Foto ⓒ Kirstin Knufmann
Algen werden immer wichtiger. In der Medizin, in der Kosmetikbranche- und irgendwann auch in Lebensmitteln. Was sie alles können, wird in der Altmark erforscht. Dort steht der größte Fotobioreaktor der Welt
Was passiert, wenn in einer alten Schäferei fünfhundert Kilometer Glasröhren verlegt werden? Nun, es könnte sein, dass hier, im altmärkischen Städtchen Klötze, gerade über das Essen der Zukunft entschieden wird. Draußen weiden friedlich Schafe, drinnen sausen in einer Nährlösung Mikroalgen durch die Röhren, die schon bald dem Fleisch als Proteinspender ernsthaft Konkurrenz machen könnten. „Die Alge Chlorella vulgaris zum Beispiel enthält Vitamin B12, Eisen, ungesättigte Fettsäuren und bioaktive Substanzen, die in der Medizin zum Einsatz kommen könnten“, sagt der Biologe Jörg Ullmann. Ullmann ist 39 Jahre alt, geboren wurde er in einem kleinen Ort in Waren an der Müritz, studiert hat er in Leipzig und Oslo. Er ist ein Vollzeit-Forscher, der selbst im Urlaub nach seltenen Arten taucht oder in abgelegenen Gebirgsgegenden das Überleben in freier Natur trainiert. Jetzt ist er Betriebsleiter des größten Fotobioreaktors der Welt.
Mikroalgen – ein unbekannter Kontinent wird eingenommen und aufgeteilt. Wer in die Forschung investiert, hat die Nase vorn. Roquette ist groß genug um mitzubieten. Mit Stärken, Zucker, Ballaststoffen und Proteinen aus pflanzlichen Rohstoffen macht das Unternehmen einen Jahresumsatz von drei Milliarden Euro. In der Stärkeproduktion ist Roquette die Nummer zwei in Europa, weltweit die Nummer fünf. An Algohub® partizipieren französische Lebensmittel -, Naturkost – und Kosmetikfirmen und private Institute, insgesamt dreizehn Partner. Sie stehen in einem weltweiten Wettlauf um Wirkstoffe für Medizin, Kosmetik, Nahrungsmittel und um die Technologien zur Herstellung. Es wird wie verrückt patentiert.
Im Forschungslabor in Klötze blubbern dunkel – und türkisgrüne, rote und nussbraune Algenkulturen in Plastiktüten, die an medizinische Infusionsbeutel erinnern. Das dreiköpfige Laborteam von Jörg Ullmann erforscht, unter welchen Bedingungen diese Algen am besten gedeihen. Die Rotbraune sei eine Kieselalge mit dem Namen Phaeodactylum, sagt Ullmann und erzählt, dass das Dach der Hagia Sophia in Istanbul aus versteinerter Phaeodactylum besteht. Über Algen in Literatur, Kunst und Geschichte erzählt er in seinem Blog „Die Welt der Algen“. Dort erfährt man auch, dass eine der biblischen Plagen in der Apokalypse die Rote Tide beschreibt, das massenhafte Auftreten giftiger Algen, und dass eine altmärkische Künstlerin ihre Farben aus Algen herstellt. Was die Ergebnisse des fünfjährigen Algohub®-Programms betrifft, hält er sich bedeckt. Über die türkisgrüne und die rote Alge im Blubberbeutel darf er nicht sprechen. Er verrät auch nicht, für welche Produkte jetzt in Klötze Algen produziert werden. Die Aufträge kommen aus der Pharma – und der Kosmetikindustrie. „Wenn beispielsweise eine Kosmetikfirma in ihrem Labor einen Algenbestandteil entdeckt hat, der in einer Hautcreme verarbeiten werden soll, dann beauftragen sie uns mit der Produktion dieser Alge.“
In einem kleinen, unscheinbaren Regal befindet sich das neue Kapital von Roquette, einige Algenstämme in Glasröhrchen. Zum Teil stammen sie aus der Algenstamm-Sammlung der Universität Göttingen, mit zirka 2.250 Algen – und Cyanobakterienstämmen ein der drei größten Sammlungen der Welt. In den letzten zehn Jahren stieg die Nachfrage nach Ablegern aus der Sammlung zu privaten Forschungszwecken um ein Viertel an. Da immer mehr Unternehmen Kapital aus den Algen schlagen, möchte die Universität nun Lizenzverträge einführen. „Einige der Algen werden in Göttingen seit 60 Jahren aus Steuermitteln am Leben erhalten und bearbeitet. Das sind Schätze, die wir einer Firma, die damit Gewinn macht, nicht einfach spottbillig überlassen können“, sagt Maike Lorenz, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sammlung. Wem gehören die Algen? Das ist letztendlich die Frage, mit der sich die Universität in eine juristische Grauzone begibt, wenn sie Verträge mit Firmen abschließt. Für Christoph Then, Geschäftsführer von Testbiotech e.V., einer Organisation, die sich kritisch mit den Folgen der Biotechnologie auseinandersetzt, ist die Antwort klar. „Sie müssen nur der erste sein, der die Mikroalge entdeckt, die DNA beschreiben und die Inhaltsstoffe, dann gehört sie ihnen. Mikroorganismen können problemlos patentiert werden. Das wird auch überall gemacht“, sagt er.
