Rami im Glück mit Bafög

Berliner Zeitung

Ein junger Migrant will Ingenieur werden – genau, was Deutschland braucht. Fast wäre er an dummen Regeln gescheitert

Nur ein einziges Mal hatte Rami das Gefühl, diskriminiert zu sein in Deutschland, weniger Wert als seine Freunde, die hier geboren sind. Das war, als er im letzten Herbst sein Studium begann und erfuhr, dass ihm kein Bafög zusteht.

Rami fand das ungerecht. Nur, weil seine Eltern nicht lange genug in Deutschland gearbeitet hatten. Dabei hatten sie doch von Anfang an arbeiten wollen, aber nicht gedurft.
Seit er zwölfjährig mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester nach Berlin gekommen war, hatte er sich in der Stadt wohl gefühlt. Sofort hatte er Freunde gefunden, Freunde, mit denen er arabisch, Freunde, mit denen er russisch und schließlich Freunde, mit denen er deutsch sprechen konnte, Christopher zum Beispiel. In der Küche von Christopher hatte Rami das erste Mal eine Folienkartoffel mit Würstchen gegessen. Daraufhin hatte er Christopher zu arabischen Reis eingeladen. Von diesem Moment an, da sie sich vergewissert hatten, dass man sowohl deutsches als auch arabisches Essen genießen kann, trennte sie nichts mehr.

Rami ist in Donezk, in der Ukraine geboren. Sein Vater, ein Palästinenser, war zum Studium nach Donezk gekommen und hatte dort seine zukünftige Frau, eine Ukrainerin kennengelernt. Rami hat die großen Augen, die vollen Lippen und das dunkle, glatte Haar seiner Mutter.
Davor hatte die Familie in Libyen gelebt, wo der Vater nach dem Studium eine Anstellung als Arzt bekommen hatte. 1995 musste die Familie sich schnell ein neues Zuhause suchen. Die libysche Regierung ordnete an, dass alle Palästinenser das Land zu verlassen hätten. Es war eine Reaktion auf das erweiterte Autonomieabkommen zwischen Israelis und Palästinensern. Die Familie hatte in Deutschland einige Verwandte. Daher beschlossen Ramis Eltern, hierher zu kommen.

Irgendwann, als er schon fast erwachsen war, hatte Rami im Bücherkarton seiner Mutter ein Buch des Amerikaners Paul C. Bragg gefunden. Bragg schreibt, dass ein Mensch einhundertzwanzig Jahre alt werden kann, wenn er gesund isst, Sport treibt, ausreichend schläft und darauf achtet, immer ein zufriedenes Herz zu wahren. Rami beschloss, das auszuprobieren.

An jenem Tag, als er erfuhr, dass er niemals Bafög bekommen wird, stand sein Ziel, das Alter von einhundertzwanzig Jahren zu erreichen, ernsthaft auf dem Spiel. Der amerikanische Gesundheits-Guru hält Traurigkeit und Wut für ebenso schädlich wie Alkohol und Nikotin.

Deshalb verkniff sich Rami die Trauer und die Wut über diese Ungerechtigkeit wie andere Leute sich das zweite Glas Wein oder die dritte Zigarette verkneifen.

Von diesem Tag an erkannte er, dass Traurigkeit eine Art Luxus für Leute ist, die Zeit haben. Das Lernpensum der Hochschule war happig, aber Rami blieb keine Zeit zum Lernen mehr. Er musste einen Job finden, der ihm seinen Lebensunterhalt sicherte, denn seine Eltern hatten nicht das Geld, ihn zu unterstützen. Sie kamen ja selbst kaum über die Runden.

Rami fand Arbeit bei einer Rechtsanwältin. Täglich sortierte er nach den Vorlesungen ihre Papiere, schrieb Briefe, erledigte Anrufe. Zum Lernen blieb ihm oft nur die Nacht. Er musste die Regeln von Paul C. Bragg in zwei weiteren Punkten vernachlässigen. Er fand nicht mehr ausreichend Zeit zu schlafen. Das Sport-Programm fiel ganz aus.

Ungefähr zu der Zeit, als Rami sich für das Studium der Gebäude -, Energie – und Informationstechnik an der Technischen Fachhochschule beworben hatte, war die Nachricht über die ungerechte Behandlung der Migrantenkinder bei der Bundesregierung angekommen. Sie beschlossen, die Sache zu ändern.

