Interessiert es da draußen irgendjemanden …

Illustration © Tine Schulz
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… dass ich stolz darauf bin, allein in der Nacht herumzustehen, ein furchtloser Sternen-Freak?

Ich hatte nur wenige Tage am Ende des Sommers und reiste durch alte Städte. Zuerst fuhr ich nach Jerichow. Die Türme des Klosters ragen weit ins Land. Von Tangermünde aus gesehen, liegen sie hinter endlosen Wiesen auf der anderen Seite der Elbe. 

Soundtrack zu diesem Artikel JON BATISTE „What a wonderful world“

Meine Mutter war kurz zuvor gestorben. Ihretwegen wollte ich nach Jerichow. Dieses Wort, dieser Name stand auf den alten Dokumenten, die wir für die Totenfeier gesucht hatten, mein Vater, mein Bruder und ich. Unter diesem Namen war meine Mutter geboren und getauft worden. Jerichow. Für mich hat das Wort den Rhythmus eines Flusses, der Elbe vielleicht. Ich stelle mir vor, wie die Vorfahren meiner Mutter vor vielen Jahren entlang der Elbwindungen von Jerichow nach Dresden gewandert sind.

Meine Mutter ist sehr alt geworden. Sie starb zu Hause, wie alle Menschen, die in diesem Haus gelebt hatten. Es fühlte sich gut und richtig an, die letzten Tage ihres Lebens mit ihr zusammen in diesem Haus verbracht zu haben. 

Ich lehnte mein Fahrrad an die Klostermauer, spazierte durch den Kreuzgang und betrachtete die Darstellungen in den alten Steinen. Es war das erste Mal, das ich allein reiste, seit vielen Jahren. Mein Freund, von dem ich mich vor einigen Monaten getrennt hatte, war ungeduldig gewesen, wenn ich Kirchen und Klöster besichtigen wollte. Jetzt genoss ich den Gedanken, alle Zeit der Welt für diesen Ort zu haben. Niemand wartete draußen auf mich. In der ehemaligen Bibliothek des Klosters war der mittelalterliche Boden frei gelegt worden. Auf einer Glasplatte lief ich wie auf einer Bühne darüber hinweg. Da unten hatten die Klosterherren jedes Buch per Hand abgeschrieben. Künstler hatten es mit wertvollen Farben und Tinten illustriert. Seltsam, dass sich die Jahrhunderte in Steinschichten in dem Raum abgelagert hatten, als sollte er zuwachsen, als hätte er seit der Erfindung des Buchdrucks keine Bedeutung mehr. Einige der Bücher waren im Museum ausgestellt. Dort lagen in einer Vitrine auch jahrtausendalte Tonscherben, Reste der ersten Siedlungen in dieser Gegend, um vieles älter als das Kloster. Generationen von Gräbern waren vergessen und platt gewalzt worden, Gebeine zerfallen und am Elbufer versandet.

Wieder einmal fragte ich mich, was es eigentlich mit der Zeit auf sich hat. Ich verstehe dieses Konzept nicht, in das wir eingebunden sind mit unseren maximal neunzig Jahren, wenn es gut läuft.

Während meine Mutter im Sterben lag, war ich einmal auf ein Fest gegangen, in einem Dresdner Theater. Am Ende des Festprogramms hatte Pascal von Wroblewsky mit ihrer Schülerin Lena Hauptmann den Jazz-Klassiker „What a wonderful world“ gesungen. Die glitzernde Stimme von Lena und die samtene von Pascal hatten mich plötzlich zum Weinen gebracht. Mir war klar geworden, dass auch meine Mutter in ihrem hohen Alter eigentlich noch keine Lust hatte, sich von dieser Welt zu verabschieden. Als der Schlaganfall sie bei der Gartenarbeit überrascht hatte, hatte sie noch etwas vorgehabt. Sie hatte den Besuch ihres jüngsten Urenkels erwartet. Ich fuhr nach Hause, kroch zu ihr ins Bett und legte meinen Arm um sie. Aber ich konnte nicht einschlafen. Ich suchte auf Youtube das Lied von Lena und Pascal, aber es war nicht dort. Ich hörte mir andere Interpretationen an, bis ich eine fand, bei der ich wieder weinen konnte. 

