Der Wächter der Stoffe

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Das Magazin Mai 2007

Er verachtet Turnschuhträger und Menschen, die Klamotten sagen, wenn sie Kleidung meinen. In Berlin herrscht Oleg Ilyapour über ein kleines Reich aus seltenen, wunderbaren Stoffen voller Geschichten

Inmitten der bunten Szeneläden in der Berliner Akazienstraße, zwischen Estrellas Chocolaterie und dem Coffeeshop Double-Eye, klemmt ein schmales Geschäft. Die Eingangstür bewacht ein kräftiger Mann mit langem, grauen Bart.
Im Winter trägt der Mann einen Schafwollmantel, im Sommer bunte Gewänder.

Oleg Ilyapour steht jeden Tag auf der Treppe vor seinem Geschäft. Er ist eine verlässliche Größe im Kiez. Die Leute kennen ihn seit Jahren, bleiben auf eine Zigarette mit ihm stehen, plaudern über Politik und Krankheiten, Familienprobleme und die Preise.

Ilyapours Geschäft heißt Fichu, was soviel heißt wie: kaputt, futsch, erledigt, im Eimer.
Im Schaufenster liegen Stoffballen. Das handgeschriebene Schild mit den Öffnungszeiten ist im Laufe der Jahre ergraut.
Wenn der Frühling kommt, hängt Ilyapour Kleider an die Tür, im Winter Jacken aus Tweed.

Passanten, die sich durch die schmale Tür drücken und einfach mal schauen wollen, werden nicht, wie in den anderen Mode-Läden ringsum, von gefälliger Musik und klingelnden Bügeln, Sonderangeboten und Bonbongläsern auf polierten Ladentafeln umworben, sondern von Ilyapour in rauhem Ton darauf hingewiesen, was sie hier erwartet. Nichts gewöhnliches, sondern originale Naturstoffe aus den Zwanziger – bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Qualitätsware.

Die Stoffballen liegen bis unter die Decke gestapelt, so dicht wie die Menge an Jahren und Wochen eines ganzen Jahrhunderts. Schwere Wollstoffe erdrücken geblümte Sommerreste aus Seide. Die Klassiker: Pepita, Fischgrat, Salz & Pfeffer in verschiedenen Qualitäten über – und nebeneinander gepresst, ein Zipfelchen Chintze darüber und zwischendrin karierter Hemdenstoff aus ägyptischer Baumwolle. Fünfziger Jahre. „Garantiert frei von Pestiziden“, sagt Ilyapour. Steifes Leinen, streng wie Hausfrauenstolz, zwischen weichen Jerseys und noppigen Tweeds.
Die freien Wandplätze sind von Mode – Reliquien besetzt: Hackenschuhe, ein Schirm aus Papier, Schmuck aus riesigen bunten Klunkern, ein gestreiftes Kleid aus Azetatseide.

Nur ein schmaler Gang ist zwischen den Stoffballen geblieben. Ilyapour, breit wie ein Bär, passt gerade noch so hindurch. Er zwängt sich voran, gefolgt von seinen Kunden.

Das schwule Pärchen sucht Stoff für Sitzkissen. Sie sind nicht sicher. Hahnentritt vielleicht. Ach nee. Ein Salz – und Pfeffer – Anzugstoff aus den Zwanzigern, wie ihn die Proletarier damals gern auf den Parteiversammlungen trugen?
Wie wäre es mit diesem da? Uni. Orange. Reine Schurwolle aus den Sechzigern.
„Kratzt aber“, warnt Ilaypour.
„Ich sitze da ja nicht nackig drauf. Normalerweise trage ich Hosen“, entgegnet der Käufer.
„Na dann bin ich ja beruhigt.“ Ilyapour wickelt den Stoff in braunes Packpapier.
„Sieht aus wie ein Wurstpaket“, freut sich sein Kunde. Eine leichtfertige Bemerkung, die Ilyapour heraus fordert. „Woanders bekommen Sie für Ihr Geld eine schöne Verpackung mit nix drin“, dröhnt er. „Bei mir ist es umgekehrt. Übrigens ist das auch gutes Packpapier.“

Er knurrt einen Abschiedsgruß. Die beiden ziehen glücklich weiter. Sie mögen die bärbeißige Kompetenz des Stoffhändlers.

