Kathrins Notiz-Blog 8. Dezember 11

© Illustration Liane Heinze

Ich habe schon jetzt dieses 1. Januar-Flattern. Es will nicht gemütlich werden um mein Herz. Die leeren Blätter des neuen Kalenders machen mir Angst. Wo werde ich leben? Was werde ich tun?

Vor ein paar Wochen hat Synne seine Wohnung in der Karl-Marx-Allee bezogen. Er war zufrieden mit meiner Arbeit. Er hat die Räume, die Kolja und ich gestaltet haben, mit großer Selbstverständlichkeit eingenommen, wie jemand, der an funktionierendes Personal gewöhnt ist. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, aber ich hatte etwas mehr Anerkennung erwartet.

Synne hat Kolja und mich zu einem Konzert in eine düstere, archaische Halle im Wedding eingeladen. Dort wurde eine seiner Kompositionen gespielt. Sie gefällt mir. Ich fand mich darin wieder. Synne hat meinem Anfang-Januar-Gefühl-mitten-im-Advent einen Klang gegeben. Es klingt, als ob hauchdünnes Glas in Zeitlupe zerbricht, so dass man zuschauen kann, wie die Splitter durch die Luft wirbeln.

Sicher bin ich völlig unbegabt. „Was willst du denn? Wir haben unseren Job gemacht und er hat bezahlt“, sagt Kolja in der Pause. Er stützt sich mit dem Ellbogen auf der klebrigen Bar ab. Er trägt die Lederjacke offen und rollt nervös eine Zigarette in den Fingern. „Kommst du kurz mit raus?“

Das ehemalige Werksgelände ist verlassen. Durch die Lichtkegel der Lampen sprüht feiner Regen. Es ist kalt. Ich bibbere. Mein Mantel liegt drin, auf der Lehne des Plastikklappstuhls.

„Hast du den Birkenast im Fenster an Synnes Arbeitstisch gesehen?“

„Klar“, sagt Kolja.

„Ich habe ihn auf der Straße gefunden und mit geschleppt. Das hätte ich doch nicht tun müssen, oder? Unsere Arbeit ist doch ein bisschen mehr als ein Job…genauso wie die Musik. Synne möchte auch wissen, ob uns sein Stück gefallen hat. Wir sagen doch nicht: Er hat seinen Job gemacht und wir haben bezahlt.“

„Ist aber so“, sagt Kolja. „Von den meisten Leuten bekommt er kein Feedback, es sei denn, sie fanden es unmöglich. Man klatscht ein bisschen, steht auf und geht nach Hause.“

„Na komm, erstens wird unterschiedlich geklatscht und dann passiert da doch noch was. Man redet darüber, wenn man nach Hause geht.“

„Was geredet wird, hört er ja nicht. Der Künstler bleibt allein zurück“, sagt Kolja. „Wenn er Glück hat, geht jemand mit ihm essen. Wenn er noch mehr Glück hat, findet er in irgendeinem Blog eine Kritik. Das war’s.“

Kolja fand meine Arbeit gut, aber auch er sagt das ohne Begeisterung. Begeisterung scheint uncool zu sein.

Ich bin sicher, Leon hätte den Birkenast auch mit geschleppt. Leon hätte ihn auch mit geschleppt, wenn er dreimal so schwer gewesen wäre. Aus purer Begeisterung über seinen Fund. Leon ist ungefähr so uncool wie ich. Er hätte Synne so lange von dem Ding geschwärmt, bis der wenigstens einen anerkennenden Pieps von sich gegeben hätte.

Kolja ist mir nahe, wenn er meinen Körper und mein Gesicht liest. Aber sobald er sich abwendet, reißt die Verbindung zwischen uns. Leon ist mir immer noch nicht fremd. Er ist immer noch mein Verbündeter.

