Der Wächter der Stoffe

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Das Magazin Mai 2007

Er verachtet Turnschuhträger und Menschen, die Klamotten sagen, wenn sie Kleidung meinen. In Berlin herrscht Oleg Ilyapour über ein kleines Reich aus seltenen, wunderbaren Stoffen voller Geschichten

Inmitten der bunten Szeneläden in der Berliner Akazienstraße, zwischen Estrellas Chocolaterie und dem Coffeeshop Double-Eye, klemmt ein schmales Geschäft. Die Eingangstür bewacht ein kräftiger Mann mit langem, grauen Bart.
Im Winter trägt der Mann einen Schafwollmantel, im Sommer bunte Gewänder.

Oleg Ilyapour steht jeden Tag auf der Treppe vor seinem Geschäft. Er ist eine verlässliche Größe im Kiez. Die Leute kennen ihn seit Jahren, bleiben auf eine Zigarette mit ihm stehen, plaudern über Politik und Krankheiten, Familienprobleme und die Preise.

Ilyapours Geschäft heißt Fichu, was soviel heißt wie: kaputt, futsch, erledigt, im Eimer.
Im Schaufenster liegen Stoffballen. Das handgeschriebene Schild mit den Öffnungszeiten ist im Laufe der Jahre ergraut.
Wenn der Frühling kommt, hängt Ilyapour Kleider an die Tür, im Winter Jacken aus Tweed.

Passanten, die sich durch die schmale Tür drücken und einfach mal schauen wollen, werden nicht, wie in den anderen Mode-Läden ringsum, von gefälliger Musik und klingelnden Bügeln, Sonderangeboten und Bonbongläsern auf polierten Ladentafeln umworben, sondern von Ilyapour in rauhem Ton darauf hingewiesen, was sie hier erwartet. Nichts gewöhnliches, sondern originale Naturstoffe aus den Zwanziger – bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Qualitätsware.

Die Stoffballen liegen bis unter die Decke gestapelt, so dicht wie die Menge an Jahren und Wochen eines ganzen Jahrhunderts. Schwere Wollstoffe erdrücken geblümte Sommerreste aus Seide. Die Klassiker: Pepita, Fischgrat, Salz & Pfeffer in verschiedenen Qualitäten über – und nebeneinander gepresst, ein Zipfelchen Chintze darüber und zwischendrin karierter Hemdenstoff aus ägyptischer Baumwolle. Fünfziger Jahre. „Garantiert frei von Pestiziden“, sagt Ilyapour. Steifes Leinen, streng wie Hausfrauenstolz, zwischen weichen Jerseys und noppigen Tweeds.
Die freien Wandplätze sind von Mode – Reliquien besetzt: Hackenschuhe, ein Schirm aus Papier, Schmuck aus riesigen bunten Klunkern, ein gestreiftes Kleid aus Azetatseide.

Nur ein schmaler Gang ist zwischen den Stoffballen geblieben. Ilyapour, breit wie ein Bär, passt gerade noch so hindurch. Er zwängt sich voran, gefolgt von seinen Kunden.

Das schwule Pärchen sucht Stoff für Sitzkissen. Sie sind nicht sicher. Hahnentritt vielleicht. Ach nee. Ein Salz – und Pfeffer – Anzugstoff aus den Zwanzigern, wie ihn die Proletarier damals gern auf den Parteiversammlungen trugen?
Wie wäre es mit diesem da? Uni. Orange. Reine Schurwolle aus den Sechzigern.
„Kratzt aber“, warnt Ilaypour.
„Ich sitze da ja nicht nackig drauf. Normalerweise trage ich Hosen“, entgegnet der Käufer.
„Na dann bin ich ja beruhigt.“ Ilyapour wickelt den Stoff in braunes Packpapier.
„Sieht aus wie ein Wurstpaket“, freut sich sein Kunde. Eine leichtfertige Bemerkung, die Ilyapour heraus fordert. „Woanders bekommen Sie für Ihr Geld eine schöne Verpackung mit nix drin“, dröhnt er. „Bei mir ist es umgekehrt. Übrigens ist das auch gutes Packpapier.“

Er knurrt einen Abschiedsgruß. Die beiden ziehen glücklich weiter. Sie mögen die bärbeißige Kompetenz des Stoffhändlers.

Oleg Ilyapour macht keinen Hehl daraus, dass er auf die meisten seiner Kunden auch verzichten kann. Er will ja nicht reich werden. Er braucht eh nicht viel. Morgens und mittags einen Kaffee im Double-Eye nebenan, die billigsten Zigaretten, wenig Strom. Einmal in der Woche geht er tanzen. „Hätte ich ein Auto und würde zweimal im Jahr verreisen, könnte ich den Laden nicht halten.“

Die Stoffe sind das Erbe seiner Eltern. Sie kamen in den Zwanzigerjahren aus dem Iran nach Berlin. Sie lebten gut vom Handel mit den Stoffen, bis auch die letzte kleine Nähmanufaktur in Berlin aufgab. Das war irgendwann in den Siebzigerjahren.
„Das schmeißen wir nicht weg. Dafür haben Leute hart gearbeitet“, sagte seine Mutter damals, als sie die Ladentür für immer schloss.
Wenige Jahre später sperrte der Sohn sie wieder auf.