Oleg Ilyapour macht keinen Hehl daraus, dass er auf die meisten seiner Kunden auch verzichten kann. Er will ja nicht reich werden. Er braucht eh nicht viel. Morgens und mittags einen Kaffee im Double-Eye nebenan, die billigsten Zigaretten, wenig Strom. Einmal in der Woche geht er tanzen. „Hätte ich ein Auto und würde zweimal im Jahr verreisen, könnte ich den Laden nicht halten.“

Die Stoffe sind das Erbe seiner Eltern. Sie kamen in den Zwanzigerjahren aus dem Iran nach Berlin. Sie lebten gut vom Handel mit den Stoffen, bis auch die letzte kleine Nähmanufaktur in Berlin aufgab. Das war irgendwann in den Siebzigerjahren.
„Das schmeißen wir nicht weg. Dafür haben Leute hart gearbeitet“, sagte seine Mutter damals, als sie die Ladentür für immer schloss.
Wenige Jahre später sperrte der Sohn sie wieder auf.

Die Frau, die einen neuen Gürtel für ihren blauen Trenchcoat sucht, weil der alte zerbröselte, ist nach Ilyapours Geschmack. Für Kunden wie sie, die Ausbesserer, Erhalter, Bewahrer, steht er morgens auf, trottet von seiner Wohnung zum Laden, dekoriert die Schaufenster alle paar Wochen neu.
Lange sucht er in den Stapeln nach dem passenden Popelin im Blau des Mantels. Er schneidet den Stoff auf das richtige Maß, erklärt der Frau, wie er verarbeitet werden sollte, wickelt ihn ein.

Spürt der Wächter der Stoffe bei seinen Besuchern Interesse, verbreitern sich seine Kommentare zu kleinen Referaten oder Erfahrungsberichten. Ein gemütliches Berlinisch wie das seine ist in der vornehmen Akazienstraße nur noch selten zu hören.

Wundersame Dinge weiß er zu erzählen: Von Kaschmirtüchern, wie sie die Aristokraten zur Zeit Napoleons liebten, so hauchzart und leicht, dass sie ausgebreitet in der Luft stehen blieben.

Die Geschichte vom Querdenker Joseph-Marie Jaquard, der lustlos die Weberei seiner Eltern in Lyon übernahm, zwischen den Webstühlen saß und träumte, bis er gänzlich verarmt war. Dann erfand er einen maschinell betriebenen Webstuhl, den man als den ersten Computer bezeichnen könnte. Weil er nach demselben Prinzip funktioniert. Jaquard speiste ihn mit Lochkarten. Sein Code bestand zwar nicht aus Nullen und Einsen, doch auch aus lediglich zwei Informationseinheiten: „Loch“ und „kein Loch“. Loch hieß: Faden heben. Kein Loch: Faden senken.
So „programmiert“ entstehen an den Jaquard-Webstühlen die kompliziertesten Stoffmuster.

Das Gewand eines afrikanischen Stammesfürsten inspiriert Ilyapour zu einer Plauderei über Muster. Jene sinnlichen bunten Stoffe, die wir heute als typisch afrikanisch empfinden, stammen ursprünglich aus Indonesien, von wo die afrikanischen Sklaven sie mit nach Hause brachten.
Das Karo hingegen ist keine europäische Erfindung, sondern wurde zuerst in Indien und Afrika gewebt.

Immer weniger Leute schneidern selbst. Kaum einer setzt noch eine Nähmaschine in Bewegung, um etwas zu reparieren und auszubessern.
Doch in den letzten Jahren interessieren sich mehr und mehr die Film – , Theater – und Museumsleute für Ilyapours Stoffe, denn das exotische Lager erzählt Kulturgeschichte.
Die Botschaft der Stoffe handelt nicht nur von Moden, sondern von Lebensweisen, Träumen, Zeitgeist und vergangenen Utopien. Die Kulturwissenschaftler lassen sich von Ilyapour beraten.

Allein der Stoff eines einzigen Jahrhunderts ist unendlich. Ilyapour weiß, dass er nichts weiß. Er lernt gern dazu.

