Himmel über Marzahn

Berlin-Marzahn ist kein Traumziel der Touristen. Doch die Pension „11.Himmel“ ist immer ausgebucht. Untergebracht in einem ganz normalen Plattenbau, wird sie von Kindern aus der Nachbarschaft betreut.

Kulturhochhaus Marzahn

Die Pension befindet sich im zehnten und elften Stockwerk eines Plattenbaus in Berlin-Marzahn, am Barnimplatz, wo das Unkraut zwischen den Gehwegplatten kniehoch wächst. Marzahn ist weder das Traumziel der Touristen noch der Wohnungssuchenden. Doch die Pension ist immer ausgebucht. Die Gäste kommen aus der ganzen Welt. Sie werden von Kindern empfangen und von Kindern bewirtet. Marzahner Kinder zwischen neun und siebzehn Jahren haben die zehn Wohnräume eingerichtet und gestaltet, nicht nach Art der Erwachsenen, die unter dem Wort Pension eine auf den kleinsten gemeinsamen Nenner deutscher Wohnkultur gebrachte Einrichtung in gedeckten Farben mit einem Fernseher mittendrin verstehen. In der Marzahner Kinderpension gibt es keinen Fernseher. Die Pension ist das Programm.

Angie sitzt auf dem riesigen Prinzessinnenbett in der Königinnensuite.  Ihre Turnschuhe liegen vor dem Podest, auf dem das Bett schräg im Raum steht, unter einem Himmel aus indischen Tüchern, von Putten bewacht. Angie ist siebzehn Jahre alt und gerade mit der Schule fertig geworden. Das lange Haar fällt ihr tief ins Gesicht. Sie streicht es vorsichtig zur Seite, nur so weit, dass sie mit beiden Augen sehen kann. „Ich habe hier gelernt, mich nicht mehr zu verstecken und zu sagen, was ich denke“, sagt sie. Sie wohnt in der Platte gegenüber, hinter irgendeinem der rot oder weiß verblendeten Balkone. Um ihre Wohnung zu zeigen, muss sie aufstehen und in die Veranda gehen. „Der Balkon mit den roten Blumen, da unten, wo der weiße Plastikstuhl steht.“ An den Fenstern dahinter hängen Gardinen, die spitz zulaufend gebunden sind. Es ist einer der schöneren Balkone, ohne Satellitenschüssel, kein Abstellraum, nicht verlassen und leer, sondern sichtbarer Teil eines Alltags, des Alltags zweier Frauen. Angie wohnt dort mit ihrer Mutter. Angie liebt Marzahn, das viele Grün, den Ahrensfelder Berg, auf den sie geht, wenn sie nachdenken möchte. Die Pension findet sie magisch. Sie fühlt sich in den Räumen wie in den Fantasy-Büchern, die sie am liebsten liest.

Die Wohnungen im Haus sind jetzt wieder vermietet. Ganz unten befinden sich die Rezeption, das Café und der Kinderkeller. Im Kinderkeller ist die Idee mit der Pension entstanden. Vor zehn Jahren, sie war gerade in die Schule gekommen, ging Angie an der Hand ihrer Mutter das erste Mal über die weite Wiese rüber zum Kulturhochhaus und stieg die drei Stufen hinab in den Kinderkeller. Der Keller ist ein Raum voller Tageslicht, ein Bastel- und Spiel – und Hausaufgabenzimmer. Es riecht nach Holz und Wasserfarben. Dreißig Schüler kommen jeden Nachmittag hierher. Immer gibt es ein besonderes Vorhaben. Das kann eine Stadt aus Karton sein, die gemeinsam gebaut wird oder ein Ausflug in den Zoo oder ins Schwimmbad. Gewissermaßen war auch die Pension so ein Vorhaben, nur eben für länger. Die Erzieherinnen hatten die Idee. Im Haus herrschte damals eine kreative Atmosphäre. In den Wohnungen, die keiner mehr haben wollte, lebten Künstler. Angie erinnert sich nicht mehr, wie es war, als zuerst im 11. Stock die Pension „11.Himmel“ eingerichtet wurde. Vielleicht war es noch die Zeit, als sie sich vor allen versteckte. Oder es waren eher die älteren Kinder, die mit den Erzieherinnen und Eltern über die Flohmärkte zogen und mit Möbeln und Sammeltassen zurückkehrten.

Marina Bikádi leitet das Kinderprojekt. Sie hatte erlebt, wie das Haus in den Neunzigerjahren leer wurde. Sie und ihre Kollegin Christine Otto hatten die Idee, ein Kulturhochhaus aus dem verlassenen Elfgeschosser zu machen. Von 2001-2005 blieben die Künstler. „Wir hätten das gern weitergemacht, aber die Wohnungen wurden wieder gebraucht.“ Jetzt ist das Kulturhochhaus fast komplett wieder vermietet. „Es wohnt sogar ein Engländer hier und neulich haben sich Japaner eine Wohnung angeschaut“, erzählt Marina Bikádi. In Marzahn erregt das Aufsehen. Noch. Die Pension durfte bleiben, weil sie so gut läuft und weil sie zum Kinderkeller gehört.