Die Frau, die einen neuen Gürtel für ihren blauen Trenchcoat sucht, weil der alte zerbröselte, ist nach Ilyapours Geschmack. Für Kunden wie sie, die Ausbesserer, Erhalter, Bewahrer, steht er morgens auf, trottet von seiner Wohnung zum Laden, dekoriert die Schaufenster alle paar Wochen neu.
Lange sucht er in den Stapeln nach dem passenden Popelin im Blau des Mantels. Er schneidet den Stoff auf das richtige Maß, erklärt der Frau, wie er verarbeitet werden sollte, wickelt ihn ein.

Spürt der Wächter der Stoffe bei seinen Besuchern Interesse, verbreitern sich seine Kommentare zu kleinen Referaten oder Erfahrungsberichten. Ein gemütliches Berlinisch wie das seine ist in der vornehmen Akazienstraße nur noch selten zu hören.

Wundersame Dinge weiß er zu erzählen: Von Kaschmirtüchern, wie sie die Aristokraten zur Zeit Napoleons liebten, so hauchzart und leicht, dass sie ausgebreitet in der Luft stehen blieben.

Die Geschichte vom Querdenker Joseph-Marie Jaquard, der lustlos die Weberei seiner Eltern in Lyon übernahm, zwischen den Webstühlen saß und träumte, bis er gänzlich verarmt war. Dann erfand er einen maschinell betriebenen Webstuhl, den man als den ersten Computer bezeichnen könnte. Weil er nach demselben Prinzip funktioniert. Jaquard speiste ihn mit Lochkarten. Sein Code bestand zwar nicht aus Nullen und Einsen, doch auch aus lediglich zwei Informationseinheiten: „Loch“ und „kein Loch“. Loch hieß: Faden heben. Kein Loch: Faden senken.
So „programmiert“ entstehen an den Jaquard-Webstühlen die kompliziertesten Stoffmuster.

Das Gewand eines afrikanischen Stammesfürsten inspiriert Ilyapour zu einer Plauderei über Muster. Jene sinnlichen bunten Stoffe, die wir heute als typisch afrikanisch empfinden, stammen ursprünglich aus Indonesien, von wo die afrikanischen Sklaven sie mit nach Hause brachten.
Das Karo hingegen ist keine europäische Erfindung, sondern wurde zuerst in Indien und Afrika gewebt.

Immer weniger Leute schneidern selbst. Kaum einer setzt noch eine Nähmaschine in Bewegung, um etwas zu reparieren und auszubessern.
Doch in den letzten Jahren interessieren sich mehr und mehr die Film – , Theater – und Museumsleute für Ilyapours Stoffe, denn das exotische Lager erzählt Kulturgeschichte.
Die Botschaft der Stoffe handelt nicht nur von Moden, sondern von Lebensweisen, Träumen, Zeitgeist und vergangenen Utopien. Die Kulturwissenschaftler lassen sich von Ilyapour beraten.

Allein der Stoff eines einzigen Jahrhunderts ist unendlich. Ilyapour weiß, dass er nichts weiß. Er lernt gern dazu.

Kurz nach dem Mauerfall schlenderten zwei Damen aus der DDR durch die Schöneberger Akazienstraße. Sie kamen vom Dessauer Bauhaus und hatten von Fichu gehört.
Als sie hinter dem großen, bärtigen Mann zwischen die Stoffballen drängten, fanden sie, was sie suchten: Originale Bauhaus-Stoffe von Anfang der Dreißigerjahre.
In dieser Zeit, erfuhr Ilyapour, wurden viele Bauhaus-Entwürfe industriell gefertigt. Das neue Motto des Bauhauses hieß damals: Volksbedarf statt Luxusbedarf.
„Was möchten Sie für diesen Stoff haben?“, fragten die Frauen. Ilyapour murmelte etwas von „hundert Mark der Meter“. Die Damen waren entsetzt. Das sei doch viel zu billig. Die Stoffe seien mindestens das Drei – bis Vierfache wert. Und das wollten sie auch dafür zahlen. Selbstverständlich.
Ilyapour muss sie verstört angeschaut haben. Diese kleine Begebenheit hat seine Meinung über die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. „Ich habe damals viel von den Leuten aus dem Osten gelernt. Da waren Fachleute dabei, die drüben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hatten.“
Seither verwahrt er die Bauhaus-Stoffe an einem diebessicheren Ort.

Ilyapour ist ein Beobachter. Er steht auf der Treppe, saugt an den Zigaretten, die seinen grauen Bart um die Lippen gelb färben und lauscht den Geschichten der Leute.

Manchmal drückt er den Passanten, die bei ihm stehenbleiben, zu Beginn der Plauderei einen Zettel in die Hand. „Da steht was drauf, was du gleich sagen wirst. Ließ das erst, wenn ick es sage.“
Mit dieser ruhigen, tiefen Stimme, die manchmal von weit hinten zu grollen beginnt.
Nach zirka fünf Minuten fordert er seinen Gesprächspartner auf zu lesen. Da steht: Ich muss jetzt weiter. Habe zu tun.
Ilyapour lacht. „Früher wollten die Leute gar nicht mehr weg. Heute haben es alle eilig. Gemütlich darf es nicht werden.“

Manchmal wird es doch gemütlich, zum Beispiel, wenn eine ehemalige Mitbewohnerin aus alten WG-Zeiten vorbei schaut. Sie steigt auf die Fußbank an der Wand mit den Chanel-Knöpfen, um an seine Wange zu reichen und ihm einen Kuss zu geben. Wie früher.
Als habe sich seit damals nichts geändert. Unter den Knittern sitzt dieselbe Qualität, die Träume und das Begehren.