Aber jetzt: Der neue, saubere Kalender, die leeren Seiten, mit denen ich wieder nicht klar kommen werde, weil meine Schrift zu groß und zu chaotisch ist, die Ungewissheit, die vor mir liegt, gehalten in einer Struktur aus Monaten und Tagen, die ich mit Terminen füllen, die ich abhaken und sogleich vergessen werde, ein ganzes Buch voll Zeit, für die der weitere Verlust der Liebe vorausgesagt ist, die also nicht zählt.

Kathrins Notiz-Blog 28. Oktober 11

© Illustration Liane Heinze

„Ich kann jeden Tag eine andere Wohnung einrichten, aber nicht mein eigenes Leben.“

Koljas Mutter nickt mir zu mit einem Lächeln, von dem ich nicht weiß, ob es Anerkennung ist für die Wohnungen oder Gewissheit, dass ich das mit dem Leben auch noch hinbekomme. Ich sitze gleich links, wenn man in das Haus tritt, auf dem Sofa, unter den Büchern. Im Kamin glühen noch ein paar Holzstücke. Koljas Mutter trägt wieder das wollene Tuch mit den langen Fransen. Sie hat es fester um sich geschlungen im Laufe meiner Erzählung. Sie sitzt mir zugeneigt mit diesem freundlichen, konzentrierten Blick. Ihr kurzes, lockiges Haar ist vor den Ohrmuscheln zu akkuraten, spitz zulaufenden Locken geschnitten.

„Ich wollte Sie wiedersehen, weil ich glaube, dass Sie solche Gefühlszustände kennen“, sage ich.

Sie nickt. „Ich freue mich, dass Sie wiedergekommen sind.“ Sie hat Kaffee gekocht. Der Apfelkuchen, den sie dazu serviert, ist selbst gebacken.

„Ich verstehe Ihre Verunsicherung“, sagt sie. „Manchmal spürt man nur, dass etwas nicht stimmt, man will das nicht wahrhaben, man hört nicht auf das eigene Gefühl, man macht weiter…aber irgendwann weiß man, dass es Zeit ist zu gehen.“

„Wann?“

„Das ist schwierig. Manchmal wartet man zu lange.“

Wann ist ‚zu lange’?“

Sie schaut aus dem Fenster. Ihr Blick ist plötzlich nüchtern, fast kalt. Sie holt Luft. Dann kehrt sie schnell zurück, wieder freundlich. „Ist Ihnen warm genug?“

Ich nicke, aber sie steht trotzdem auf und wirft ein paar Holzscheite in den Kamin.

„Zu lange“, wiederholt sie. Sie schaut in das Feuer. „Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Sie tun auch richtig daran, auf die Liebe zu vertrauen, zu hoffen…an etwas zu glauben, das Sie miteinander verbindet. Tun Sie nichts überstürzt!“

Sie setzt sich wieder in den Sessel. Die Holzscheite krachen auseinander.

„Wenn man jemanden verlässt, verliert man so viele Dinge. Es ist, als ob man die Verankerung aus seinem Herzen fetzt“, sage ich.

„Denken Sie an sich. Passen Sie auf sich auf.“

Wie passt man auf sich auf, will ich sie fragen, aber ich schlucke die Frage hinunter.

„Vertrauen Sie Leon?“

„Ich weiß nicht…doch, ich glaube schon, in dem Sinne, dass er mir nichts vormacht. Aber er ist nicht gerade der Sicherheitsfaktor meines Lebens, falls Sie das meinen.“

„Es wäre gut, wenn Sie irgendwo etwas Ruhe finden könnten, einen Platz für sich“, sagt Koljas Mutter. „Einen Raum, in dem sie beginnen, aufzuräumen, zuerst Ihren Kopf, danach Ihr Herz, so lange, bis Sie sich völlig bei sich fühlen.“ Als sie das sagt,fühle ich mich wieder wie als Teenager, unbehauen, mit diesem naiven Ausdruck,  für den ich mich schämte und dann rutschten mir die Lippen aus wie kurz vor dem Weinen und ich wurde rot.

