© Illustration Liane Heinze
Nachdem Kolja gegangen war, spürte ich eine schmerzhafte Sehnsucht nach Leon, kein schlechtes Gewissen, aber den Wunsch, mit ihm zu sein, weil er niemals ging, sondern jeden Abend anrief, egal, ob er in Amsterdam war oder in Brüssel oder in irgendeinem belgischen Dorf. Weil er mich brauchte. Ich rief Leon an. Er war nicht mehr in Amsterdam. Er war weiter gefahren, nach Verviers.
Eine ganze Nacht lang war ich unterwegs, bevor der Zug morgens durch eine enge Felsenschlucht und wenig später in dem kleinen, quirligen Bahnhof von Verviers einfuhr. Leon auf dem Bahnsteig hatte Ringe unter den Augen. Sein Hemd war schief geknöpft. Ich musste auf der Plattform des Zuges warten, denn eine starke, in ein safrangelbes Gewand gewickelte Frau brauchte fast den gesamten Aufenthalt des Zuges, um Lederkoffer und karierte Gepäckbeutel aus dem Zug zu reichen, ein riesiger Berg an Gepäck. Ihr Mann auf dem Bahnsteig nahm sie entgegen und baute den Berg draußen wieder auf. Daneben warteten ihre Kinder. Ich überlegte, ob ich die Frau um den Mann, die Kinder und das Gepäck, um diese Fülle von Leben, an der sie schleppte, beneidete.
Leon pappte die Locken in die Stirn, küsste mich fahrig und zog mich rasch hinter sich her. „So!“, sagte er vor dem Bahnhof und räusperte sich mehrmals nervös. Das erste Mal reiste ich zu ihm, wenige Stunden nachdem ich mit Kolja geschlafen hatte, doch sofort übernahm er unseren gewohnten Rhythmus. Leon schien die Veränderung an mir nicht wahrzunehmen.
Wir erreichten ein kleines Hotel an einem belebten Boulevard. Die Dame an der Rezeption lächelte Leon freundlich an. Sie begrüßte ihn schon von weitem mit Namen. Das Gesicht unter der gelackten Frisur bekam einen warmen Ausdruck, als empfange sie in ihrem Reihenhäuschen zu Weihnachten einen lieben Gast. Sie löste sich schlank von der Wand am Tresen und reichte Leon den Schlüssel, ohne mich anzuschauen. Leon erwiderte ihre Freundlichkeit nicht. Er nahm den Schlüssel und zog mich hastig weiter zum Aufzug.
Ich stellte meine Tasche im Zimmer ab. Die Sonne war verschwunden. Die Gardinen erzeugten ein kalkiges Licht im Raum. Ein herannahendes Gewitter verdichtete die Luft.
Leons Hand fühlte sich schwer und warm an. Ich legte sie an meine Wange. „Was ist?“, flüsterte er. Ich schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“ Er setzte sich auf die Bettkante und schaute mich endlich an. Seine Hände lagen auf meinem Po, aber er hielt die Distanz und betrachtete mich weiter. Jetzt fiel ihm auf, dass ich verändert war. „Du siehst müde aus“, sagte er. „Steht dir gut, diese Erschöpfung.“ Es war aber nicht die Erschöpfung, sondern die wieder gewonnene Fähigkeit, in alle Himmelsrichtungen zu denken.
Ich begleitete ihn zu einem Fahrradhändler auf ein kleines Dorf. Während die Männer arbeiteten, lag ich draußen auf der Wiese und versuchte, Jun’ichiro Tanizakis „Lob des Schattens“ weiter zu lesen. Immer wieder schweiften meine Augen in der schwülen Wärme ab, durch einen Wald aus Grashalmen und Gänseblümchen blickte ich auf den grauen Putz des Hauses hinter der verlassenenen Dorfstraße. Ich dachte an die Frau am Tresen. Immer wieder lief der Film ihrer rätselhaften Freundlichkeit bei unserer Ankunft im Hotel vor meinen Augen ab und wie Leon ihr auswich. Ich war sicher, dass er nichts mit ihr hatte und dennoch eifersüchtig.
Am Abend spazierten den Boulevard hinauf. Wir gingen in ein kleines, orientalisch eingerichtetes Bistro, das Pommes Frites in zirka vierhundert Variationen anbot. Während wir die Pommes aßen, lief im Radio eine Ostermesse. Leon begann, auf die Heuchelei des Papstes zu schimpfen, der immer noch Kondome verbot. Die Pommesbäcker hinter dem Tresen gaben ihm Recht. Man wisse ja, dass die Ringe der Kinderschänder bis in den Vatikan reichen, murmelte ein rothaariger, blasser Mann in den Fünfzigern neben uns in seinen heißen Frittenberg. Die Polizei sei bestochen, sonst würde man die Verbrecher doch endlich finden, rief ein kleiner, kugliger Mann aus der Ecke. Es habe doch schon so viele gegeben, die denen auf der Spur gewesen seien. Schließlich mischten sich alle in das Gespräch. Katholische und muslimische Belgier schimpften gemeinsam mit Leon auf den Papst. Draußen begann es heftig zu regnen. Der Regen trommelte auf die Markise. Autoreifen schmatzen hell über den Asphalt. Das Bistro verwandelte sich in eine helle, von den Frittiermaschinen aufgewärmte Insel.
„Habe ich es dir nicht gesagt?“ Leon tänzelte mit einer Zeitung auf dem Kopf die Straße hinab. Er hatte mir sein Jackett gegen die kühle Regenluft gegeben. „So etwas wirst du in Berlin nie erleben.“ Ich wusste jetzt, warum ich auf die Frau am Tresen eifersüchtig war. Die Atmosphäre dieser Stadt passte Leon wie angegossen. Klatschnass kamen wir im Hotel an und krochen unter die heiße Dusche. Ich fürchtete, dass das Neonlicht im Badezimmer mich bloß stellen, dass Leon jetzt sehen würde, was geschehen war, aber er dampfte und stöhnte, seifte und schrubbte an sich und mir herum, eine Tortur, die jede Spur verwischte. Niemals würde ich ihn überrachen können. Er war der launenhaftere von uns.