Das Gesetz trat im Januar 2008 in Kraft, kurz bevor Rami zu den ersten Prüfungen antreten musste. Die Hälfte der Prüfungen hatte er bereits nach hinten verlegen können. Zu diesem Zeitpunkt hatte er keine Hoffnung, die Regelstudienzeit von drei Jahren einhalten zu können.

Doch Rami ist ein Optimist, jemand, der die Dinge heiter und positiv sieht. Er hat immer gewusst, dass es so ungerecht nicht zugehen darf, nicht hier in Berlin, wo er sich immer als Berliner gefühlt hat. Er wusste es vor dem Sachbearbeiter auf dem Bafög – Amt. Der schaute ihn verdutzt an und ließ sich die Neuigkeit von dem Student aus dem Internet fischen. Auf den Seiten seiner eigenen Behörde.

Mittlerweile hat Rami das Gesundheitsprogramm nach Bragg wieder aufgenommen. Er trinkt Pfefferminztee, schläft, joggt und lernt. Hin und wieder arbeitet er. Er arbeitet im Büro einer Agentur, die ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt. Man schätzt dort seine Sprachkenntnisse.

Paul C. Bragg ist übrigens im Alter von ungefähr neunzig Jahren beim Windsurfen in Kalifornien verunglückt. Möglicherweise war er auch erst achtzig Jahre alt. Über sein wahres Alter wird spekuliert. Es heißt, er habe sein Geburtsjahr zugunsten seiner Theorie gefälscht.

„Man hat seine Organe untersucht und festgestellt, dass sie noch so gut in Schuss waren wie die eines Dreißigjährigen“, sagt Rami.
Rami hat Bragg auf russisch gelesen. Seine Mutter muss das Buch noch in der Sowjetunion erworben haben. Sie hat es mit nach Libyen und später nach Deutschland genommen. Es muss ihr also etwas bedeuten. Rami hat nie mit seiner Mutter über das Buch gesprochen. Seine Eltern haben andere Sorgen. Die Ausländerbehörde zweifelt daran, dass sie für den Lebensunterhalt der Familie sorgen können. Sie warten noch immer auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.

Rami glaubt, dass er jetzt eine bekommen wird. Eigentlich hätte er sie bereits am 1. Juli in Empfang nehmen können, doch wegen des Streiks im öffentlichen Dienst muss er sich noch ein paar Tage gedulden. Es steht außer Frage, dass er hier bleiben will. Er ist hier zu Hause. Sobald er die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hat, wird er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Auch seine Eltern und seine Schwester werden das tun.

„Meine Schwester hat mehr Glück als ich“, sagt Rami. „Sie ist sechs Jahre jünger. Sie ist nur in Deutschland zur Schule gegangen und hat die Sprache von Anfang an gelernt. Sie wird ein sehr gutes Abi machen.“

Rami achtet darauf, dass seine sechzehnjährige Schwester Anna genügend schläft. Er schickt sie jeden Abend um 22 Uhr ins Bett. Schließlich soll auch sie einhundertzwanzig Jahre alt werden, denn allein macht das keinen Spaß.

Was er sich wünscht, jetzt, da er in der Lage ist, das Leben eines ganz normalen Studenten zu führen? Rami fällt lange nichts ein. „Mal wieder ins Theater. Oder essen gehen mit der ganzen Familie.“

Doch jetzt, vor den Prüfungen, spürt er, dass er noch immer an der Last des ersten Semesters trägt. Teilweise fehlt ihm Stoff aus der Zeit, als er einfach nicht zum Lernen kam. Zum Glück kann er einen Teil der Prüfungen nach den Semesterferien absolvieren.
„Ohne Bafög hätte ich das Studium wahrscheinlich nicht geschafft“, sagt Rami. „Selbst wenn man sehr schlau ist und alles schnell lernt, man braucht die Zeit, um Zeichnungen anzufertigen und im Labor zu arbeiten.“

Viele Jugendliche aus Migranten-Haushalten, die in der Vergangenheit kein Bafög beantragen konnten, brachen ihr Studium irgendwann ab. Rami hat Glück gehabt. Aber das war knapp.

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