„Möchten Sie noch etwas Kaffee?“ Koljas Mutter schenkt aus der blau-weißen Kanne nach. Als sie die Kanne wieder absetzt, sagt sie: „Ich habe auch einmal einen Mann verlassen. Er hat mich immer wieder angelogen, aber es hat lange gedauert, bis ich es gespürt habe. Dann habe ich gegen das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, weiter gelebt und so getan, als wäre alles in Ordnung. Ich habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Davon bin ich krank geworden.“ Sie zieht das Fransentuch enger um die Schulter.

„Wie lange ist das her?“, frage ich.

„Dreizehn Jahre. Ich war fünfzig.“

„Aber Sie sind gegangen.“

Sie nickt. „Ich war noch sehr schwach. Es hat lange gedauert, bis ich wieder Kräfte gesammelt hatte.“

„Haben Sie sich nie wieder verliebt?“

„Doch“, sagt sie. „Einmal.“

„Ich habe ein bisschen Angst vor dem Alleinsein“, sage ich.

„Sie sind nicht allein“, sagt Koljas Mutter. Dasselbe, was ich vor ein paar Tagen zu Jolanda gesagt habe.

Später legt sie den Fransenschal ab und kocht uns Reis und brät Gemüse an. Sie entschuldigt sich für das einfache Essen. Vielleicht hätte ich längst gehen sollen, aber ich mag noch nicht gehen. „Machen Sie sich keine Mühe“, sage ich.  Sie schickt mich in den Garten Kräuter zu holen. Ich möchte am liebsten hier bleiben, wenigstens für diese Nacht, und morgen in Ruhe zurück nach Berlin fahren, nach dem Frühstück. Die Kühle im Garten ist weich. Es ist finster, aber als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, finde ich Rosmarin und Salbei.

Kathrins Notiz-Blog 11. August 11

© Illustration Liane Heinze

Wir klettern über den Zaun eines Uferstegs, Kolja zuerst, dann ich. Der Westwind kräuselt den See. Niemand ist hier draußen, denn es war das übliche Regenwetter angekündigt, aber nun ist es plötzlich sonnig und warm. Wir legen uns bäuchlings auf die Planken. Kleine Wellen schwappen gegen den Steg. Ein Fischschwarm steht reglos im Flachwasser.

„Du hasst mich ein bisschen dafür, dass ich bei deiner Mutter war. Warum?“

Kolja wälzt sich auf den Rücken. Er stöhnt leise. „Ich wäre gern dabei gewesen. Ich hätte euch miteinander bekannt gemacht. Ich wusste nämlich, dass ihr euch verstehen würdet. Du bist mir einfach zuvor gekommen. Ich habe mich gefragt, was in dich gefahren ist, wieso du nicht warten kannst. Diese virile Energie, die du manchmal entwickelst, sie…“

„Virile Energie..?“

„…ja,ja, sie trifft einen völlig unvermittelt, man traut dir das nicht zu. Sie steht in krassem Widerspruch zu deinem sinnlichen, kontemplativen Blick und deiner Zurückhaltung.“

„Wow! Sag das bitte noch einmal: Sinnlicher, kontemplativer Blick! Meinst du das etwa ernst?“

„Wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas ernst meine?“

„Entschuldige.“ Als ich meinen Arm aus dem Wasser nehme, um nach Kolja zu tasten, machen sich die Fische davon. „Ich bin einfach…andere nennen mich eine Träumerin. Aber viril? Manchmal fühle ich mich wie ein Mann, obwohl ich gar nicht weiß, wie ein Mann fühlt, ich meine nur: es ist mir nicht immer bewusst, dass ich eine Frau bin. Es ist quasi – nebensächlich. Aber ist das nicht sehr weiblich; Rat bei einer älteren Frau zu suchen? Ist das nicht urweiblich?“

„Frag mich nicht. Ich weiß nichts über Urweiber und wenig über Frauen, außer, dass ihr andere, schwer verständliche Wesen seid.