Der Wächter der Stoffe sieht sich auch als Hüter einer Kultur, von der die schlecht gekleidete Generation Turnschuh da draußen nichts mehr weiß. Er steht wie ein Bollwerk gegen den Werteverfall auf der Treppe.
„Ick rede hier nich von Klamotten, wa.“ Eine ernst gemeinte Warnung. Er nimmt das Wort mich höchster Verachtung zwischen die Zähne. Für ihn ist es Synonym der Vernachlässigung und des mangelnden Stils.

Dass man sich heute nicht mehr kleidet, sondern Klamotten trägt, darin sieht Ilyapour den gesellschaftlichen Wandel ausgedrückt, die Entwertung des Menschen, dessen Begabungen und Individualität nicht mehr gefragt seien.

Er hängt die finnischen Op-Art-Kleider an die Tür, exotische Stücke aus hauchdünner, reiner Wolle, per Hand bedruckt in den Sechzigerjahren. Ilyapour interpretiert die großzügigen Motive als Monitore und Netzwerkkabel. Es sind Kleider, mit deren intellektuellen Unschick sich viele Frauen gern umgeben würden, der jedoch die wenigsten kleidet.

Was hat er damals in den Sechzigerjahren gemacht? Wovon träumte er? Wofür hat er gekämpft? Er winkt ab, schüttelt den Kopf. Darüber möchte er nicht sprechen. Wozu auch? Das ist vorbei.

Jetzt ist Zeit für den zweiten Kaffee im Double-Eye nebenan. Er grüßt die Studenten, die immer gut gelaunt, den besten Espresso der Stadt aus der alten FAEMA E 61 holen, den Milchschaum in der Form eines Blattes oben drauf setzen und mit Kakao bestreuen. An den Bistrotischen vor der Tür bietet sich jede Menge neuer Stoff. Das Leben hört nicht auf zu weben. Die alte Maschine rattert. Wer denkt sich nur diese bizarren Muster aus?

Ein Koffer voller Hüte: Vom Leichtsinn des Geldausgebens

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung vom 8. September 2007

Karla hat kein Geld. Wieder einmal muss ich ihre Limonade bezahlen. Wenn ich mit Karla im Grashüpfer verabredet bin, kann ich darauf warten, dass sie irgendwann mit beiden Händen an die Taschen ihrer Jeans greift, mich mit runden Augen erschrocken ansieht und sagt: „So was blödes – ich habe mein Geld vergessen.“

Ich frage mich, wie Karla tickt. Ich vergesse Eintrittskarten, mein Telefon, Geheimzahlen und Namen, aber niemals Geld. So sehr ich mich auch anstrenge. Es muss wundervoll sein, Geld einfach vergessen zu können. Geld ist mein Feind. Er ist allgegenwärtig. Er hat mich umzingelt und rückt täglich weiter gegen mich vor. Aber ich gebe den Kampf nicht auf. Schließlich bin ich im Zeichen des Löwen geboren.

„Man kann Geld nicht vergessen“, knirsche ich. Karla ist beleidigt. „Du glaubst also, ich lüge dich an.“ Sofort tut es mir leid. Ich entschuldige mich. „Wahrscheinlich gehörst du zu den wenigen, glücklichen Frauen, die Geld deshalb vergessen können, weil sie sich einen reichen Mann geangelt haben“, sage ich schnell. Das macht die Sache noch schlimmer. Karla will gehen. „Es war nicht böse gemeint. Ehrlich. Ich bin doch nur neidisch.“ „Ich zahle dir alle Limonaden zurück“, faucht Karla. Ich starre auf die grünen Farbfladen, die von dem Gartentisch abblättern. Karla sagt, sie habe es satt, sich ständig dafür zu rechtfertigen, dass ihr Mann ein normales Einkommen hat. „Ich kann nichts dafür“, schwört sie. „Außerdem habe ich nichts davon. Er ist nämlich geizig.“

Ich zähle die Münzen in meinem Portemonnaie. Sie reichen gerade noch für zwei Limonaden. Bleiben noch ein paar Centstücke für die Bettler. Ich stecke sie in meine Hosentasche. Jetzt verstehe ich, was die anderen meinen, wenn sie sagen, Geld zerstöre die besten Freundschaften. Wenn möglich, vermeide ich den direkten Kontakt mit Geld. Geld ist mir unheimlich. Es ist der einzige Stoff, der sich in Luft auflösen kann, ohne das wenigstens eine Restsubstanz bleibt. Geld bewegt sich außerhalb der Naturgesetze.

