© Illustration Liane Heinze
Ich habe Jolanda im Café Berger getroffen. Es war das erste Mal in diesem Jahr, das wir draußen auf den Gartenbänken sitzen konnten. Über den Armlehnen hingen noch die Wolldecken vom Winter, aber Jolandas Nase und ihre Wangen waren schon mit Sommersprossen übersäht. Das ist in jedem Jahr das Startsignal für den Frühling. Ihre Augen glühten wie sattes Moos im Sommer.
„Was meint Leon, wenn er sagt: Etwas zusammen aufbauen? Ist doch logisch, dass man als Paar etwas zusammen aufbaut, oder? Das geschieht doch von selbst“, fragte ich die zukünftige Kriminalistin.
Jolanda zündete sich eine Zigarette an. Sie stieß energisch den ersten Rauch aus. „Du wirkst immer etwas abwesend, Mama. Egal wo du bist, du bleibst am Rand. Wahrscheinlich fürchtet er, dass du dich eines Tages auflöst, dass er sich umschaut und du bist verschwunden.“
Sie musterte kritisch die Vorgänge hinter dem Tresen.
Ich bezog auf der Gartenbank meinen Verteidigungsposten. „Ich bin da. Er weiß es. Er hat vielleicht Angst, mich zu verlieren, aber ich bin da. Ich bin heftig da. Ich setze mich mit seiner Familie, mit seiner Arbeit auseinander, berate ihn…“
Jolandas schattige Moosaugen sprangen mich abwechselnd an und an mir vorbei. Ein Pingpong bis zu meiner nächsten Atempause, um mir ins Wort zu fallen. Ihre Lippen lagen bereits in Startposition. Dann wurde ihr Salat serviert. Sie drückte die Zigarette aus, kippte, ohne zu probieren, Salz und Balsamico über die Blätter und Körner und begann zu essen. Ich holte Luft und redete weiter. „Ich koche. Ich habe die Wohnung umgeräumt. Ich räume sein Leben um. Ich arbeite wie eine Trümmerfrau. Und er sagt: Mit dir kann man nichts aufbauen.“
Jolanda tauchte aus dem Salat auf. „Trümmerfrau. Ein Wesen ohne Namen. Verhärmt, grau, Asche.“
Ich flüchtete an meine Kaffeetasse. Der Kaffee war schnell kalt geworden, bot keinen Trost mehr. „Du meinst doch nicht, ich…“
“Du wärst eine strahlende Erscheinung, wenn du nicht mit dieser Tarnkappe unterwegs wärst“, sagte Jolanda. „Du trägst sie links herum, umgekehrt. Wenn jemand eine Tarnkappe richtig aufsetzt, ist er unsichtbar, aber man kann sich an ihm stoßen. Du bist sichtbar, gerade noch so, aber man kann sich an dir nicht stoßen. Du weichst aus. Du schaffst jedem Platz, lässt alle so sein, wie sie sind…“
„Das nennt man Toleranz!“
„…das versteht er doch nicht. Außerdem – warum solltest du tolerieren, was dir weh tut? Er provoziert dich, um dich zu spüren, deinen Widerstand. Du solltest dich öfter mal beschweren, mehr klagen, etwas fordern, eben seine Sprache sprechen.“
Ich war hingerissen von Jolanda, ich konnte nicht anders. Wie sie den Salat aß, wie sie sich alles nahm, was sie brauchte, sich einverleibte und dabei sprühte und dampfte, dass alle zu uns rüber schauten…Ich konnte ihr den Unsinn, den sie redete, gar nicht übel nehmen.
„Ich bin eben ein sensibler Typ, am Rand, ja, eine Beobachterin. Ich bin anders als du, ich habe nicht deine Dichte. Aber so bin ich nun einmal. Vermutlich wurde ich so geboren. Wieso wird das Leise nicht wahrgenommen, beziehungsweise immer negativ bewertet? Wieso wird man schuldig gesprochen, wenn man nicht mit der Trommel durchs Leben stampft? In was für einer Welt leben wir eigentlich?“
„Genauso“, schnurpste Jolanda zwischen ihren Salatblättern hervor. „Motze ihn an für die Welt, in die er dich hinein zu ziehen unterstanden hat.“
„Feiner Deutsch.“
„Apropos: Ich brauche ein Ballkleid.“
„Apropos: Bereitest du dich auf die Prüfungen vor oder beschränken sich deine schulischen Aktivitäten auf die Organisation des Abi-Balls?“
„Apropos: Jakob ist im Komitee, du weißt, Jakob aus dem Schultheater: Harpagon.“
„Hmmm.“
„Auf einer Tournee nach Westberlin sind wir uns näher gekommen. Mit Sören und mir, das ging gar nicht mehr, weißt du.“
„Moment mal, sprichst du jetzt von Kleidern oder Menschen? Oder bringst du gerade beides durcheinander?“
Jolanda unterbrach das Zermalmen der Salatblätter. „Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Aber was soll ich denn machen? Ich war noch nie im Leben so glücklich wie mit Jakob.“
„Wie geht es Sören?“
„Nicht so gut. Er würde sich sicher über deinen Anruf freuen.“
„Hmmm.“
Wir liefen durch die aufdringlich gut gelaunten Straßen. Seltsam, dass ich Jolanda so sehr liebe, obwohl sie ganz und gar verschieden ist von mir. Wir sehen uns ähnlich, sind aber verschiedene Typen. Diese Erfahrung, jemanden trotz seiner Verschiedenheit ähnlich zu sein und über alles zu lieben, macht man nur mit Kindern.
„War das deine Angst als Kind, dass ich mich auflöse und verschwinde?“
Jolanda rauchte schon wieder, blies den Rauch in den Himmel. „Damals, als du die Fahrschule gemacht hast, konnte ich mir nicht vorstellen, dass du ein Auto beherrschen kannst, so abwesend und verträumt wie du bist. Ich hatte Angst, einzusteigen. Todesangst. Natürlich habe ich mich nicht getraut, es zuzugeben.“
„Aber ich bin eine ausgezeichnete Autofahrerin. Ich reagiere blitzschnell. Das muss dir doch gezeigt haben, dass du mich völlig unterschätzt hast.“
„Ich erinnere mich, dass du ein oder zweimal an der Ampel standest und der Motor immer wieder ausging.”
„Na und? Das ist nicht lebensgefährlich. Ich bin völlig cool geblieben. Je mehr hupen, desto cooler werde ich.”
„Es war peinlich.”
„Deine Todesangst war also nur die Angst, sich zu blamieren.”
„Was heißt: nur? Manche Dinge sind so peinlich, dass man lieber sterben möchte.”
„Bin ich dir immer noch peinlich?”
„Du warst mir nie peinlich. Hallo?! Es war nur diese Situation. Im Gegenteil: Ich finde es immer lustig mit dir. Wir haben doch einige gute Performances hingelegt, oder?“