Zielfahnder: Auf der Suche nach der Tupperdose

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In seiner freien Zeit streift Timo durch die Gegend, um an schwer zugänglichen Orten versteckte Mitteilungen zu finden. Er ist ein Geocacher. Er bevorzugt Schwierigkeitsstufe 5, die gefährlichste. 

© Photo: Stephan Pramme

Timo sucht das Codewort. Er ist nicht wegen der morbiden Schönheit des Gebäudes hier.

Timo Schygulla, 27 Jahre, aus Berlin-Reinickendorf, ist gekleidet und ausgerüstet wie für eine Expedition auf einen unbekannten Kontinent. Dabei streift er nur durch Brandenburger Land. Er trägt feste Schuhe und eine Hose mit vielen Taschen, in denen er seine Ausrüstungsgegenstände, GPS-Gerät, Telefon, Taschenlampe, Spiegel und feuerfeste Handschuhe, unterbringen kann. In seinem Rucksack stecken ein Wasserbeutel, aus dem er sich über einen Schlauch direkt bedient, und eine Kletter ausrüstung. Timo ist Geocacher. Er ist auf der Suche nach dem »Cache«, dem Versteck.

Geocaching ist ein relativ neuer Zeitvertreib. Gerade erlebt es einen Boom. Call-Center-Angestellte, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Informatiker, Rentner und Schüler sind unterwegs, um Tupperdosen in die Landschaft zu legen, mit einem Logbuch darin, in das der Finder seinen Namen und einen hübschen Spruch schreiben kann. Außer einem GPS-Gerät braucht man das Internet. Unter der Adresse www.geocaching.com werden die Koordinaten der Verstecke veröffentlicht. Dort wird auch registriert, wie oft jedes Versteck gefunden wurde und von wem. Daraus folgt das Punkte-Ranking der erfolgreichsten Cacher landes- oder weltweit. 860 000 Dosen, von fingerkuppenkleinen »Nanos« bis zu Munitionskisten, liegen auf allen fünf Kontinenten der Erde, einschließlich der Antarktis. Es ist allerdings anzunehmen, dass der prozentuale Anteil der Geocacher in Deutschland höher ist als beispielsweise in Patagonien. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Etwa 500 Geocacher streifen beispielsweise durch den Berliner Raum, schätzen Insider. Kaum noch eine Straße in der City, in der nicht unter einer Parkbank oder in einem Telefonhäuschen eine Dose klebt. Solche einfachen Verstecke sind aber nur der Anfang. »Multicaches« führen über mehrere knifflige Stationen zur Ziel-Dose, von den Cachern »Final« genannt. Der Ort, den Timo heute sucht, liegt 52 Grad, 15 Minuten und 704 Milliminuten nördlicher Breite und 12 Grad, 55 Minuten und 482 Milliminuten östlicher Länge.

Wir stehen vor der Ruine des Chirurgie-Pavillons einer ehemaligen Lungenheilstätte, im Flügel der Frauen. »Vom Eingang müssen wir 300 Meter peilen, direkt in die Mitte des Gebäudes«, sagt Timo. Unsere Schritte knirschen über Schutt und Glas. Ein langer Kreuzgang führt auf das Skelett einer zweiflügeligen, halbrunden Tür zu. Es zieht gewaltig, denn sämtliche Fenster sind zerbrochen. Links des Ganges gehen die ehemaligen Krankenzimmer ab. Die Türen wurden entfernt, weggetragen, wahrscheinlich waren sie schön, wie die Flügeltür am Ende, wie die leeren Fensterrahmen zum Park, deren Anstrich in so filigranen Blättchen vom Untergrund bricht, dass es wie ein Muster wirkt, wie feine Spitze. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Beelitz-Heilstätten, das Sanatorium, rund 60 Kilometer südwestlich von Berlin, ist ein architektonisches und technisches Meisterwerk seiner Zeit. Nach 300 Metern befinden wir uns kurz hinter der Flügeltür, vor einem leeren Aufzugsschacht. Das Eisengitter rostet, gilbt, grünt. Der Verfall wirkt wie inszeniert. Nur noch Fragmente des geschmiedeten Geländers um den Aufzugsschacht, Blüten, Blätter und gedrehte Stäbe, sind geblieben. Sie wurden zersägt und abgebrochen. Der Aufzug hängt zwei Stock werke höher, eingerostet, wie für die Ewigkeit.