Jörg Ullmann widerspricht. In seinen Augen sind Mikroalgen Pflanzen, die ebenso wie Tiere durch das deutsche Recht vor Patentierungen geschützt sind. „Wenn ich einen neuen Elefanten entdecke, kann ich ihn doch auch nicht patentieren“, sagt er.
Dann kündigt er einen Blick in die Zukunft an und hinaus geht es, über den Hof , vorbei an den Schafen zu einem fensterlosen Bau aus Beton. In einem Raum neben der Tür, in einer Art Pförtnerloge, sitzt ein Mann mit lässig übereinander gelegten Beinen vor einem Monitor. Ein anderer reicht uns Schutzbrillen. Der erste Blick in die Zukunft ist dunkel. Dann löst sich ein kleiner Silo aus der Finsternis. „Ein Fermentor“, erklärt Ullmann. „Roquette ist spezialisiert auf Fermentation, das heißt auf die Umwandlung von Substraten aus Getreide. Hier trifft die Technologie von Roquette die Algen. Wir produzieren ohne Licht, nur mit einer organischen Kohlenstoffquelle, in diesem Fall mit Dextrose, in einer Woche, wofür wir drüben im Reaktor zwei bis drei Monate brauchen.“ Ullmanns Stimme ist lebhaft geworden. Nicht jede Alge würde in diesem lichtlosen Behälter grün, aber einigen gelänge es, auch im Dunkeln Chlorophyll zu entwickeln. Warum einige das tun und andere nicht, wisse man noch nicht. Fest steht, dass wir dem Algensteak für alle einen Schritt näher gekommen sind, auch wenn einige hefeblass in der Pfanne liegen werden. „Es kann vorteilhaft sein, dass das Grün fehlt“, sagt Ullmann. „Viele mögen kein Grün in Lebensmitteln.“ Vielleicht wird man an der Theke ja wählen können: Ein Roquette grün bitte! In Lestrem in Nordfrankreich werden schon jetzt Silos für die industrielle Produktion aufgebaut.
Auf der Algohub®-Website verspricht Roquette eine Revolution in Nahrung und Gesundheit. Die Vielfalt der Algen soll weiter erforscht werden, hochwertige Mikroalgen produziert und Nahrungskomponenten extrahiert werden. Saubere Wassertropfen, gesunde Pflanzen und Menschen illustrieren das Versprechen. Man muss tief in die Archive tauchen, um Spuren von Zweifel zu finden. In den Siebzigerjahren äußerten zwei Ernährungswissenschaftler der Universität Gießen, Wagner und Siddiqi, Bedenken. Mikroalgen hätten die Eigenschaft, Schwermetalle aus ihrer Umgebung zu absorbieren. Sie seien zu stark kontaminiert, um als Nahrungsmittel zu taugen. Jörg Ullmann kennt das Problem, wie alle Fachleute, die sich mit Algen beschäftigen. Nur der Verbraucher weiß davon nichts. „Wir haben hier in Klötze einen eigenen Brunnen. Wären wir auf Leitungswasser angewiesen, könnten wir einpacken.“ Tatsächlich bestätigt das Institut Fresenius, dass die Algenpräparate aus Klötze frei von Schwermetallen sind. Der letzte Umweltminister der DDR hat dem französischen Konzern durch seine sorgfältige Standortwahl einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Als Forschungsdirektor der Preussag AG erhielt Steinberg Mitte der Neunzigerjahre den Auftrag, etwas gegen die hohen CO2-Emissionen des Konzerns zu unternehmen. Er entwarf eine Anlage, die mit Mikroalgen arbeitete. Als das Pilotprojekt nach drei Jahren Forschungsarbeit lief, wurde seine Idee nicht mehr gebraucht, denn aus dem Energieriesen Preussag AG wurde der Reisekonzern TUI. Steinbach nahm seine Patente mit, suchte Sponsoren und baute den Fotobioreaktor in Klötze auf. Die anhaltinische Landesregierung unterstützte das Projekt. Im Jahr 2000 ging die Anlage in Betrieb. Bereits ein Jahr später war Steinbergs Unternehmen insolvent. Der Trend, Algen zu essen, schwappte gerade erst aus Asien nach Europa. Er war ein paar Jahre zu früh gekommen. Aber er gab nicht auf, konnte wieder Unterstützer gewinnen und unternahm 2004 mit 63 Jahren den zweiten Versuch. Der Professor hat gerade einen neuen Fotobioreaktor erfunden, der bald in Klötze getestet wird. Er findet nicht gut, dass einige Firmen nur einen Bestandteil einer Alge nutzen und den Rest weg werfen. Er ist immer noch der Meinung, dass es besser ist, die ganze Alge zu essen, am besten die Chlorella vulgaris. Sie wurde übrigens 1889 von Martinus Willem Beijerinck in den Niederlanden entdeckt, zu einer Zeit, als es noch außer Frage stand, dass Mikroalgen niemandem gehören. Genauso wie Elefanten.
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