Kathrins Notiz-Blog 26. April 11

© Illustration Liane Heinze

„Diese christlichen Feiertage bedeuten uns doch nichts“, hatte Leon am Telefon gesagt. Für ihn waren es vier Tage, an denen die Garage geschlossen bleiben musste. Eine gute Gelegenheit, um sich mit Jan in den Niederlanden umzuschauen.

Am Karfreitag saß ich morgens in der Küche, las Zeitung, hörte Radio und trank Kaffee. Meine Füße auf dem Tisch wurden immer kälter, obwohl die Sonne darauf schien. Es war ein schmerzhaft schöner Tag. Er verursachte mir Herzrasen. Ich sehnte das Ende der Feiertage herbei, das Ende der Stille. Dabei hatte ich mich darauf gefreut, in Ruhe zu schlafen und in Ruhe meine Hausarbeit abzuschließen. Aber ich hatte keine Ruhe, keine Ruhe zu lesen, keine Ruhe nachzudenken. Ich ging nach draußen, um der Einsamkeit zu entkommen. Das grelle Licht schien wie geschwärzt.

Ich lief an geschlossenen Läden vorbei und überlegte, wen ich anrufen könnte, ohne dass es ein oberflächliches Palaver bleiben würde. Jolanda war mit Jakob nach Prag gefahren. Ich scrollte durch meine Telefonnummern. Kolja erschien in der Liste. Szenarien gingen mir durch den Sinn: Kolja mit seiner Frau im Flugzeug auf Osterreise. Kolja und seine Frau auf einem Waldweg. Kolja und seine Frau im Garten seiner Mutter. In dem Haus, in dem ich drei Tage gelebt hatte. Die Erinnerung brauste wie ein Balsam in mein Herz. Ich blickte auf und sah ein junges Paar mit Kindern, die ihre Eltern durch den Kiez führten. Die Straßen waren voller junger Paare mit Kindern und Eltern, die auf Besuch gekommen waren. Im nächsten Coffeeshop staute sich eine Familie. Ich stellte mich hinter der amorphen Menge an und wartete, betrachtete Erwachsene und Kinder. Es war nicht ganz klar, wer zu welcher Generation gehörte. Ich beneidete die Verkäuferin, weil es ein ganz normaler Tag für sie sein durfte. In ihrem Laden lief Barockmusik. Ich war von allen Feierlichkeiten ausgeschlossen. Kein Ostergras. Nirgends.

Kolja klang entspannt, träge. Er liege im Garten und lese. Ja, bei seiner Mutter. Ich sah ihn auf der Wiese vor dem Haus in einem der Liegestühle aus Holz und blau-weiß gestreiften, verschlissenen Baumwollstoff, aber er war mir seltsam fremd in diesem Familienidyll. Schon verflog meine Lust auf Osternester. Im Grunde verabscheue ich das gut bürgerliche, selbstgefällige Familienleben, besonders an den Feiertagen. Darin bin ich Leon wirklich ähnlich. Sofort sehnte ich mich danach, dass er neben mir stehen und seine Locken in die Stirn pressen und unruhig auf der Stelle traben und sich umschauen und „So!“ sagen würde, als Zeichen, dass es endlich weitergehen müsse.

„Dieses helle Grün“, sagte ich. „Es bekommt mir nicht. Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden.“

Kolja erkundigte sich nach Leon. „Er ist nicht da“, sagte ich. „So!“ sagte Kolja, aber es klang ganz anders als das „So!“ von Leon. Bei Kolja klang es neutral, wie eine Bestandsaufnahme. Leon war nicht in der Lage, auch nur ein einziges neutrales Wort zu sagen, genauso wie er nicht in der Lage war, einen Satz einfach nur als Information zu begreifen. Er interpretierte alles sofort als ein „dafür“ oder „dagegen“, meist als ein „dagegen“.  Wenn er mit Menschen ins Gespräch kommt, die er noch nie vorher gesehen hat, hält er sich nicht mit Small Talk auf, sondern greift sie pauschal an (außer Frauen, die ihm gefallen). Die meisten kommen damit nicht klar.

Ich fragte nicht nach Koljas Frau, auch nicht nach dem Baby, das in wenigen Wochen geboren wurde, ein Mädchen. „Ich möchte dich gern sehen“, sagte ich.

Kolja knurrte wohlig und tief, wie ein Kater, der von einem Streicheln geweckt wird.

„Wohin soll ich kommen?“, sagte er.

„Zu mir nach Hause“, sagte ich.

„In zwei Stunden bin ich da“, sagte Kolja.

Ich habe den Fahrplan im Kopf. Die Züge nach Berlin fahren immer 14 Minuten vor der vollen Stunde. Es war 13:24 Uhr. In zweiundzwanzig Minuten würde Kolja in den Zug steigen. Was erzählte er seiner Familie, wo er so schnell hin müsste? Ich würde ihn nicht danach fragen.

Ich ging nach Hause und betrachtete die Wohnung mit Koljas Augen. Noch immer wird sie von Leon dominiert. Überall stehen seine Fahrräder. Mein Platz ist an dem Tisch in der Küche. Immerhin habe ich ihn auf seine maximale Länge ausgezogen. Auf dem Fensterbrett dahinter türmen sich meine Unterlagen und Bücher.