Ich bevorzuge Karten. Karten sind elastisch und stabil. Sie ändern nicht einmal die Farbe. Karten sind konstant. Man steckt sie in einen Schlitz, zieht sie wieder heraus und hat bezahlt. So einfach. Karten suggerieren, dass es Geld in Wirklichkeit gar nicht gibt. Der Feind ist nichts als eine virtuelle Größe, eine Zahl, die auf dem Kontoauszug hin und wieder die Seite wechselt.

„Du bist leichtsinnig. Eine Grille“, sagt Antoine. Er meint die Künstler-Grille aus der Fabel, die kurz vor Weihnachten die Ameise um einen zinsfreien Kredit anbettelt. Antoine zahlt nie mit Karten. Trotzdem ist er mein liebster Verbündeter im Kampf gegen das Geld. Wie er das Wort „Grille“ ausspricht, schillert es wie eine Libelle in der Sonne. Limonaden und Eis kann man nicht mit Karten bezahlen. Im Grashüpfer sind sie ganz versessen auf Bargeld. Bettler, Bananenhändler und Taxifahrer – alle wollen klingende Münze. Es gibt Tee – und Buchläden, in denen man wie ein Betrüger angeschaut wird, wenn man eine Karte über die Ladentafel reicht. Aber ich bin sicher, dass immer mehr Menschen wie ich mit einer Bargeld-Phobie zu kämpfen haben.

Die Maschine für die Kontoauszüge rattert so laut, dass das Foyer der Bank vibriert. Das Wort „Rädern“ fällt mir ein, eine mittelalterliche Hinrichtungsmethode, bei der die Leiber der Verurteilten mittels riesiger Wagenräder zermartert wurden. Ich spüre die tausend Spitzen des Nadeldruckers meine Haut durchdringen, Pixel, die sich zu einer Zahl formieren – mein Kontostand. Meine Hände schwitzen. Hinter mir bildet sich eine Schlange. Die Tortur nimmt kein Ende, weil ich ständig mit Karten bezahle und dann wochenlang so tue, als gäbe es die Soll-Seite meines Kontos nicht, auf der mein Einkommen verdunstet, sobald es dort unten aufschlägt.

Manchmal ruft der Bankangestellte an und fragt, ob er mir helfen kann. Dann weiß ich, dass jede Hilfe zu spät kommt. Ich erfinde Zahlungen, die in den nächsten Tagen eintreffen. Ich beruhige den Banker. Ich tröste ihn. Ich sage ihm, dass er sich um mich bloß keine Sorgen machen soll. „Bitte entnehmen Sie die Ausdrucke. Es folgen weitere.“ Der Kasten wird von den Vergehen der letzten Wochen hin und her geschüttelt. So muss sich das jüngste Gericht anfühlen. War der Lippenstift wirklich nötig? Und wieder bin ich in Friedrichshain, Kreuzberg und Mitte vom rechten Weg in diverse Bekleidungsgeschäfte abgekommen und der Versuchung erlegen. Und die Bücher? Warum, zum Teufel, kann ich nicht auf die Taschenbuchausgaben warten?

Solange es möglich ist, mit weniger als nichts zu bezahlen, geht das Leben weiter, sobald ich den ratternden Beichtstuhl in der Bank hinter mir gelassen habe und wieder durch die Straßen und Läden treibe. Schließlich zahlt die ganze Welt mit weniger als nichts. Auch in diesem Punkt ist Berlin der ganzen Welt eine Nasenlänge voraus. Schulden gehören hier dazu. Außerdem trifft man nirgendwo so viele Menschen, die ohne festes Einkommen ihr Dasein sichern, wie in Berlin. Straßenmusikanten, Jongleure, Scheibenputzer, die Verkäufer von „Motz“ und „Straßenfeger“ und den vielen Überlebensblättern, mit denen man inzwischen einen ganzen Kiosk füllen könnte. Diese Idee gefällt mir. Ich habe die Vision einer Gesellschaft, die auf der Straße lebt. „Ist schwierig in Deutschland“, sagt ein Freund, der schon in vielen Teilen der Welt gelebt hat. Er erscheint mir ausreichend unkonventionell, eine Gesellschaft auf der Straße mit zu begründen. „Ist zu kalt hier. Wir werden erfrieren“, sagt er. Obwohl er nicht auf der Straße leben muss, verlässt er Berlin bald wieder und zieht in eine wärmere Gegend.

Zum Glück ist Antoine hier. Unsere Strategien sind zwar verschieden, weil wir von verschiedenen Kulturen geprägt sind, doch wir ergänzen uns hervorragend. Wo ich ängstlich werde, bleibt Antoine souverän. Wenn seine Nerven blank liegen, bin ich gelassen. Antoine verliert Geld. Es rieselt aus seinen Hemden, Hosenbeinen und Socken. Er lässt die Münzen auf dem Fußboden seiner Wohnung liegen. Auf seinem Schreibtisch sammeln sich Häufchen versehentlich in die Wäsche geratener Kassenbons und Rechnungen, zusammen gepappt und unleserlich. Manchmal klemmt ein Geldschein dazwischen. „Ist doch nur Geld“, sagt Antoine. Ich führe niemals mehr als einen Geldscheinen bei mir. Diesen beobachte ich argwöhnisch, bis er zerlegt ist.