Die 47jährige Marina Bikádi besitzt die gelassene Authentizität, die Kinder so schätzen. Überhaupt scheint sie die Idealbesetzung für das Projekt zu sein, oder besser gesagt, sie entwickelte sich zur Idealbesetzung. „Am ersten Tag dachte ich, ich halte es hier keine Woche aus“, erzählt sie, die selbst in Marzahn lebt, allerdings in Marzahn-West. Der Kinderkeller befindet sich in Nordost, dem sozial schwächsten Teil des Bezirks. „Aber egal, wo man lebt, man kann überall Kampfgeist freisetzen und etwas draus machen.“ Marina Bikádi stammt aus Angermünde und hat zwei Jahre in Ungarn, der Heimat ihres Mannes, gelebt. „Die Pension soll den Kindern auch zur Berufsorientierung dienen“, sagt sie. „Es gibt einige Mädchen und Jungen, die sind von hier aus zur Hotelfachschule gegangen. Eine Hotelkette hat sogar einmal bei uns angerufen und gefragt, ob wir nicht Auszubildende für sie haben.“ Wie die zwölfjährige Angelique, die später einmal im Hotel arbeiten möchte. Heute führt sie Gäste durchs Haus. Sie ist ein selbstbewusstes Mädchen mit großen blauen Augen und einer weiten, hohen Stirn. Sie erklärt die Bibliothek, in der ein altes Radio aus den Fünfzigerjahren steht, Sessel und ein runder Tisch mit einem Schachbrett drauf. In den Regalen Bücher und Spiele, im Kassettenrecorder ein Hörstück über die Zwanzigerjahre in Berlin. Passend zu den goldenen Zwanzigern glimmert am Fenster Goldfaden über den alten Porträts schöner Damen. Angelique erzählt, dass die Pension im Jahr 2006, dem Jahr der Fußballweltmeisterschaft, um ein weiteres Stockwerk vergrößert wurde. In der 10. Etage entstand „himmelhoch c.ehn“. Das „c“ steht für Charles, Prinz Charles, der nach ihrer Recherche der einzige Prominente war, der jemals nach Marzahn gekommen ist. 1995. Der Prinz interessierte sich für die Sanierung der Plattenbauten. Ihm zu Ehren wurde das Kaminzimmer im englischen Landhausstil eingerichtet.

Angelique findet, dass etwas an dem roten Esszimmer verändert werden sollte. Es hätten schon oft Gäste gesagt, dass sie sich zwischen den dunkelroten Wänden eingeengt fühlen. „Man könnte ein Herbstzimmer daraus machen mit warmen Farben und Laub“, schlägt sie vor. Sie mag am meisten das blaue Leuchtturmzimmer. Weiße und hellblaue Papiervögel flattern über die Wände, sammeln sich in den Zimmerecken, Möwen mit gezackten Schwingen, auch ein Kiwivogel mit langem Schnabel. Eine Künstlerin hat sie gestaltet und aufgeklebt. Vor dem Doppelbett liegen Muscheln und Seesterne, Holzroste führen über den Teppichboden, wie man sie von Dünenwegen kennt. Angelique liebt das Meer. In den Ferien besucht sie oft ihre Oma an der Ostsee. Sie liebt auch Marzahn. Sie sagt, dass es ein freundlicher Ort sei mit vielen Angeboten für Jugendliche. Zweimal in der Woche geht sie Hip-Hop-Tanzen im Jugendclub Betonia und im Freizeithaus UNO. Sie sind schon oft aufgetreten. Vor einem Jahr sind sie in die Bezirksverordnetenversammlung eingedrungen und haben dort gegen die Kürzungen in den Jugendeinrichtungen getanzt.

Am nächsten Morgen bereitet Angelique das Frühstück für die Gäste zu. Sie hat ihre Brüder mitgebracht, die neunjährigen Zwillinge Kevin und Justin, zwei Jungs mit kurzen, glänzenden Haaren und dem gleichen neugierigen, wachen Blick. Marina Bikádi begleitet die Kinder, denn es muss immer ein erwachsener Betreuer dabei sein, wenn sie in der Pension arbeiten. Kevin hämmert im Kaminzimmer in die Tasten des verstimmten Klaviers, Justin wirft sich auf das weiße Sofa. Dann beziehen sie im Leuchtturmzimmer die Betten und schlagen den Kopfkissen -wie im echten Hotel- einen Knick in die Mitte.

Angies Mutter arbeitet an diesem Samstagmorgen in der Küche des Cafés, wo auch die Anmeldung für die Pension ist. Sie arbeitet ehrenamtlich, eine schlanke Frau mit kurzen Haaren und muskulösen Armen, der man ansieht, dass sie lernen musste zu kämpfen, wie ihre Tochter lernen musste, ihre Mama los zu lassen und sich nicht mehr zu verstecken. „Wenn ich meinen Bruder in Köpenick besuche, sagen die Leute, Marzahn ist ein Ghetto“, sagt Angie. „Wir wollen mit der Pension beweisen, dass Marzahn eine gute Seite hat.“

Weil die Pension ein soziales Projekt ist, wird sie vom Bezirk gefördert. Die Übernachtung kostet nur dreizehn Euro pro Person im Doppelzimmer, inklusive Frühstück. Ein Geheimtipp ist sie aber nicht mehr. Inzwischen wird sie auch im Marco Polo empfohlen.

Pension 11. Himmel

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