Kurz nach dem Mauerfall schlenderten zwei Damen aus der DDR durch die Schöneberger Akazienstraße. Sie kamen vom Dessauer Bauhaus und hatten von Fichu gehört.
Als sie hinter dem großen, bärtigen Mann zwischen die Stoffballen drängten, fanden sie, was sie suchten: Originale Bauhaus-Stoffe von Anfang der Dreißigerjahre.
In dieser Zeit, erfuhr Ilyapour, wurden viele Bauhaus-Entwürfe industriell gefertigt. Das neue Motto des Bauhauses hieß damals: Volksbedarf statt Luxusbedarf.
„Was möchten Sie für diesen Stoff haben?“, fragten die Frauen. Ilyapour murmelte etwas von „hundert Mark der Meter“. Die Damen waren entsetzt. Das sei doch viel zu billig. Die Stoffe seien mindestens das Drei – bis Vierfache wert. Und das wollten sie auch dafür zahlen. Selbstverständlich.
Ilyapour muss sie verstört angeschaut haben. Diese kleine Begebenheit hat seine Meinung über die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. „Ich habe damals viel von den Leuten aus dem Osten gelernt. Da waren Fachleute dabei, die drüben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hatten.“
Seither verwahrt er die Bauhaus-Stoffe an einem diebessicheren Ort.

Ilyapour ist ein Beobachter. Er steht auf der Treppe, saugt an den Zigaretten, die seinen grauen Bart um die Lippen gelb färben und lauscht den Geschichten der Leute.

Manchmal drückt er den Passanten, die bei ihm stehenbleiben, zu Beginn der Plauderei einen Zettel in die Hand. „Da steht was drauf, was du gleich sagen wirst. Ließ das erst, wenn ick es sage.“
Mit dieser ruhigen, tiefen Stimme, die manchmal von weit hinten zu grollen beginnt.
Nach zirka fünf Minuten fordert er seinen Gesprächspartner auf zu lesen. Da steht: Ich muss jetzt weiter. Habe zu tun.
Ilyapour lacht. „Früher wollten die Leute gar nicht mehr weg. Heute haben es alle eilig. Gemütlich darf es nicht werden.“

Manchmal wird es doch gemütlich, zum Beispiel, wenn eine ehemalige Mitbewohnerin aus alten WG-Zeiten vorbei schaut. Sie steigt auf die Fußbank an der Wand mit den Chanel-Knöpfen, um an seine Wange zu reichen und ihm einen Kuss zu geben. Wie früher.
Als habe sich seit damals nichts geändert. Unter den Knittern sitzt dieselbe Qualität, die Träume und das Begehren.

Der Wächter der Stoffe sieht sich auch als Hüter einer Kultur, von der die schlecht gekleidete Generation Turnschuh da draußen nichts mehr weiß. Er steht wie ein Bollwerk gegen den Werteverfall auf der Treppe.
„Ick rede hier nich von Klamotten, wa.“ Eine ernst gemeinte Warnung. Er nimmt das Wort mich höchster Verachtung zwischen die Zähne. Für ihn ist es Synonym der Vernachlässigung und des mangelnden Stils.

Dass man sich heute nicht mehr kleidet, sondern Klamotten trägt, darin sieht Ilyapour den gesellschaftlichen Wandel ausgedrückt, die Entwertung des Menschen, dessen Begabungen und Individualität nicht mehr gefragt seien.

Er hängt die finnischen Op-Art-Kleider an die Tür, exotische Stücke aus hauchdünner, reiner Wolle, per Hand bedruckt in den Sechzigerjahren. Ilyapour interpretiert die großzügigen Motive als Monitore und Netzwerkkabel. Es sind Kleider, mit deren intellektuellen Unschick sich viele Frauen gern umgeben würden, der jedoch die wenigsten kleidet.

Was hat er damals in den Sechzigerjahren gemacht? Wovon träumte er? Wofür hat er gekämpft? Er winkt ab, schüttelt den Kopf. Darüber möchte er nicht sprechen. Wozu auch? Das ist vorbei.

Jetzt ist Zeit für den zweiten Kaffee im Double-Eye nebenan. Er grüßt die Studenten, die immer gut gelaunt, den besten Espresso der Stadt aus der alten FAEMA E 61 holen, den Milchschaum in der Form eines Blattes oben drauf setzen und mit Kakao bestreuen. An den Bistrotischen vor der Tür bietet sich jede Menge neuer Stoff. Das Leben hört nicht auf zu weben. Die alte Maschine rattert. Wer denkt sich nur diese bizarren Muster aus?

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