Die West-Jeans war wichtig

Franziska Hauser hat neulich in der Berliner Zeitung in einem feinen Text ihre Immunität gegen Werbung und die darin propagierten Frauenbilder und -Rollen mit ihrer Ostherkunft erklärt, zumindest vermutet sie, dass der werbefreie Osten die Erklärung sein könnte. 

Foto: privat

Ich kann ihre Vermutung nicht bestätigen. Ich bin etwas älter, das mag eine Rolle spielen. Ich habe acht Jahre länger in der DDR gelebt, acht entscheidende Jahre, in denen ich erwachsen wurde und ein Kind bekam. Ich wurde sehr wohl von dem geprägt, was an Bildern, Filmen, Videos und Magazinen aus dem Westen schwappte, sogar bis in unser „Tal der Ahnungslosen“. So wurde Dresden damals genannt, weil das Westfernsehen nicht bis in den südöstlichsten Zipfel des Landes reichte. Meine gesamte Schulzeit habe ich in Dresden ohne Westfernsehen, also auch ohne Werbefernsehen verbracht. 

Der Westen war als geniale Projektionsfläche unserer Träume immer gegenwärtig. Was für Kids heute Marken-Klamotten sind, waren für uns West-Klamotten. Statussymbole. Berlin war nicht weit, die Mauer hier und dort durchlässig. Die West-Jeans war wichtig. Ich trug sie täglich. Sie hielt ein Jahr lang. Dann waren genug Forum-Schecks für die nächste angesammelt. 


Hier kommt Ihr zu meinem und dem Artikel von Franziska Hauser in der Berliner Zeitung …

https://www.berliner-zeitung.de/open-source/osten-deutsche-geschichte-westfernsehen-werbung-frauenbilder-in-der-ddr-welchen-einfluss-hatte-der-westen-li.376866

An dieser Stelle muss ich jedoch einräumen, dass der Vergleich zwischen West – und Marken-Klamotten nicht ganz korrekt ist. Bei den Markenklamotten heute auf dem Schulhof geht es um Geld und Klasse. Um Klasse ging es in der DDR niemals. Wir kannten keine Klassen, und bis heute fällt es mir schwer, in den Kategorien von Klasse zu denken. Ich begreife daher sehr langsam die Mechanismen dieser Gesellschaft. Ich muss mir ihre Codes mühsam übersetzen. Um Geld ging es in der DDR auch nicht, denn West-Klamotten waren ja nicht für selbst verdientes Geld zu haben, sondern nur durch gute Beziehungen und eine gewisse Umtriebigkeit. 

Ich glaube, dass die Generationen-Kluft zwischen Menschen wie Franziska und mir, die wir in den Achtziger- und Neunzigerjahren erwachsen wurden und den heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen wesentlich größer ist als der Unterschied zwischen Westlern und Ostlern jemals war. Die Globalisierung und Vernetzung der Welt hat einen Anpassungs- und Leistungsdruck geschaffen, der in den Welten, in denen wir aufwuchsen, einfach nicht existierte, weder in Ost noch in West. Aber ganz bestimmt kennen Westsozialisierte die Codes, derer es bedarf, in dieser Welt klar zu kommen, besser als wir. 

Doch zurück zur werbefreien DDR. Anders als Franziska Hauser komme ich aus konservativen Verhältnissen, die ich als junge Frau beengend und starr empfand, gegen die ich rebellierte. Franziskas Mutter war eine berufstätige Frau, sie war Künstlerin, in der Ostberliner Boheme zu Hause, einem widerständigen, freigeistigen Biotop. Ich bin überzeugt, dass diese Umgebung und der Einfluss ihrer Mutter sie zu der autonomen Persönlichkeit gemacht hat, die sich dem Leistungsdruck nicht unterwirft. Mir ist aufgefallen, dass es oft kluge, beruflich sehr erfolgreiche Frauen sind, die sich wenig Gedanken über äußere Attribute machen. Dafür haben sie keine Zeit. Oder es ist ihnen einfach nicht wichtig. Zu anstrengend. Sie sehen wie Franziska überhaupt keine Veranlassung, sich mit Moden, Trends, Diäten und anderen Diktaten zu beschäftigen. Das ist ein Schlüssel zu ihrem Erfolg. Das sind nicht nur Frauen aus dem Osten, aber möglicherweise liegt der Ostanteil in dieser Kategorie höher. 

