© Illustration Liane Heinze
Die Nächte sind kühl, der Sommer ist längst vorbei. Ich habe gar nicht bemerkt, dass schon wieder Herbst geworden ist. Das Bewerbertraining habe ich abgeschlossen. Jetzt muss ich mir Gedanken darüber machen, wie es weitergeht. Ich habe schon viele Berufe ausprobiert: Ich habe Tee verkauft und in einem Callcenter Interviews geführt. Ich habe gegärtnert und geputzt. Mein Herz hing an keiner dieser Arbeiten.
Gestern hat Leon das erste Mal für mich gespielt. Er hielt die Augen geschlossen, während er funkelnde Galaxien aus den roten Trommeln schlug. Er zog die Lippen fest nach innen, hielt die Augen geschlossen und manchmal stöhnte er. Ich schämte mich, ihm dabei zuzusehen und blickte stattdessen auf meine Füße. Ich bohrte die großen Zehen aus den Löchern seiner Socken.
„Ich sollte wieder spielen“, sagte Leon.
„Du spielst“, sagte ich.
Leon brachte einen Schuhkarton. Der Karton war staubig, die Farben unter dem Staub verblichen. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Dielen des Zimmers, den Karton zwischen seinen Füßen. Leon hob den Inhalt Blatt für Blatt heraus: Fotos, Konzertankündigungen, Rezensionen, Verrisse, ein Porträt der Band Blamage in der taz. Ein Foto zeigte vier schöne, junge Leute, die nicht gewohnt waren, vor einer Kamera zu posieren. Leons Haar war dicht und dunkel, die Lippen voll. Er sah toll aus. Neben ihm die Sängerin, mit dichten blonden Haaren bis zum Po. Ein Flyer kündigte eine Konzertreise durch Polen an.
Nach vielen Jahren sei er sich schäbig vorgekommen als Tellerwäscher und Kellner in ranzigen Kneipen, sagte er, als Putzmann in dunklen Treppenhäusern, die im Winter nach Ruß rochen. Er habe die Nase gestrichen voll gehabt von diesem glanzlosen Leben als Preis für die Kompromisslosigkeit, nur das zu spielen, worauf er Lust hatte. Er hatte aufgehört.
In dem Karton waren Fotos der Frau, an deren Seite er vor zehn Jahren ein anderes Leben begonnen hatte. Energische, dunkle Augen und weiße Zähne. Einige gebleichte Strähnen wehen in ihr Gesicht. Das Foto wurde am Meer aufgenommen. Ich hatte mich an Leon gelehnt, aber er schien mich kaum wahr zu nehmen. Er war sentimental geworden. Je mehr er von der Vergangenheit schwärmte, desto einsamer wurde ich.
Ich vermisse eine Zeit, an die ich mich gern erinnere, die mich sentimental macht. Ich habe immer nur nach vorn gelebt. Die Vergangenheit interessierte mich nie. Ich bin nicht gern zur Schule gegangen. Ich habe nicht den Beruf, nach dem ich mich sehne. Ich habe geliebt, aber es waren kurze, quälende Affären. Es kommt mir vor, als sei ich auf einer anstrengenden Reise, als sei es mir verwehrt, jemals anzukommen.