© Illustration Liane Heinze
Zuerst fiel mir Kolja ein. Ich brauchte sofort Hilfe und ich wusste, dass nur Kolja alles aufbieten würde, um sofort eine Lösung zu finden. Also rief ich ihn an.
Die Postverkäuferin hatte den Karton hinter dem Tresen hervor in den überfüllten Kundenraum geschoben. Ich hielt das Monster brav fest. Es durfte nicht auf die Seite kippen. Die Fahrradrahmen darinnen waren mehrere tausend Euro Wert. Das hatte Leon mir morgens am Telefon eingeschärft. Aber er hatte keinen Gedanken darauf verwendet, wie ich das Ding nach Hause transportieren sollte. Ich war nicht in der Lage es anzuheben. Wie hatte er das Paket in Belgien überhaupt zur Post geschleift? Ich wusste an diesem Morgen nicht, wen ich mehr verachtete: Leon, der leichtfüßig durch die Welt tänzelte oder mich, die ich mich mit seinem Mist abrackerte?
Zwanzig Minuten später erstürmte Kolja wie eine Terror-Spezialeinheit die Post. Er trug irgendwelches Zeug mit orange fluoreszierenden Streifen an Armen und Beinen. Er musste das von der BSR geklaut haben. Er sah wütend aus und doppelt so breit wie gewöhnlich. In der Schlange vor den Schaltern öffnete sich wie von Geisterhand ein Durchgang für ihn. Kolja nahm diesen unsäglich schweren Karton auf und trug ihn, ohne dabei lächerlich auszusehen, nach draußen. Er hob ihn in einen kleinen, weißen Lieferwagen, der dort bereit stand. Er gehörte einem Freund von ihm, einem Kunstschmied aus Bernau, der an diesem Tag zufällig in Berlin unterwegs war. Die beiden Männer schleppten die Fahrradrahmen in unsere Wohnung im dritten Stock. Der Schmied verabschiedete sich und ich war mit Kolja allein.
„Was ist Leon eigentlich für ein Mensch? Hat er dich mal angeschaut?“ Kolja strich in seinem Müllfahrer-Kostüm durch unsere Wohnung wie eine depressive Raubkatze. Seine Wut wärmte mir das Herz.
„Er denkt, dass ich irgendwie zurechtkomme. Und er hat Recht. Ich komme irgendwie zurecht.“
Kolja betrachtete Leons Einkäufe aus Luxemburg und Belgien, die seit einem halben Jahr kreuz und quer in der Wohnung herum standen. „Und das ist also eure gemeinsame Wohnung?“
„Du hast nicht das Recht, so penetrant hier herum zu schleichen“, sagte ich. Er stoppte, knurrte. „Es ist offensichtlich, dass du in Leons Leben nicht viel Platz hast.“
Ich saß wie gelähmt auf dem Fahrradpaket. „Du weißt gar nichts“, sagte ich.
Kolja ließ sich neben mir in die Hocke sinken. Er nahm meine Hand und küsste sie. „Entschuldige.“ Ich konnte mich nicht rühren. Auch in mir drinnen rührte sich nichts. „Ich weiß nicht, warum mich das alles so wütend macht“, sagte er. „Wahrscheinlich bist du mir nicht gleichgültig.“ Er sprach leise und zärtlich. Er senkte seinen Kopf vor mir. Er hielt mir seinen Kopf hin wie Katzen das tun, wenn sie gestreichelt werden möchten. „Du weißt es und deshalb hast du mich angerufen“, sagte er. „Ja“, sagte ich. Ich strich ihm übers Haar. Es war eine gekünstelte Zärtlichkeit. Ich war nicht frei.
Es gibt in dieser Wohnung so gut wie keinen Ort, an dem Leon und ich uns nicht geliebt haben. Jeder Sessel, jeder Stuhl, jedes Gerät, jede Tür ist von ihm markiert. Kolja witterte das. Es nervte ihn.
„Lass uns gehen“, sagte ich.
Wohin?“
„Ins Museum?“, schlug ich vor.
Kolja begann wieder, auf und ab zu laufen. Vor dem Fenster blieb er stehen. „Ich möchte dir etwas zeigen, einen Ort. Jetzt. Du hast doch heute keinen Termin mehr?“
Ich hatte keinen Termin. Auf meinem Schreibtisch lag eine Hausarbeit, die ich Mitte nächster Woche abgeben musste.
