Treibstoff der Poesie

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Keine Kalorien-Tabelle verrät, wie viel Energie beim Bücherschreiben verbraucht wird. Ernährungsexperten fächern das Spektrum der menschlichen Tätigkeiten in unterschiedlich anstrengende Beschäftigungen wie Fitnesstraining, Autofahren, Hundeausführen und Fernsehen. Die Poesie kommt darin nicht vor.
Der Schriftsteller sitzt am Schreibtisch. Das sieht leicht aus. Von außen wirkt er relativ unbewegt, und solange man ihn nicht anspricht, sogar entspannt.
Er wirkt, als lebte er von Luft und Duft und gelegentlich einer Handvoll Haselnüssen. Die Künstler selbst tun wenig, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
Keiner spricht über die Mühen. Eher lakonisch lassen die Dichter die Schwierigkeiten mit den Worten anklingen. Man ahnt den Ringkampf mit der Sprache. Dass er sie häufig vom Monitor weg, in die Defensive in Richtung Küche treibt, dieses Detail des künstlerischen Prozesses halten sie nicht der Rede wert. Eine Nachfrage offenbart pikante Gewohnheiten.
Die Literaturübersetzerin Elina Kritzokat gesteht, dass manche Schreibunterfangen so bedrohlich scheinen, dass sie sich mit einem extra vollen Magen dafür präpariert. »Man lernt ja schon als Baby, dass Sicherheit sich durch Essen einstellt.«
Es kann nicht verkehrt sein, sich derart zu bevorraten, denn immerhin verschlingt der Kopf zwanzig Prozent unseres gesamten Energiebedarfes. Wissenschaftler behaupten zwar, es spiele dabei keine Rolle, ob jemand viel oder wenig denkt. Dichten würde demnach nicht mehr Energie verbrauchen als Briefesortieren.
Dem widersprechen Berichte wie die von Jens Sparschuh. Er sagt: » Das Schreiben macht mich sehr hungrig, mehr als Gartenarbeit.« Vermutlich haben die Wissenschaftler bei ihren Berechnungen die Kunst außen vor gelassen. Kunst lässt sich eben nicht in Kalorien umrechnen. Es ist bekannt, dass kreative Denkprozesse ziemlich viel Dampf im Kopf erzeugen. Doch woher kommt diese Energie?
Jenny Erpenbeck schleicht hin und wieder zu ihrem geheimen Vorrat an Salzlakritz und quitschsauren Gummis. Tamara Bach zerfetzte ihre Lippen mit Salt & Vinegar-Chips, während sie ihre mehrfach preisgekrönten Jugendromane »Marsmädchen« und »Jetzt ist hier« schrieb. Sogar Richard Wagner, der ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Küche hat, sucht diese gelegentlich am Vormittag auf, um sich einige Röllchen einer deftigen italienischen Salami abzuschneiden, wenn er mal nicht weiter weiß.
Poeten brauchen offenbar starke Geschmacksreize. Wie sollten sie auch Werke komprimierten Lebens schaffen, wenn sie sich von blassen Flocken oder Blättern ernährten? Jenny Erpenbeck drückt es so aus: »Manchmal braucht man etwas Physisches, damit die Gedanken kein Übergewicht bekommen.«
Süße, Säure, der Geschmackskick eben, hilft offenbar, die Kopflast auszutarieren, die kreative Lust zu zügeln.
Für die Literatur zerstören die Autoren ihre Zähne, ihre Haut, den Magen und die Arterien. Vielleicht spielte Peter Rühmkorf auf diese Diskrepanz zwischen Kunst und Gesundheit an, als er sagte: »Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts.«