Ich betrat das Zimmer und schaute mit Koljas Augen auf das Bett. In dem Wandschirm dahinter funkelten die Wasserfarben im Sonnenlicht. Es würde unmöglich sein, mit Kolja in diesem Bett zu liegen. Es war der Ort, der Leon und mir gehörte, ein heiliger Ort.

Als Kolja am Bahnhof Lichtenberg aus dem Zug stieg, war ich da um ihn abzuholen. Er schlenderte über den leeren Bahnsteig, die Hände in den Taschen einer dunkelgrünen Leinenhose, mit einem Rotzjungen-Grinsen im gebräunten, blond gestachelten Gesicht. Gleich würde er mir sagen, dass er den Zug gekidnapped und zum Alex weiter gezwungen hätte, wenn ich nicht hier aufgetaucht wäre. Wir liefen die lange Schräge vom Bahnsteig hinunter. „Vielleicht ist das neurotisch“, sagte ich. „Aber ich kann es nicht bei uns zu Hause machen.“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte er und zog mich an den Schultern fester zu sich, eine kumpelhafte Geste, die ich nicht mochte. „Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen.“

„Kann man dagegen was tun?“, fragte ich.

Kolja machte auf der Höhe seines Herzens eine grabende Bewegung und krümmte sich. „Das Herz verkaufen“, sagte er und hielt es mir in der Schale seiner Hand hin. „Und durch einen Stein ersetzen.“ Er lachte eisig, dieser Holländer-Michel. Nicht lustig.

„Wir können zu mir gehen“, schlug Kolja vor, aber das mochte ich nicht. Plötzlich fiel mir ein, dass ich den Schlüssel zu Jolandas Wohnung hatte, die ja immer noch auch meine Wohnung war. Aber ich wollte sie zumindest vorher anrufen. Doch weder Jolanda noch Jakob gingen ans Telefon.

„Warum machst du alles so kompliziert?“ sagte Kolja.

„Würdest du es gut finden, wenn in deiner Abwesenheit….“

„Nein, aber warum gehen wir nicht zu dir?“

„Hab ich dir doch gesagt. Ich muss das trennen.“ Wir standen auf dem Bürgersteig.

„Du trabst wie ein Pony“, sagte Kolja.

„Was?“

„Ja, das ist süß.“ Er holte eine verbeulte Zigarette aus seiner Hosentasche.

„Das ist doch nur ein Trick“, sagte er. „Du belügst dich selbst, indem du versuchst, etwas zu tun und gleichzeitig nicht zu tun.“

„Gib mir mal einen Zug. Ich muss nachdenken.“ Ich nahm ihm die Zigarette aus der Hand. Eine Großfamilie schlängelte sich im Gänsemarsch um uns herum.

Von einem intelligenten Mann durchschaut zu werden, ist ein gutes Gefühl für eine Frau.

„So“, sagte ich. „Gehen wir.“

Die Sonne fiel warm ins Zimmer. Die Trommeln glitzerten. Ich öffnete die Fenster. Der Wind bewegte die Baumkrone im Hof. Von irgendwo wehte das trockene Geräusch von Klanghölzern. Ich zog mich schnell aus und setzte mich nackt neben Kolja auf das Bett. Er rauchte und schaute mich an. Er berührte mich hier und da, an den Brüsten, der Taille, dem Arm. Er zeichnete mit der flachen Hand den Bogen vom Po zu den angewinkelten Oberschenkeln nach. Seine Berührungen erregten mich nicht. Ich fühlte mich wie ein wertvoller Bildband, in dem Kolja hin und her blätterte, mit ästhetischen Vergnügen und der sinnlichen Neugierde auf das Geheimnis des Schönen.

„Erdige, knuffige Rundungen“, sagte er. „Würdest du essen, wärst du dick.“

„Ich esse“, sagte ich.

„Zu wenig“, sagte er. „Du darfst dir nichts vorenthalten. Nimm dir, worauf du Hunger hast.“

„Du bist wie eine Mutter“, sagte ich. Er grinste und wurde rot. Ich strich an seinem Bart entlang, der bei genauer Betrachtung nicht mehr blond, sondern grau war. „Wie ist es jetzt da draußen?“

„Schön“, sagte er. „Lenk nicht ab. Angezogen siehst du viel dünner aus. Warum versteckst du dich?“

Er stand auf. In der Küche warf er seine Zigarette in den Müll und wickelte einen Kaugummi aus dem Papier. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Plötzlich war ich nicht mehr unglücklich, weil meine Beckenknochen nicht vorstanden und meine Brüste Beulen in den T-Shirts hinterließen. Bisher hatte mich beides geärgert.

„Wann fahren wir in das Haus?“ fragte ich.

„Wann immer du willst.“

Kolja trug nichts unter seiner Leinenhose. „Ziemlich gewagt“, sagte ich.

„Es ist Sommer“, sagte er. „Es ist heiß.“

„Noch ist kein Sommer“, sagte ich. „Ich kann das Sommergefühl kaum erwarten.“

Kolja betrachtete mich aufmerksam, die ganze Zeit. Durch den Schleier meiner Wimpern sah ich, wie er mich beobachtete, bis ich immer höhere Wellen schlug und ihn schließlich dicht an mich heranzog und mit meinen Beinen umarmte und wir zur Seite kugelten. Er röchelte wie ein Kranker, wie ein Sterbender.

 

 

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