Ich bin früh von zu Hause weggegangen. Gleich nach der Schule folgte ich meinem Freund nach Berlin. Wir erwarteten ein Baby, heirateten und besetzten eine Wohnung. Berlin empfand ich als befreiend, den ruppigen Humor der Stadt und ihre Ehrlichkeit. Hochschwanger lief ich durch die Straßen von Friedrichshain, beobachtete alte Frauen mit Einkaufstaschen und Gehstöcken, die flüsternd miteinander schimpften, Kohlenträger und Punks, die in Lebensmittelläden an der Kasse saßen. Menschen wie diese gab es in Dresden nicht. 

Ich fand es großartig, ein Baby zu haben. In einem Buch aus dem Westen hatte ich gelesen, wie man (frau) richtig stillt. Ich würde mein Baby stillen, so oft es schrie. Das war eine völlig abgefahrene, neue Methode. Die Frauen in der staatlichen Mütterberatung wogen und vermaßen mein Baby und befahlen mir eine Fütterung alle vier Stunden. Vermutlich hatten sie die Aufrechterhaltung der sozialistischen Ordnung im Sinn. Stechuhren. Ich setzte mich darüber hinweg. Meine Tochter sollte sich ohne Angst zu einer souveränen Persönlichkeit entwickeln, und diese Entwicklung begann am ersten Tag ihres Lebens. So hatte ich es in dem Buch aus dem freien Westen gelesen. 

„Wenn ich Geld für die Versorgung der eigenen Kinder bekäme, hätte ich das Gefühl, das System zu unterstützen, das auf das Funktionieren eines Hochleistungsalltags ausgerichtet ist“, schreibt Franziska Hauser zur Forderung nach bezahlter Care-Arbeit. Auch ich finde den Begriff Care-Arbeit schaurig. Es ist ein Wort, das ganz gut die Realitäten im global agierenden Prekariat beschreibt. Selbst das Private, unsere innigste Zuwendung und Liebe, soll in Lohnarbeit überführt werden. Doch auch damals in der DDR war es schaurig. Die staatliche Mütterberatung, in der ich mich umgehend nach der Geburt einzufinden hatte, gab mir das Gefühl, mein Baby gehöre nicht mir, sondern dem Staat. So strikt waren die Gebrauchsanweisungen für den kleinen Menschen. 