Tanja Dückers bekennt sich öffentlich als Schokoholic. »Schokolade erdet mich«, sagt sie. »Sie verhindert, dass der Geist beim Schreiben völlig in luftige Höhen abdriftet.«
Tanja Dückers macht hedonistischen Shopping-Touren durch die süßesten Läden Berlins und lässt ihre Schokoladentafeln offen auf dem Schreibtisch liegen, mindestens zwei, bevorzugt helle Bitter oder satte Vollmilch, fair gehandelt und beim Fachhändler erworben. Ausführlich informiert sie sich über neue Sorten mit gewagten Gewürzkombinationen und probiert sie alle aus. Dückers genießt und steht dazu. Wenn sie gerade keine Schokolade isst, denkt sie über Schokolade nach. Sie beschäftigt sich mit Sorten, Lagen und Ernten, mit der wirtschaftlichen Situation der Anbauländer und der sozialen Lage der Kakaobauern. Sie studiert Rezepte und Trends und verfolgt den Streit um die Prozentpunkte, ab wann sich eine Schokolade bitter oder halbbitter nennen darf.
Die New Yorker Autorin Lily Brett hat allen Treibstoffen der Künstler abgeschworen und komprimiert den Verzicht auf Zucker, Schmalz, Alkohol und Nikotin, indem sie sich exzessiv mit ihren Ess-Störungen auseinandersetzt. Sie ist das prominenteste Beispiel der neurotischen »hypermodernen Esser«. Lily Brett isst niemals nur des Genusses wegen, sondern um sich mit Mineral –und Ballaststoffen, Vitaminen, Polyphenolen, Omega-3-Fettsäuren und ausreichend Flüssigkeit auszustatten.
Was ist es, das uns im Innersten zusammenhält, im Magen, dem die traditionelle chinesische Medizin das Element Erde und den süßen Geschmack spätsommerlicher Ernten zuordnet? Keine Berufsgruppe scheint so anfällig für Extremernährung wie die der Künstler.
Die junge Autorin Tamara Bach pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Küche. Noch. Sie schreibt, raucht, isst und rockt darinnen. Gelegentlich wirft sie dabei Vasen und Teetassen um. Macht ja nichts. Den Laptop hängt sie anschließend zum Trocknen über den Herd.
Doch je reifer die Dichter, desto disziplinierter und bewusster wird ihr Umgang mit den Gefahrenklassen. Sie schätzen deren inspirierende Wirkung hoch und lassen sich nur noch selten vom Mangel an einem Wort willenlos in Richtung Keksdose treiben. Selbst Tanja Dückers beschränkt den Schokoladenkonsum inzwischen auf maximal eine halbe Tafel pro Tag.
Auch Richard Wagner mag neben den erwähnten Salamihäppchen zwischendurch mal ein Stück gute Schokolade mit hohem Kakaoanteil. »Das regt an und belebt. Schreiben ist ja auch eine sinnliche Erfahrung. Das ist aber auch das Einzige, was ich in der Küche mache. Denn ich koche nie.« Das hängt mit seiner persönlichen Geschichte zusammen. Er stammt aus Rumänien, 1987 kam er in die Bundesrepublik. »Anfang der Achtzigerjahre gab es in Rumänien wenig zu essen. In den Restaurants wurde kaum etwas angeboten. Ich musste jeden Tag selber kochen. Das war aufwändig. Als ich nach Deutschland ausgereist bin, habe ich mir geschworen, nie wieder zu kochen.« Heute isst er jeden Tag um die gleiche Zeit in dem kleinen italienischen Bistro in seiner Straße. Nach der Arbeit am Schreibtisch taucht er mit Bauarbeitern, Handwerkern und Angestellten in den Lärm der Straße, schaut den Köchen zu, wie sie Teig kneten und wenden und werfen und blitzschnell belegen. Er wählt sorgfältig aus und lässt sich Zeit für seine Mahlzeit.
Jens Sparschuh schlendert gern abends über den Wochenmarkt. Er betrachtet das Gemüse, prüft es, entwirft ein Abendessen für die Familie. Er passt das Ritual des Essens dem Kreislauf der Natur an und kauft nur saisonales Gemüse. In der Küche, am Herd oder in der Nähe eines Steinofens findet der Dichter die Verbindlichkeit wieder, die sein vagabundierender Geist während der Arbeit aufgibt. »Es ist ja gar nicht wahr, dass wir freien Künstler so frei sind«, sagt Jens Sparschuh. »Da drücken Termine. Du musst heute dahin und morgen dorthin.« Er hat nicht etwa eine Abneigung gegen Ortswechsel an sich. Im Gegenteil. Wie die meisten Schriftsteller empfindet er das Reisen als anregend.
In jedem Fall unterbrechen sie die Rituale des Essens. Wieder muss sich der Dichter dem Frühstücksbuffet in einem Hotel ausliefern, den immer gleichen gummiartigen Käse – und fettigen Wurstsorten, überzuckerten Cornflakes, zerkochten Kompotten und Billigmarmeladen. Wieder bekommt er nach den Lesungen und am Rand der Empfänge nur miese Salzbrezeln zu knabbern und dazu billigen Sekt, selbst, wenn der Bürgermeister spricht. Lesereisen sind meist eine kulinarische Tortur. Der Schriftsteller denkt an den Kräuterquark zu Hause im Kühlschrank, an die Bio-Kartoffeln, die er in der Schale röstet. Er sehnt sich nach einer Gemüsesuppe. Es geht ihm wie schon seinem Kollegen Oscar Wilde vor hundert Jahren: »Ich schwärme für die einfachen Genüsse. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten.«
Lily Brett hätte eine Lesereise durch Europa beinahe abbrechen müssen, weil ihre Portionen, die sie von zu Hause voraus geschickt hatte, im falschen Hotel angekommen waren. Tanja Dückers litt auf ihren Studienfahrten durch die osteuropäischen Länder unter dem Mangel an guter Schokolade, bis sie doch noch einige schmackhafte Sorten entdeckte: Polnische Kastanienschokolade und rumänische Karamellpralinen.
Thomas Brussig mag vor allem die italienische Küche. »Ich habe noch nie jemanden mit so viel Genuss essen sehen wie ihn«, erzählt seine Assistentin Kathrin Thienel. »Es ist unbeschreiblich. Seine Augen leuchten. Er sieht so glücklich aus.« Thomas Brussig wollte das Thema nicht selbst besprechen. Also ließ er seine Assistentin von seinen Kochkünsten schwärmen. »Nirgendwo habe ich so einen guten Latte Macchiato getrunken und das will etwas heißen. Ich habe immerhin 18 Jahre lang in Italien gelebt“, erzählt Kathrin Thienel.
Jeden Nachmittag bereite er ihn zu. »Dazu gibt es eine Süßigkeit, ein Stück Kuchen. Zum Arbeiten trinkt er aber lieber Eistee, den er selbst aus grünem Tee, Zitrone und Süßstoff zubereitet.« Zu seinen Ritualen gehört auch die Fastenzeit im Februar. »Da isst er einen ganzen Monat lang nichts. Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es gesund ist.« Auch wenn er hungert, arbeitet er weiter. » Er hält sogar Lesungen. Man merkt ihm nichts an. Er ist äußerst diszipliniert. Lediglich seine Stimme wird etwas schwächer. In dieser Zeit stellt er sich vor, wie es sein wird, wieder zu essen und zu kochen. Er liest Rezepte und Speisekarten dann wie einen Roman.«

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