Was ist die Zeit? Das frage ich mich, als ich Tage später in Strodehne auf die Nacht warte. Dies sei die dunkelste Gegend Deutschlands, heißt es. Hier, am Ufer des Gülper Sees, seien die Sterne besonders gut zu beobachten. Ich lehne mich gegen mein Fahrrad und schaue zur Uhr. Der westliche Horizont ist noch blasslila von der Dämmerung. Von der anderen Seite des Sees zieht die Dunkelheit herauf. Ich bin allein auf diesem Feld über dem See. Die Nachttiere beobachten mich aus ihren Verstecken. Es wird noch mindestens zwei Stunden dauern, bis die Milchstraße deutlich zu sehen ist. Ich habe keine Idee, wie ich diese zwei Stunden verbringen könnte und bin drauf und dran, meinen Freund anzurufen und ihn zu bitten, sofort herzukommen und mich abzuholen. Aber das tue ich nicht. Ich will es nicht. Eher kratze ich mir mit einer sechstausendjährigen Tonscherbe die Muskeln von den Knochen und schütte meine Organe auf das Feld, mein Herz und meine Nieren und das ganze Gekröse, bis der Wind durch meine Rippen bläst. Als Tödin kann ich die verletzte Seele meines Freundes ertragen. Frei von Nerven, kann er mich nicht mehr kränken. 

Ich richte die Sternen-App auf den Himmel. Das Hubble Deep Field erregt meine Aufmerksamkeit, ein schwaches rötliches Licht, das Milliarden Jahre bis nach Strodehne brauchte. Meine App ist nicht auf dem neuesten Stand. Inzwischen hat das James-Webb-Teleskop das Hubble überholt. Es hat noch tiefer ins All geschaut, noch weiter zurück in die Vergangenheit. Ich kann mir die Milliarden Jahre, die ich gerade in der Zeit zurückschaue, nicht vorstellen. Da kommt es auf zwei mehr oder weniger nicht an. Was soll das? Interessiert es da draußen irgendjemanden, dass ich stolz darauf bin, allein in der Nacht hier rumzustehen, ein furchtloser Sternen-Freak? Was ist diese Raum-Zeit, das Universum, dieses Liebeszelt, in dem unsere Schreie von den Wänden hallen? Ist es nicht auch nur eine Erzählung? Jahrmillionen altes Licht. Sagen sie. Jahrtausendalte Scherben. Wird berichtet. Wohin sind die Jahre gegangen, die ich mit meinem Freund hatte? Erschöpft sich ihr Licht auf dem Weg? Ich ringe um eine Erzählung, erfinde sie jeden Tag neu. Mein Freund wird unsere Zeit völlig anders erzählen als ich. Am Ende sind wir zwei Menschen, die nichts Gemeinsames erlebt haben. 

Meine Mutter ist ein Leben lang bei unserem Vater geblieben. Sie wollte nicht, dass ich meinen Freund verstoße. Sie wollte, dass ich einen Mann habe, bei dem ich bleibe. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht erfüllen. Aber ihre Liebe zu meinem Vater hat sich in ihrem Tod erfüllt. Ihrer beider Erzählung bleibt eine gemeinsame. Wir Kinder tragen sie weiter. Mir scheint das sinnvoll. 

Als sie starb, war niemand von uns bei ihr. Ich fragte mich, was das bedeutete, ob wir etwas falsch gemacht hatten. Später erzählte mir eine Freundin, ihr Vater habe sich jahrelang Vorwürfe gemacht, weil er zwar die ganze Zeit neben seiner Frau am Bett gesessen, den Zeitpunkt ihres Todes jedoch nicht bemerkt habe. 