Wenn ich vergeblich auf eine Zahlung warte, schreibe ich eine erste, später eine zweite Mahnung. Wenn die zwei Mahnungen nicht helfen, gehe ich zum Gericht. Die düsteren Gänge des Mahngerichts sind mir inzwischen vertraut. Die brummigen Anweisungen der Beamten verstehe ich inzwischen schon beim ersten Mal. Ich kenne alle türkischen Bäcker rings um das Gerichtsgebäude, die Mahnbescheide verkaufen. „Einen Tee, zwei Baklava und einen Mahnbescheid bitte.“

Wenn Antoine sein Geld nicht bekommt, beginnt er zu klagen. Er beklagt sein Leben und die ganze Welt. Wochenlang. Ich habe Angst, dass er sich etwas antut. „Warum schreibst du keine Mahnung?“, sage ich. „Warum nimmst du dir keinen Anwalt?“ Antoine seufzt nur. Dann führt er ein langes Telefongespräch mit seinem säumigen Geschäftspartner. Er sagt, dass er seit Wochen nicht mehr schlafen könne, weil das Geld noch nicht da ist. Er sagt, er würde gern mit seiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung ziehen und brauche das Geld für neue Möbel. „Was erzählst du da?“, frage ich in sein Telefonat. Wir haben niemals über eine gemeinsame Wohnung gesprochen. Antoine zwinkert, grinst und legt den Finger an die Lippen. Er sagt, er habe seinem Sohn ein neues Fahrrad versprochen. Und in vier Monaten sei schon wieder Weihnachten. Der andere hört sich alles geduldig an und erklärt dann, dass seine drei Kinder gerade in der Ausbildung steckten und eines seiner zwei Häuser dringend ein neues Dach brauche. Antoine schlägt vor zu tauschen. Er könne ja zur Abwechslung mal in einer popligen Berliner Mietwohnung leben. Ob ihm überhaupt klar wäre, dass er auf seine, Antoines, Kosten so wohlhabend geworden sei, während er, Antoine, nicht einmal ein kleines Appartement für sich und seine Frau in Berlin kaufen könne. Der andere entgegnet, Antoine solle sich bloß nicht wünschen, Hausbesitzer zu sein. Es sei ja alles so teuer geworden. Das Dach bereite ihm Magenschmerzen. So geht das hin und her. Im Laufe des Gespräches tauchen noch ein uneheliches Kind, ein arbeitsloser Bruder, ein kranker Hund und ein Neffe, dessen Haus überschwemmt wurde, auf. Am Ende handeln sie eine Zahlung aus, einen Kompromiss.

Ich frage mich, wieso sie nicht schneller auf den Punkt kommen. Bis ich verstehe, dass es sich um ein Kriegsritual handelt. Man spielt mit dem Feind Katz und Maus. Man schubst ihn hin und her, beißt zu und tut dann wieder so, als ließe man ihn laufen. Der Feind ist das Geld. Sie beweisen ihre Überlegenheit, in dem sie selbst darüber entscheiden, was sie mit ihm anstellen werden. Sie sind keine Gegner. Sie sind Verbündete im Kampf gegen die Macht des Geldes.

Einmal, als Antoine bei mir über Nacht bleibt, klingelt der Bankangestellte uns morgens aus dem Bett. Antoine lauscht dem Telefongespräch. Er springt aus dem Bett, baut sich vor mir auf und gestikuliert wild. Er schaltet den Lautsprecher ein. Er bekommt einen Schweißausbruch. Er will unbedingt wissen, was auf meinem Konto und in meinem Depot los ist. „Das ist meine Sache“, sage ich. Antoine fängt fürchterlich an zu klagen. „Es ist doch nur Geld“, beruhige ich ihn. Antoine sagt, ich sei so leichtsinnig wie eine ganze Wiese voller Grillen. Ich stelle mir eine Wiese voller Grillen vor, die so zartgrün schillern wie in Antoines Aussprache. Man trifft sie wohl nur am Mittelmeer. Am Mittelmeer müsste es möglich sein, eine Gesellschaft zu gründen, die auf der Straße lebt. Oder am Strand.

Als ich klein war, kamen meine Großeltern an manchen Abenden spät aus der Stadt zurück. Mein Großmutter flüsterte mir dann zu: „Wir waren heute leichtsinnig.“ Sie legte dabei den Finger auf den Mund, was bedeuten sollte, dass es unter uns bleibt. Sie lächelte verschmitzt, als bereitete ihr der Gedanke, Geld für Eis und einen Besuch im Zirkus verschwendet zu haben, mehr Vergnügen als das Eis und der Zirkus selbst. Kichernd präsentierte sie schließlich einen neuen Hut. Wenn Antoine sagt, ich sei leichtsinnig, fühle ich mich wie meine kichernde Großmutter mit dem neuen Hut. Meine Großmutter besaß sehr viele Hüte. Leichtsinn scheint mir eine der besten Waffen gegen das Geld zu sein. Leichtsinn macht schön. Das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Hat ja keinen Sinn, sich wegen Geld graue Haare wachsen zu lassen.