Es war ein sonniger Tag. Es war der Februartag, an dem draußen das Licht wieder angeknipst wird. Als ich Leons Wohnung hinter Kolja und mir abschloss, war es zu spät. Vorher hätte ich mich mit meiner Hausarbeit raus reden können, mit dem Zeitdruck an der Uni. Ich hätte mich von Kolja verabschiedet und aufgeatmet und wäre da geblieben, wo ich war: In der Wohnung, in der meine Seele in den letzten Wochen eingestaubt war. Kolja nickte. Er wusste, welche Entscheidung ich gerade getroffen hatte. Meine Angst konnte er nicht nehmen. Wohin würde er mich bringen? Er nahm meine Hand. Seine Hände sind schmaler und weicher als Leons Hände. Mit Leon ist es nicht möglich, Hand in Hand zu gehen. Ich habe es schon einige Male versucht, aber er versteht nicht, dass dieses öffentliche Bekenntnis unmittelbarer und wahrhaftiger ist als ein Ehering. Er hat mich jedes Mal verlegen angeschaut und meine Hand bald wieder los gelassen. Er kann es nicht ertragen, dass jemand ihn festhält.
Wir liefen zur S-Bahn. Kolja hatte offenbar keine Angst, Hand in Hand mit mir durch die Straßen zu laufen, dabei hatte er Freunde in dem Viertel und wohnte selbst nicht weit. Am Ostkreuz stiegen wir um und fuhren weiter zum Bahnhof Lichtenberg.
„Wir nehmen den Zug? Nach Kostrzyn?“
Er nickte und lud mich zu einem Kaffee ein, weil wir noch Zeit hatten. „Du entführst mich hoffentlich nicht in euer Sommerhäuschen?“
„Psst.“ Er legte mir einen Finger auf die Lippen. Das ärgerte mich. Panik wehte mich an. Ich kämpfte gegen einen Fluchtimpuls. „Ich möchte euer Sommerhäuschen nicht sehen.“ Ich beruhigte mich damit, dass ich immer noch fliehen konnte, auch später, jederzeit. Ich war frei, zu tun und zu lassen was ich wollte.
„Keine Angst.“ Kolja streichelte meine Finger. „Ich bringe dich an einen neutralen Ort.“ Das klang, als sei ich ein Flüchtling und er mein Schlepper. Ein passendes Bild, denn ich war wieder einmal eine Migrantin des Herzens, eine Suchende und eine Getriebene…
„Ein neutraler Ort…das klingt schön“, sagte ich.
Im Zug saßen wir zwischen Polen und Deutschen, Menschen mit Büchern und Zeitungen und Einkaufstüten, Pendler und Händler. Es war eine friedliche, eine bürgerliche Atmosphäre. Oder lag das an der kleinen, sauberen Eisenbahn? Ich war oft mit Leon in diesem Zug in die Märkische Schweiz gefahren.
Ich stellte mir die Aufregung vor, die ich haben würde, wenn sich die Beziehung zwischen Kolja und mir weiter entwickeln und ich Leon verlassen müsste. Dann wäre ich die Geliebte eines Familienvaters. Später, nachdem man uns erwischt hätte, würde er immer sagen: Es war nur eine Affäre. Kolja saß mir gegenüber. Er lehnte sich zu mir und hielt meine Hände in seinen Händen und sah dem Fluss meiner Gedanken zu.
In Müncheberg stiegen wir aus. Ich kenne das Bahnhofsgelände auswendig, den Schienenstrang, der schnurgerade durch den knorrigen Sumpfwald in Richtung Osten führt. Im Winter war ich noch niemals hier gewesen. Ich kenne die Bäume nur mit ihrem dichten, hellgrünen Blattwerk, durch das immer ein Wind streicht. Ich kenne die Schienen und den Schotter heiß von der Sommersonne, auch noch am Abend, wenn wir, müde vom Schwimmen und der Sonne, in einer kleinen Familie von Ausflüglern auf den Zug nach Berlin warten. Unwillkürlich hatte ich Lust, Leon anzurufen und ihm zu erzählen, dass ich hier war.
Das kleine Holzhaus liegt abseits des Weges, mitten in den Wiesen. Bis zum See sind es noch einige hundert Meter. Der Garten hält noch Winterschlaf. Hinter der Terrasse waren die Plastikstühle unter einem Vordach übereinander gestellt und mit einer Plane verdeckt. Daneben waren Holzscheite aufgestapelt.
Kolja schloss die Tür auf. Wir standen in einem winzigen Flur, von dem aus man direkt in die Küche und in das Wohnzimmer schauen kann. Das Wohnzimmer ist gemütlich, ausgetreten, ausgelebt. An der einzigen, fensterlosen Wand ein mit Kissen und Decken dekoriertes Sofa unter einem überladenen Bücherbord, dünn gewordene und verblichene Kelim auf den Dielen, die großen Scheiben zum Garten und zur Terrasse, der Kamin – es war ein neutraler Ort, wie Kolja versprochen hatte. Es war jemandes Zuhause. Seit vielen Jahren.
