© Illustration Liane Heinze
Am ersten Tag des Jahres fühle ich mich wie auf einem Sprungbrett. Unter mir liegt das Jahr wie eine unbekannte Landschaft ausgebreitet. Das Feiern ist zu Ende. Ich wünsche mir eine Verlängerung des kuscheligen Weihnachtsgefühls, nur ein Stück Stollen noch und einen Glühwein, aber nein: Nach dem ersten Januar brennen die Kerzen am Weihnachtsbaum schneller runter als an den Feiertagen und die Gedanken formieren sich bereits für dieses unbekannte Land, das es ab Montag einzunehmen gilt. Wir müssen uns stellen. Springen. Zu der Ernüchterung passt es, dass die stille, glitzernde Schneedecke im Hof seit gestern schmilzt und mit dem Silvestermüll eine katergraue, dickflüssige Lache bildet.
In den vergangenen Wochen saß ich über dem Entwurf eines Fleischerladens, der zu einem Kieztheater umgestaltet werden soll. Ich habe oft eine Pause bei Leon eingelegt. Mit einem Glühwein, die Füße auf dem kleinen, elektrischen Heizkörper, saß ich in seiner Garage auf der Werkbank und schaute zu, wie er Fahrradteile wie kleine Kostbarkeiten aus den Paketen nahm und betrachtete, als hätte er sie nur bestellt, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. Ich beneide Leon darum, dass er so mühelos mit seiner Arbeit verschmilzt, dass Zeit und Kälte unbemerkt an ihm vorüber streichen. Der Ausdruck „alles im Fluss“ geht mir durch den Sinn. Ich hingegen hatte Angst vor meinem Entwurf. Sobald ich mich daran mache, gerate ich ins Schwitzen und entwickele aller zwei Stunden ein anderes Gelüst: Schokolade, Kaffee, Obst, einen Song von Abba, einen Song von Sting, ein bisschen Renaissance, dann wieder Barock. Unzufriedenheit wird mich quälen bis sich die Überzeugung einstellt, dass endlich alles stimmt. Doch ob und wann dieser Moment kommen wird, ist unvorhersehbar.
Die Weihnachtszeit bedeutet Leon nichts. Er mag es nicht, irgendeinen Tag mit Jahr mit Bedeutung zu füllen und mit Erwartung zu überfrachten. Das führt zu Enttäuschung, sagt er. Entweder du fühlst dich gerade gut mit deinem Leben oder nicht. Du kannst nicht sagen: Heute ist Weihnachten, da bin ich fröhlich.
Bei mir ist das anders. Ich freue mich schon auf Weihnachten, wenn im Spätsommer die ersten Paletten mit Spekulatius im Supermarkt auftauchen. Ich kann das nicht erklären. Es ist ein Naturgesetz. Wie die Bäume zu dieser Zeit aufhören, Chlorophyll zu produzieren, gewinnt eine feierliche Melancholie in meinen Gliedern die Oberhand. Spätestens im Oktober singe ich beim Duschen die ersten Weihnachtslieder. Schon vor dem ersten Advent kaufe ich einen Weihnachtsbaum.
Es ist der Baum, sagte ich, um Leon zu erklären, womit ich das schwindende Chlorophyll draußen in mir kompensiere. Er versteht etwas von Bäumen. Vielleicht ist das sogar einer der wenigen gemeinsamen Nenner unserer Seelen: Die Bäume.
Ich ehre die Bäume das ganze Jahr lang, sagte Leon. Ich brauche kein Weihnachten dafür.
Der Baum und das Kind, sagte ich. Darum geht es. Deshalb auch die Geschenke. Weil die Bäume wachsen und Früchte geben.
Es fällt mir schwer, Leon nichts zu schenken, aber ich halte mich an die Abmachung. Es stört mich nicht, wenn er in der Heiligen Nacht gegen zehn mit ölverschmierten Fingern aus der Garage kommt. Ich habe schließlich auch immer zu tun. Nach den Feiertagen bringt er plötzlich kleine Pakete an. Und dann kann auch ich mich nicht mehr zurückhalten und hole das Parfüm hervor, das ich im Advent für ihn ausgewählt habe.