Antoine sagt, er könne nicht mit mir leben. Er habe bereits genug Ärger. Ich packe die Hüte meiner Großmutter in einen Koffer und verlasse Berlin. Ich mache mich auf den Weg in den Süden. Dort werde ich mich dem Widerstand der schillernden Grillen anschließen. Berliner Zeitung

Dabei ist es noch gut hier

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Das Magazin Juli 2006

Hauptschüler in der Provinz. Sie haben kleine Träume und große Sorgen. Mit wem können sie die teilen? Mit den Lehrern jedenfalls nicht. Ein Sittenbild aus der Kleinstadt Kreischa.

Mit dem Nachmittag kann man nichts mehr anfangen. Diese Nachmittage gleichen sich. Sie folgen aufeinander wie eine vergilbte Buchseite der anderen. Abgegriffene Zeit. Zu spät, sich unter ein Auto zu legen und zu basteln.
Hausaufgaben haben sie nicht. „Wir haben nie Hausaufgaben“, sagt Robert. Daniel sieht schon wieder auf sein Handy. Der Fahrlehrer könnte jeden Moment anrufen. Vielleicht klappt es morgen mit der Moped-Prüfung. Einmal ist er schon durchgefallen, weil er bei Gelb an einer Baustelle vorbei gebrettert ist. Da, wo er heimlich übt, im Wald und auf dem Acker, stehen keine Ampeln. Er röstet durch Schlamm und über Wurzeln, träumt sich als Moto-Crosser. „In den Sommerferien fahre ich nach Berlin“, sagt er.

Sie hocken auf den alten Tischtennisplatten vor der Bowlingbahn. Ein schöner Platz. Ein grüner Platz. Nebenan plätschert ein Bach.
Daniel rammt seine Ferse in die zerborstene Ecke der Steinplatte. Die bröckelt seit Jahren schon. Die Bänke auf dem Platz sind morsch wie der flache Holzbau der Bowlingbahn. Die Fenster mit Brettern vernagelt.

Daniel ist Sprecher der Klassenstufe 9 Hauptschule und stellvertretender Schülersprecher der Mittelschule Kreischa. Seine Mitschüler haben ihm ihr Vertrauen ausgesprochen. Daniel, der mit seiner Meinung nicht hinter den Berg hält, seinen Widerwillen gegen die Welt ausspuckt, manchmal quer wie eine Wand steht. Groß und breit. Ein Kerl wie ein Bär. Seine Hände beulen die Hosentaschen.

Robert spricht wenig. Der Schulbus nach Maxen, seinem Heimatort, ist längst abgefahren. Er hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er muss erst am Abend in Maxen sein, wenn das Training bei der Freiwilligen Feuerwehr beginnt.

Die Schule steht drüben am Hang. Sie thront über dem Ort. Sonnenlicht flutet durch die Korridore, bleicht Bilder, Landkarten und Wandzeitungen, auf denen in diesem Monat das Römische Reich erklärt wird. Es ist eine saubere Schule. Der Blick aus dem Lehrerzimmer gleitet über den Ort, über Pferdekoppeln und die gelben Häuser der Bavaria-Klinik.
Fachwerk. Trockenblumen und Getöpfertes. Da drüben, der kühne Glasgiebel, wurde mit einer Gardine verhängt. Kreuzworträtsel und Häkelmuster knautschen in den Sesselritzen.
Nach Kreischa ziehen sich Menschen zurück, denen es in Dresden zu laut wird. Die Großstadt mit ihren Theatern, Konzertsälen und Edel-Boutiquen ist dennoch nicht weit.

Die Schülervertreter sind mal auf das Schulamt nach Dresden gefahren. Wegen diesem Lehrer, dem Grabscher, der den Mädchen an den Hintern geht und dabei Dinge sagt wie: „Geiler Arsch.“
Man hat sie wieder nach Hause geschickt. „Wir müssen mindestens fünf Zeugen bringen“, sagt Daniel. „Sie wollen klare Beweise.“ An mehr könne er sich jetzt nicht erinnern. Sei schließlich schon ein halbes Jahr her. Und er sei da auch nur mitgefahren. Habe weiter hinten gestanden, dritte Reihe ungefähr und nicht alles mitbekommen.

Die Hände beulen die Hosentaschen. Daniel, der plötzlich nicht weiß, wohin mit diesen Armen und Beinen, diesem großen Körper und seiner Wut.
„Die aus der Zehnten“, erzählt er. „Die sind mal alle zu dem hin, alle Jungs. Da sind solche Kerle dabei.“ Daniel streckt den Arm bis zur löchrigen Dachrinne der Bowlingbahn. „Sie haben dem gesagt, dass sie zum Schulamt gehen oder zu seiner Frau, wenn es nochmal passiert. Seitdem lässt er die Mädchen aus der Zehnten in Ruhe. Wir sind gerade mal acht Jungen. Die in der Zehnten sind sechzehn.“ Daniel sackt zusammen. Er blickt zu Robert, der neben ihm lehnt, klein, die Schultern noch schmal. Fünfzehn Jahre. Daniel ist zwei Jahre älter.
„Sitzen geblieben.“ Robert grinst. „Quatsch“, sagt Daniel. „Ich habe zwei Klassen wiederholt.“
Daniel legt sein Handy jetzt immer auf die Schulbank. Für das Beweisfoto. „Der schmeißt auch einen Stapel Papier runter und fordert ein Mädchen auf, ihn aufzuheben, um ihr in den Ausschnitt zu schauen“, sagt Robert.