»Wichtig ist eine gute Story«, sagt Timo. Er führt Taschenlampe und Spiegel durch Entlüftungs- und Heizungsschächte und über offen liegende Rohre, um einen Hinweis auf Heinrich zu finden, der in einem der Pavillons von Beelitz-Heilstätten verloren gegangen ist. So weit die Story. Barbie & Bruettler haben den Multicache in Beelitz-Heilstätten gelegt. Geocacher arbeiten mit »Nicknames«. Timos Deckname lautet »Ultralist«. Auf www.geocaching.com ist zu lesen, dass Barbie & Bruettler in Kassel leben und seit 2006 knapp 4000 Funde gemacht haben, meist in hohen Schwierigkeitsstufen. Das Foto im Nutzerprofil zeigt eine rothaarige Schaufensterpuppe in Seidenwäsche. In einem nostalgischen Spiegel neben ihr ist der nackte Oberkörper des dazu gehörenden Schaufenstermannes zu sehen.

Nach 20 Minuten Suche schiebt sich ein Satz, mit schwarzem Edding auf ein Rohr geschrieben, in Timos Spiegel: »Woher kommt das viele Licht? Bin ich etwa noch im grünen OP? Heinrich.« Die Suche nach dem grünen OP führt durch mehrere zugige Gänge, von denen ehemalige Bäder, Toiletten und Krankenzimmer abgehen. »Ein lauschiges Plätzchen zum Vögeln« hat jemand auf die weißen Kacheln über ein Sofa gesprüht, das so aussieht, als hätte es schon mehrere Landregen aufgesogen. Das Dach des Gebäudes ist längst nicht mehr dicht. »In der Bildersafari für den großen Multi ist dieses Bild mit drauf«, sagt Timo. »Allerdings nur als Ablenkung.«

Auf keinen Fall möchte Timo sich ablenken lassen. Er nimmt die Besonderheit dieses Ortes zwar wahr, das Blut auf den blauen und rosa Kacheln, die ausgequetschten Ketchup-Flaschen in den Pfützen auf dem Betonboden, das verrostete Metallbett unter der altertümlichen OP-Lampe mit den blinden Augen, doch anders als die Fotografen und Filmleute, die in Beelitz-Heilstätten das Interieur des Schauders suchen, genießt Timo die besondere Herausforderung seines Caches. Nur das. Schwierigkeitsstufe fünf. Die höchste. Die Symbole auf der Web- site, ein Totenkopf, eine Kletterwand und eine Taschenlampe, sind die Indikatoren der Verstecke, die ihn interessieren. Wie die Figur in einem Computerspiel bewegt er sich in dem alten Krankenhaus. Glatt. Geschickt.

Timo ist Wirtschaftsingenieur, spezialisiert auf Multi-Media-Systeme, das heißt, auf die Anwendungen des Web 2.0 und Enterprise 2.0, also Blogs, Foren und Twitter. »Als Wirtschaftsingenieur hat man einerseits das technische Know-how und andererseits BWL«, erklärt er. Sein Studium hat er er folgreich abgeschlossen. Kürzlich hatte er ein Bewerbungsgespräch bei der Telekom. Es lief gut. Jetzt bereitet er sich auf die Prüfung im Accessmentcenter vor. Timo strahlt Leichtigkeit aus, die Sicherheit desjenigen, der gewohnt ist, dass ihm die Dinge gelingen. Schwer vorstellbar, dass ihm irgendwo ein peinlicher Satz entwischt. Es gibt Menschen, denen die Welt wie maßgeschneidert sitzt. Timo fährt Mountainbike, er paddelt und trainiert jetzt die Jugendgruppe seines Vereins am Tegeler See. Er löst Sudokus, hört die Nachrichten und geht zur Wahl. Seine Freundin Isabel studiert Mathematik. Geocaching langweilt sie. »Sie findet Finden schön«, sagt Timo. »Aber Suchen nicht.« Bei den Stammtisch-Treffen der Berliner Geocacher bleibt Timo alias »Ultralist« vornehm zurückhaltend. Vereinsmeierei ist ihm zuwider. Er mag keine Bier- und Weinseligkeit. Er ist am Austausch von Fakten interessiert.

Geocacher kommen aus allen Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung. Es gibt ganze Familien, die cachen gehen, zum Beispiel der Diplomingenieur »Geolink«, seine Hausfrau »Lupini« und ihre gemeinsame Tochter »Midna«. Die Berliner »Gartenzwerge«, ein blasses, in Schwarz gekleidetes Paar, bezeichnen sich als Genusscacher. Was auch immer sie genießen, der gefährliche Multi in Beelitz- Heilstätten gehört sicher nicht dazu. »Jack Sparrow«, ein älterer Herr, der die Welt bereist und eine sagenhafte Punktezahl gesammelt hat, wird von vielen bewundert. Es gibt den Notarzt, der komplett auf einen Nickname verzichtet und sich einfach Jan Wagner nennt, als hätte er gar keine Lust, auch mal jemand anders zu sein als er selbst, und »Moenk«, den Geo-Informatiker, ein Star der Szene, ein Typ wie Timo: sportlich, sympathisch, klug und schön. Unter www.cachetalk.de betreibt er einen Podcast.