„Gefällt es dir?“, fragte Kolja.
Meine Zustimmung kam wohlig wie ein Schnurren. Das erschreckte mich. Am meisten erschrecke ich wohl selber über meine Sinnlichkeit. Kolja erzählte, dass er in diesem Haus aufgewachsen sei, dass seine Mutter hier noch lebte, allein. Sein Vater sei vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Jetzt sei seine Mutter für ein paar Tage verreist, bis zum Wochenende.
„Wir haben alles für uns allein“, sagte er. Er suchte etwas in der Küche. „Möchtest du Tee?“
„Ja, bitte.“
Kolja setzte einen altertümlichen Teekessel auf, dann lief er nach draußen. Er suchte nach Kohleanzündern für den Kamin. Ich schaute durch das Terrassenfenster auf die sanft gewölbten Wiesen und dachte an das Haus aus Pappe, in dem Leon aufgewachsen und das inzwischen platt gewalzt worden war. Auch das Haus aus Pappe habe mitten in einer Wiese gestanden, hatte Leon erzählt. Es war sehr still. Im Sommer muss es großartig sein. Der Teekessel begann zu pfeifen. In einer Schublade fand ich einige Beutel Earl Grey. Koljas Mutter schien keine Teeliebhaberin zu sein.
„Vielleicht sind sie auf der Toilette“, rief ich in den Garten.
„Hinter der Küche“, rief Kolja zurück.
Auf der Toilette lagen die Feueranzünder neben den Putzsachen aufgestapelt.
Ich präsentierte Kolja lässig ein Paket. „Du hast deine Mutter schon lange nicht mehr besucht, nicht?“
Er schnaufte. „Ich fahre mindestens einmal pro Woche hier raus“, sagte er. „Aber jemand anderes kauft ihr die Feueranzünder. Sie hat mehrere Gehilfen. Du musst wissen, dass sie eine Diva ist.“
Wir füllten den freien Raum vor dem Kamin mit den Decken und Kissen vom Sofa und tranken den Tee. Er schmeckte ein bisschen nach Stroh. Ich ließ ein Stück Zucker hinein fallen. „Sie würde dir gefallen“, sagte Kolja. „Möchtest du ein Foto sehen?“ Er lief zum Bücherbord.
In diesem Moment verschmolz ich mit dem Universum. Mit dem Universum verschmelzen heißt, sich gegen nichts mehr wehren zu müssen. Das letzte Mal habe ich das bei einem Spaziergang am Meer erlebt, in den Ferien. Und nun erlebte ich es hier. Es begann, als Kolja auf Strümpfen hinüber zum Bücherbord lief. Als ob alle Dinge im Raum, auch der Tee, der nach Stroh schmeckte, die Sonne auf der Terrasse, der Schmutz auf den Scheiben und das Feuer im Kamin eine Bestätigung meines Wesens bildeten: Da bist du ja. Du bist doch richtig.
Das Foto zeigte eine zirka siebzig Jahre alte Dame mit hohen Wangenknochen, wie Kolja sie hatte, einer feinen Nase und vollen Lippen. Sie saß auf dem Sofa unter den Büchern. Sie trug eine schlichte Bluse und darüber eine lange Kette. Das Haar hatte sie nach hinten gekämmt und hoch gesteckt.
„Sie ist schön“, sagte ich.
„Sag ich doch: Sie würde dir gefallen.“ Wir schauten beide hinaus. „Dieser Ort ist der schönste, den ich dir anbieten kann“, sagte Kolja.
Er küsste mit geschlossenen Augen, aber ich beobachtete ihn. Während wir unsere Sachen abstreiften und uns weiter küssten, seufzte er. Es war ein helles Geräusch, aber es neigte zu einem Stöhnen, in dem sich Lust und Erleichterung, Sehnsucht und Ankommen ausdrückten. Eine langsame, sinnliche Hingabe. Er ist viel leichter als Leon. Ich folgte dem Spiel, natürlich und unaufgeregt, wie die Landschaft draußen. Das war kein Fremdgehen. Es war die Folge meines Anrufes heute Morgen, die Folge von Koljas Auftritt in der Post und unserer Fahrt hierher, die Folge der Suche nach dem Feueranzünder, die Folge des schlecht gelagerten Tees. Es war wie eine Reihe von Spielsteinen, die nacheinander umgefallen waren. Klack! Klack! Klack!
Nichts an diesem Nachmittag war fremd.