Der Bus nach Maxen, Roberts Heimatort, fährt durch Apfelplantagen und Wiesen, vorbei an einem Gestüt. Robert zeigt den Weg zur Naturbühne, das beste Restaurant des Ortes und erzählt von der neu gebauten Moschee. Er weiß, was Gäste interessiert, die nach Maxen kommen.
Die Mädchen hätten jetzt vor den Prüfungen Angst zu sprechen, sagt er. „Wenn der uns reinlegt, ist alles verloren.“
Hilfe von den anderen Lehrern könne man vergessen.
„Dreckfressen“ hätte mal eine geschrien. Und dass sie den qualifizierten Hauptschulabschluss sowieso nicht schaffen. Sie hätten fast alle schon Ohrfeigen einstecken müssen. Manchmal würden sie im Klassenraum eingeschlossen.
Eine Lehrerin sei aber ganz in Ordnung, sagt Robert. Ihr hätten sie sich anvertraut und der netten Dame von der AOK Freital, die das Bewerbertraining mit ihnen gemacht hat.

Robert erzählt von Dynamo Dresden, seiner Lieblingsmannschaft und dass er kein einziges Heimspiel versäumt, dass sein Vater, nicht sein richtiger Vater, deswegen sauer sei, dabei sei er es doch gewesen, der ihn als Kind mit auf den Fußballplatz nach Dresden geschleppt hat.

Der Lehrer schlendert über den sonnigen Gang. Das Linoleum glänzt. Er schwenkt sein Schlüsselbund. Er lächelt. Er sagt zu dem dünnen Mädchen mit den rosa Haaren: „Hallo. Wie geht’s?“ Sie antwortet nicht, federt die Treppe hinab, blickt sich nicht um, weil sie weiß, dass er am Geländer steht und ihr nachschaut.
„Ich habe von dieser Sache gehört“, sagt die Lehrerin mit den großen, wachen Augen. „Man kann nichts machen, solange es keine Beweise gibt.“

Daniel hat einen Ausbildungsplatz. Nicht weit von Kreischa, in einem Restaurant, wird er Koch lernen. Seit einiger Zeit jobbt er hin und wieder im Hotel „Kreischaer Hof“. Er mache dort alles. „Na, alles eben.“ Er zuckt die Schultern, verwundert über die Frage. Was gibt es da zu erzählen? Ist es für irgendwen interessant, ob er den Geschirrspüler einräumt, Gurken schält oder die Tische eindeckt? Man müsse eben bereit sein, alles zu machen und wer arbeiten will, der findet auch eine Arbeit. Es sei doch kein Wunder, dass der Staat pleite ist, wenn so viele Leute nicht arbeiten wollen. „Die schlafen bis elf und saufen schon am Vormittag.“ Er kenne die. Habe selber jemanden in der Nachbarschaft, der auf Hartz IV mache.

Robert ist still. Selbst, wenn er anderer Meinung wäre als Daniel, würde er den Mund halten, sich nicht mit diesem Brocken anlegen, der mit dem Mundwerk allen voraus ist. Also denken sie über alles gleich. Ist einfacher so. Über Hip-Hopper: „Sieht doch bescheuert aus, wenn die Hosen bis in die Knie hängen.“ Über Ausländer: „Nichts dagegen, wenn die arbeiten.“ Schwule: „Pervers.“ Was das Wort bedeutet, weiß Daniel nicht. „Ich meine doch nur, dass es eklig ist, wenn die vor mir knutschen, während ich gerade esse.“

Robert ist noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Er möchte später ein eigenes Restaurant führen.
Am nächsten Tag bringt sie ein Bus übers Land. Schulexkursion. Sie sollen sich Betriebe anschauen, in denen Metall verarbeitet wird.
Nach dem ersten Betriebsrundgang weist der Geschäftsführer darauf hin, dass er nur Abiturienten und Realschüler ausbildet. „Wir können arbeiten“, ruft einer der Hauptschüler. Der Geschäftsführer zerrt an seinem Kragen unter der Krawatte. Sein Gesicht ist rot. Er entscheide nach Noten. Eine andere Wahl habe er nicht. Vierzig Bewerber, aus denen er einen auswählt. Sie könnten aber ein Betriebspraktikum machen. In der zweiten Firma empfängt sie eine ältere Frau. Sie hält die Hände vor dem tonnenförmigen Leib gefaltet, während sie erklärt, dass sie keine Mädchen ausbildet, weil Mädchen Kinder bekommen und dann nicht mehr am Abend und in der Nacht arbeiten könnten. Das rechne sich nicht. Die Maschinen müssten Tag und Nacht laufen. Mit den Hauptschülern, da müsse man sehen. Sie hätte auch Arbeiter mit Hauptschulabschluss.
Die Fußböden der Fabrikhalle schwitzen ölig. Aus einem Abfall-Container quellen rötlich und weiß glänzende Spiralen aus Edelstahl. Zwei Mädchen bleiben stehen und suchen die schönsten aus. Wie die Lockenpracht eines Fauns, dessen Kopf man nach der Enthauptung in diesen Behälter gequetscht hat.