Sterben ist eine autonome Handlung. Die Sterbenden brauchen uns nicht mehr. Niemand muss ihnen die Tür aufhalten. Alle Abhängigkeiten und alle Liebe endet, wenn ein Sterbender beschließt, über die Schwelle zu treten. Wahrscheinlich sind wir niemals so autonom wie im Sterben. Ich brauche diese Energie, um meinen Freund endgültig loszulassen. Ich brauche die Kälte, die nicht frösteln macht. Ich muss tun, was ich tun muss. Ich war bereits Frau Tödin, als ich zu ihm sagte: Es gibt nichts mehr zu erzählen. 

Die Häuser von Strodehne hocken im Dunkel, als ich mit dem Fahrrad den Feldweg hinab ins Dorf holpere. Die Milchstraße ist jetzt über mir, als glitzerndes Band, als lärmender Strudel um mich herum. Ich dusche lange, um wieder warm zu werden. 

Es gibt Tage im Leben, die so dünn sind wie die Spinnwebseiten in den alten Fotoalben. Tage, an denen man nicht geliebt hat. Und dann gibt es dichtere Tage, die ein Leben lang halten, besetzt mit bleibenden Bildern. 

Wenn es gut läuft und wir alt werden, machen die Tage, die ich mit meinem Freund verbracht habe, vielleicht ein Viertel meines Lebens aus. Wenn es schlechter läuft, waren sie ein Drittel meines Lebens. Jeder dritte oder vierte Tag eine feste Seite. Nicht an jedem dieser Tage, aber doch häufig, habe ich in seine Seele geblickt, wenn er einen Orgasmus hatte und ich dabei zuschauen konnte. Im Orgasmus zeigt sich die Seele, jener Teil von uns, der in allen Raumzeiten stets gleichbleibt, das Wesen, das wir waren, als wir selbstvergessen im Uterus schwebten, ausgestattet mit einem Basiswissen über den Planeten und sein Programm. Dieser Teil unserer Existenz, der niemals altert, unsere Essenz. 

Diesen Teil ihres Wesens konnte ich im Gesicht meiner Mutter lesen, in ihren letzten Tagen. Er trat immer deutlicher hervor. Ich saß lange an ihrem Bett. Sie sprach nicht mehr. Ich versuchte, in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie Schmerzen hat oder etwas braucht. Genauso intensiv hatte ich mein Baby beobachtet, als es nach der Geburt im Krankenhaus neben mir in seinem Bettchen gelegen hatte. Der Code dieses kleinen Wesens hatte sich mir in seinem Ausdruck entschlüsselt. Ich lese ihn noch heute im Gesicht der erwachsenen Frau. Die Idee kommt, dass auch meine Mutter mich so gelesen hat nach meiner Geburt, dass sie mich besser gekannt als ich mich selbst, dass sie sah, wie gefährdet ich bin und mich deshalb mit ihrer Sorge quälte. Diese Quälereien, die wir uns angetan hatten, waren fort, vergessen, als ich an ihrem Bett saß und ihre Seele erkannte, ihren Humor und ihre Zärtlichkeit. Ich möchte allen erwachsenen Menschen sagen: Vergesst einfach die Quälereien, die ihr euch antut! Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist, solange wir Nerven tragen und durch Abhängigkeiten und Wünsche begrenzt sind. Nur manchmal tut sich ein Riss in der Zeit auf und wir schauen über uns hinaus. Am nächsten Tag fahre ich gegen den Wind nach Havelberg. Die Stadt ist sehr schön und leer und irgendwie so verloren wie meine Liebe, abgeschlagen, jenseits der Touristenrudel auf dem Elbradweg. Die letzte Buchhändlerin hält noch durch. Freunde zeigen mir ein altes Bürgerhaus, aus dem sie den Schutt getragen haben und jetzt eine Galerie darin betreiben. Enthusiasten haben einen Speicher saniert und hoffen auf Übernachtungsgäste. Kein einziger Reisebus steht vor dem Dom der Stadt, die vor Jahren bedeutender war als Berlin. Wie lange ist das her? Es gibt wenige Erzählungen darüber. 

Ich liege im Gästezimmer in dem Bürgerhaus meiner Freunde und döse in die Wolken, dann stehe ich auf, stülpe mir die Kopfhörer über und lade mich in der Dauerschleife von „What a wonderful world“ wieder auf. 

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