfe organisieren. Sie suchen überall Zimmer für Japaner, die sie aus dem Land holen möchten. „Ja“, hat Leon gesagt. „Ja.“ Immer wieder: „Ja.“ Und als ich fragte, welches der beiden Zimmer, sah er mich an, als könnte er Shimano nicht mehr von Campagnolo unterscheiden.
Ich habe auch Jolanda gefragt. Sie hat gezögert. Es käme doch eh niemand. Man wisse doch, dass die Japaner gar nicht weg möchten, wegen ihrer betagten Eltern und Tanten und Onkel.
„Aber die ohne Eltern und Tanten und Onkel?“ fragte ich. „Wenn morgen jemand käme? Wärst du bereit?“
„Logisch“, sagte sie.
Letzten Freitag habe ich Kolja im Büro besucht. Es war das erste Mal seit der Zeit in dem Haus, das wir uns wiedergesehen haben.
„Wir könnten das Haus zur Verfügung stellen“ hat er gesagt. „Meine Mutter kann in der Zeit bei uns wohnen.“
„Du musst vorher mit deiner Mutter sprechen.“
„Ich werde sie fragen“, hat er gesagt. „Aber du kannst das Haus schon anmelden. Ich weiß, dass sie bereit sein wird.“
Er hat mir ein Buch geschenkt, „Lob des Schattens“ von Tanizaki Jun’ichiro. Es geht darin um die Architektur und Ästhetik traditioneller, japanischer Häuser. „Weil du meine Schattenfrau bist“, hat er gesagt. Weil ich in dem Haus im Dämmerlicht gearbeitet hatte.
Kolja hat mich beobachtet, während ich in dem Buch blätterte. Er hat mich gelesen und dabei geraucht und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Ich hatte fast schon vergessen, wie beruhigend die Wärme ist, die von ihm ausgeht.
„Schreib doch auch etwas über den Schatten“, hat er vorgeschlagen.
„Eigentlich liebe ich helle Räume. Es war nur, weil das Licht draußen im Garten so schön war.“
„Lies das Buch“, hat er gesagt. „Beobachte die Räume. Vielleicht findest du einen, dessen Schattigkeit dir angenehm ist.“
„Wie ist es in deinem Haus im Sommer?“
„Es ist nicht mein Haus“, hat er gesagt. „Es ist unser Haus.“
Ich bin erschrocken, weil ich nicht wusste, wen er meint. Unser – sind das alle, mich eingeschlossen, oder nur seine Familie? Oder meint er uns beide, ihn und mich? Ich habe mich nicht zu fragen getraut, weil ich die Antwort fürchtete.
Das Buch liegt neben den Tatamis. Leon interessiert es nicht. Er wird nicht fragen, warum ich es lese und woher es kommt. Ich kann ein Geschenk von Kolja einfach so neben mein Bett legen. Leons und Koljas Welten berühren sich nicht.
Ich schaltete den Fernseher aus und drückte mich dicht an Leon. Ich wollte keinen Spalt zwischen unseren Körpern zulassen, damit der Tod nicht zwischen uns tröpfelte. Aber das ging nicht, denn Leon hatte mir den Rücken zugewandt. Sein Rücken ragte vor mir auf wie eine Wand. Es funktioniert also nur umgekehrt, wenn ich mit dem Rücken zu ihm liege. Nur in dieser Position fühlt es sich gut an. Ich rüttelte an seiner Schulter. Ich bettelte: „Dreh dich um, bitte!“ Aber er hörte mich nicht. Ich legte mich auf den Rücken und blickte zur Decke und fühlte, wie der Tod zwischen uns tröpfelte.