Timo hat die nächste Koordinate gefunden. Sie ist mit roter Farbe auf die Unterseite eines Fensterschenkels geschrieben. Die Spur führt hinaus aus der Chirurgie, durch den Park, zu einer gigantischen Ruine, noch immer im Flügel der Frauen. Die Ruine schiebt sich wie ein Kasten aus dem Park, rechts, links, unten und oben von Bäumen umgeben. Wir trauen zunächst unseren Augen nicht, doch dann bestätigt sich dieser erste wunderliche Eindruck: Im zerstörten oberen Stock werk des Gebäudes wachsen hohe Bäume. Ein Gang, verschüttet mit Holzbalken und Schutt, führt auf eine riesige Halle zu, deren Fenster zerstört sind, deren Fußboden von Steinen und Erde bedeckt ist, als wäre der Wald bereits erfolgreich gegen die Mauern vorgerückt. Die marode Treppe führt durch die Stockwerke hinauf in den Wald. Wie kommt ein kompletter Wald mit Nadeln, Moos, Ebereschen, Ahornbäumen und schlanken Kiefern in den vierten Stock eines Hauses? Die Treppe bricht in Höhe der Ebereschen ab. Timo hat keine Idee, wie der Wald hier rauf kam. Interessiert es ihn? Erstaunt es ihn? Gibt es überhaupt etwas, das ihn staunen macht, ihn entsetzt, auf die Palme bringt? War er jemals richtig wütend? Vertauschte Ziffern in Koordinaten hätten ihn schon verärgert, sagt Timo. Möglicherweise schleuderte die Bombe, die das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstörte, einige Kilo Erde, ein Samenpaket, durch die Luft. Möglicherweise reichte das dem Wald aus, sich hier oben auszubreiten. Egal. Dieses Wissen wird im Multicache nicht abgefragt, ist also nicht von Belang. Hier kommt es lediglich darauf an, ein Loch im Waldboden zu finden, durch das Timo sein Kletterseil über den darunter liegenden, eisernen Balken der großen Halle fädeln kann. Im grünen Mooslicht der großen Halle, vielleicht ein ehemaliger Turn-, Fest- oder Speisesaal, in dem Vorträge über gesunde Lebensweise gehalten oder Konzerte aufgeführt wurden, legt Timo seinen Klettergurt um, befestigt zwei Reepseile an dem dicken Seil, in die er seine Füße stellt, und klettert wie auf einer mobilen Treppe unters Dach. Leicht sieht das aus. Das sind die Momente, die er an diesem Hobby liebt, Momente, in denen sein besonderes Können gefragt ist. Er muss jetzt nicht mehr suchen. Alle Rätsel sind gelöst. Er ist kurz vor dem Ziel. Er entspannt sich beim Klettern. »Es ist die Heraus forderung an Kopf und Können«, sagt er.

Als Nächstes möchte er gern den Cache auf dem Betonschiff in der Wismarer Bucht lösen. »Ich stelle mir das gut vor. Zuerst musst du da rüber paddeln, dann über die Bordwand klettern und dich drüben wieder abseilen.« Er würde auch gern mal nach Nepal reisen. »Die hohen Berge«, sagt er. »Der K2?« Er schüttelt den Kopf. Keine Extreme. Kein zu großes Risiko. Keine Besessenheit.

Wir finden Heinrich im Keller neben einer Metallkiste mit altem Röntgengerät. Natürlich keineLeiche, kein Skelett. Nur eine Tupperdose mit einem Logbuch drin. Außerdem befinden sich in der Dose ein kleines Spielzeugauto, ein leeres Jojo, ein alter Computerstecker, ein Button mit der Aufschrift »No War« und ein Geo-Coin. Diese Münzen stellen in der Szene einen Sammlerwert dar und werden nicht selten geklaut, weswegen von einigen Coins nur Kopien in Umlauf gegeben werden. Den Besitzer eines Coins kann man anhand der Ziffer über das Internet finden. Die amerikanische Firma www.geocaching.com verkauft die Geo-Coins. Die Hersteller der Münzen müssen an Groundspeak Tantiemen für die Vergabe der Nummern zahlen. Weitere Gewinne erzielt Groundspeak durch die Einnahme aus den Premium-Mitgliedschaften. Premium-Mitglieder zahlen für besondere Service-Leistungen und für die Exklusivität einiger Caches.

Wer war Heinrich? Ein langhaariger Kämpfer für den Frieden? Spielte er Jojo, um sich das Rauchen abzugewöhnen? Liebte er Autos? Wann kaufte er seinen ersten Computer? Barbie & Bruettler, die Erfinder von Heinrich, äußern sich dazu nicht. Das Spiel ist hier zu Ende, die Teile in der Dose sind zufällig. Sie bedeuten nichts.

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