Eine meiner Schwiegermütter riet mir, bald arbeiten zu gehen. Ich sei doch noch so jung und müsse etwas anfangen mit meinem Leben. Es war einer der besten Ratschläge, den ich je bekommen habe. Alle jungen Mütter heute, die nicht meine Schwiegermutter haben können, tun mir ein bisschen leid. Und ja, das war eben der Osten. Eine erfolgreiche Frau, die genauso jung gewesen war wie ich, als sie ihr Baby bekam und sich nach dem Schulabbruch durch schwierige Zeiten bis zu ihrer Promotion gearbeitet hatte. Sie wusste, wovon sie sprach. Ich fand Arbeit in der Vertriebsabteilung eines Verlages, und glücklicherweise einen sehr guten Betreuungsplatz für meine Tochter. Jeden Morgen brachte ich ein singendes Kind in die Krippe und tanzte anschließend in den Verlag. Innerhalb meiner Arbeitszeit konnte ich eine Ausbildung zur Buchhändlerin machen. Dass ich ein Kind hatte, war nirgends ein Thema. Ich war eine junge Frau, die eine Ausbildung machte, arbeitete und sich zum ersten Mal im Leben ermutigt fühlte, etwas aus ihrem Leben zu machen. Doch schon damals setzte ich mich unter einen enormen Erfolgsdruck. Ich wollte nicht nur beruflich weiterkommen und Geld verdienen, sondern auch schön sein. Ich wollte Leichtigkeit und Individualität verkörpern. Es ging mir nicht gut mit diesem Anspruch. Dass ich eine Ess-Störung entwickelt hatte, wurde mir klar, als ich zum ersten Mal in den Neunzigerjahren ein Radio-Feature hörte, in dem betroffene Frauen über ihre Magersucht und/oder Bulimie sprachen. Zu diesem Zeitpunkt war die Mauer bereits gefallen, ich hatte zwar einen Berufsabschluss, aber meinen Job im Verlag verloren und schon viele erfolglose Bewerbungen hinter mir. Inzwischen lebte ich mit unserer Tochter allein. Personalchefs durften damals noch unverblümt sagen, warum sie jemanden ablehnten. Aber ihr Kind! hörte ich ständig. Es ist ja noch so klein! Was machen Sie, wenn es mal krank ist? Im Verlag hatte ich meine Tochter mit ins Büro genommen, wenn sie gerade mal wieder erkältet war. Ich hatte sie schlafen gelegt und die wichtigsten Arbeiten erledigt, dann waren wir nach Hause gefahren. Einmal wurde ich in einem Bewerbungsgespräch gefragt, ob ich nicht eine „Oma fürs Grobe“ hätte. Ich muss die Männer vor mir entsetzt angeschaut haben. Diesen Begriff kannte ich nicht. In meiner Familie gab es nur Omas, die für die feinen Dinge des Lebens zuständig waren: Puppentheater, Reisen, Torten und Chanukkah-Bälle. 

Ich habe nie herausgefunden, ob meine Ess-Störung eine Form der Rebellion gegen mein Elternhaus oder eine versuchte Anpassung an die Erscheinung meiner Idole war, die ich auf Plattencovern und in Filmen bewunderte. Auch die Frauen in den DDR-Filmen aßen nichts! Ich weiß, dass ich vierzehn Jahre alt war, als mir zum ersten Mal die monströsen Ausmaße meines Körpers bewusst geworden waren. Fatalerweise waren mir auch noch Brüste gewachsen. Ich war ein Kind, das meist in Bücher und Träumereien versank. Die Schule konnte ich sehr gut abschalten. Dass ich Brüste bekommen hatte, wäre mir vermutlich gar nicht aufgefallen, wenn mein Körper nicht plötzlich von allen Seiten kommentiert worden wäre. Das war neu. 

Es stimmt, dass die patriarchalen Strukturen in der DDR nicht mehr so fest durch Männermacht legitimiert waren wie heute im globalisierten Westen. Die Politik der DDR steuerte bewusst dagegen, indem Frauen gefördert wurden und es kein ökonomischer Nachteil war, Mutter zu sein, nicht einmal für Alleinerziehende. Doch jenseits der Großstädte lebten die alten Rollenbilder fort. Ich denke, in diesem Punkt waren und sind sich west- und ostdeutsche Provinzen sehr ähnlich. Nur, dass inzwischen Beth Ditto erfunden wurde und die Frauen in der Werbung für Bademode so aussehen dürfen wie echte Frauen am Strand. Damals überwog in Filmen, auf Plattencovern und in Magazinen das Bild hübscher, untergewichtiger Frauen. Doch nicht einmal Beth Ditto und die neuen Models werden Mädchen heute vor Ess-Störungen schützen. Die Ursachen liegen nicht in den Bildern an sich. In diesen drückt sich das eigentliche Problem nur aus. Es hat mit dem enormen Anspruch zu tun, der seit jeher an Frauen gestellt wird, bei gleichzeitig offen gelebter Misogynie, leider oft auch von Frauen und Müttern selbst. 

Manchmal glaube ich, dass der Osten nicht nur eine Erfindung des Westens ist. Die DDR wird in den Erinnerungen verklärt. Dabei gibt es nicht DEN Osten. Er war, genau wie der Westen, für jeden Menschen anders. Aber es stimmt, dass sich viele Dinge mit ein bisschen politischen Willen für Frauen zum Besseren wenden könnten. Das haben wir im Osten alle erlebt. 

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