„Man muss vorsichtig sein mit dem, was die Hauptschüler manchmal erzählen“, sagt die junge Lehrerin. „Sie reagieren so sensibel. Die bilden sich auch schnell mal etwas ein. Sie neigen zu Übertreibungen.“
In den letzten Jahren sei es immer schwieriger geworden, sie zu unterrichten. Inhalte könne sie kaum noch vermitteln. Hausaufgaben gibt sie schon lange keine mehr auf. Die Auseinandersetzung zu Beginn der Stunde, wer wieder nichts gemacht hat, raube zuviel Zeit und Kraft. „Manchmal, wenn ich in die Klasse komme und nicht lächele, werde ich von der Seite angemacht: ‚Schlechte Laune heute?“

Der Bus bringt die Schüler nach der Exkursion zurück nach Kreischa. Vorbei am Bäcker, am Döner-Laden, dem über hundertjährigen Textilhaus Schauer und der Drogerie am Buswendeplatz. Im Schaufenster der Drogerie bröseln verblichene Heilpflanzen. Drinnen lehnt die Drogistin an der hohen Eichenwand und blickt durch die Kunden hindurch zur Tür hinaus, die Hände zwischen Rücken und Wand, als stützten sie sich gegenseitig. Seit man denken kann, lehnt sie dort. Ihr Haar ist staubig geworden im Laufe der Zeit. Aber ihr Blick ist unverändert, egal, ob die Schüler Brausepulver oder Kondome kaufen. Sie könnten nach Cyankali oder radioaktiven Uran fragen, sie würde mit der gleichen Miene antworten: „Tut mir leid.“

„Was hält uns hier?“ fragt Daniel trotzig. Sie sitzen im Bäckerladen neben dem Supermarkt. Die Frage klingt nicht nach Aufbruch, nicht einmal nach einer kleinen Radtour ins nahe Dresden, wo die Clubs, die sie hier vermissen, zahlreich sind. Die Frage ist als Vorwurf gemeint und als Ausrede, sitzen zu bleiben.

Draußen auf dem Parkplatz werden Autos abgefüllt, mit Dingen zu essen und Getränkestiegen, mit Dingen für das Haus und Dingen für den Garten. Behäbig röhren sie die Auffahrt zur Landstraße hinauf. Wenn er den Führerschein schon hätte, sein Moped, Daniel würde das Vorderrad in die Höhe reißen und an ihnen allen vorbei jagen. Der Fahrlehrer hat wieder nicht angerufen.

Bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt es keinen Unterschied zwischen Haupt – und Realschülern. Da können sie zeigen, was in ihnen steckt. Wie damals, 2002, als die Flut kam. Sie waren als Helfer unterwegs. Robert in Mühlbach, Schlamm aus den Kellern schaufeln und Trümmer beseitigen, Daniel in Freital, in dem Supermarkt, in dem seine Mutter als Kassiererin arbeitet. Er hat die Kunden einzeln mit der Taschenlampe zu den Regalen geführt, bis es wieder Strom gab.

Einen Vater hat Daniel nicht. „Den brauche ich nicht mehr“, sagt er. Der Vater hat die Mutter geschlagen und ist abgehauen, zu Weihnachten war das, vor einigen Jahren. Daniel will ihn nicht mehr sehen.
Robert hat einen Vater, aber es ist nicht sein eigener. Seinen eigenen Vater, das hat die Mutter entschieden, soll Robert nicht treffen. „Meine Oma ist auch strikt dagegen“, sagt er. „Ich habe ihn mal im Internet gesucht, aber nicht gefunden.“

Die junge Lehrerin sagt, dass sie die Probleme manchmal mit nach Hause nimmt und dass ihr Mann das alles gar nicht mehr hören kann. „Dabei ist es noch gut hier in Kreischa. Es ist eine kleine Schule. Wir Lehrer verstehen uns. Wir helfen uns.“
Sie erzählt von dem Zirkus-Projekt, wieviel Spaß es den Kindern gemacht hat, in der Manege zu stehen und kleine Kunststücke vorzuführen. Sie stützt den Kopf auf, das lange Haar fällt über den Handrücken. Sie blickt aus dem Fenster, dahin, wo im letzten Sommer für einige Wochen das Zirkuszelt auf der Wiese stand.
Sie wisse, dass Eltern in der Schule waren wegen der Vorfälle mit dem Lehrer. Dass sie ihn zur Rede gestellt hätten.
Der Vater eines Mädchens aus ihrer Klasse sei mal in die Schule gekommen, sagt Robert. „Ein Kerl wie ein Baum. Ein Rocker. Überall tätowiert. Und der Lehrer hat den ausgelacht. Hat gesagt, dass seine Tochter lügt. Der sagt, die Mädchen bilden sich das nur ein. Er sagt, sie übertreiben.“
Und wenn wieder etwas ist, sollten sie sofort zu ihr kommen, habe die junge Lehrerin gesagt. Ihr Klassenlehrer auch. Sie waren bei beiden. Passiert ist nichts.
Der Schülerrat, die Elternvertreter, alle wissen es. Der ganze Ort weiß es. Alle, die früher hier zur Schule gingen. Er ist schon lange hier, dieser Lehrer. Vielleicht erinnert sich sogar die Drogistin.

Aber nichts ist jemals geschehen.