„Oje, die Beauvoir würde sich im Grabe herumdrehen.“

„Musste sie doch schon hundertmal, die Arme“, sagt Kolja. „Die weiß gar nicht mehr, wo oben und unten ist.“

„Ich weiß auch nicht mehr, wo oben und unten ist. Mir geht die Betonung der Unterschiede auf die Nerven“, sage ich. „Ich denke, die Übergänge zwischen Männern und Frauen sind fließend. Es gibt viele Geschlechter.“

Ich drehe mich auf den Rücken und sehe: am Himmel türmen sich mächtige Wolken. Der halbe Mond steht wie ein Lüftchen dazwischen.

„Vielleicht ist es sogar das Urweibliche, das ich viril genannt habe ? Keine Ahnung“, sagt Kolja.

„Interessante These. Vielleicht bist du nicht der einzige, der weiblich und männlich verwechselt. Können wir uns der Beauvoir zuliebe darauf einigen, dass es keinen Unterschied zwischen dem Urweibchen und dem Urmännchen gibt, dass sie die gleiche urmenschliche Energie in sich tragen?“

„Definitiv: Nein“, sagt Kolja. „Die Beauvoir in allen Ehren, aber in diesem Punkt hat sie sich geirrt. Das ist doch längst wissenschaftlich bewiesen, oder?“

„Glaub nicht“, sage ich.

„Ist doch egal“, sagt Kolja.

„Es lässt mir keine Ruhe“, sage ich. „Lieber Gott, lass mich nur für ein paar Tage ein Mann sein, um es herauszufinden.“

„Ein paar Tage reichen nicht. Du brauchst ein Leben dafür“, sagt Kolja. „Mit allem Drum und Dran, Kindergarten, Pubertät…“ Kolja stockt. Ich halte die Luft an. Er spricht es nicht aus. Aber Ella ist plötzlich da. Ich atme weiter, aber Ella bleibt. Sie lacht und greift nach ihren dicken Füßchen. Die Frage, ob Ella schon einmal gelacht hat, liegt mir ganz leicht auf der Zunge. Ich verschlucke sie.

„Findest du es nicht einengend, dass wir immer nur in der einen Person denken und fühlen können, in der Person, die wir sind? Wir können die Welt niemals so sehen wie unsere Eltern, weil wir ihre Erfahrungen nicht besitzen und von einem ganz anderen Zeitgeist geprägt sind. Wir können die Welt auch niemals mit den Augen unserer Kinder sehen. Ist das nicht eine fürchterliche Unfreiheit? Als Mann stecken wir in dem Mann fest und verstehen Frauen nicht. Als Frau stecken wir in der Frau fest.“

„Vielleicht würden wir feststellen, dass wir so verschieden gar nicht sind?“, sagt Kolja.

„Eben.“

„Ja, eben.“

„Wir führen ein Wintergespräch“, sagt Kolja.

„Es wurde gerade ein Sommergespräch daraus “, sage ich.

„Nicht wirklich“, sagt Kolja. „Das Thema bringt dich zu sehr auf.“

„Das kommt, weil der Sommer so verregnet ist“, sage ich.

Der Wind streicht kühl über die Haut, aber in den Bohlen summt die Wärme. Eine Libelle steht über uns, blickt und dreht ab. „Sonne und Wind auf der Haut, das ist besser als Sex“, sage ich. Kolja streckt seine Hand aus, aber der Abstand zwischen uns ist weit. Er erreicht nur meine Flanken. Er wälzt sich wieder auf den Bauch und rückt näher. Ohne die Augen zu öffnen, spüre ich sein Gesicht über meinem.

„Was steht heute da geschrieben?“, frage ich.

Er legt einen Finger auf meine Lippen. „Psst! Nichts, das Worte ausdrücken könnten“, flüstert er. Er möchte, dass wir zurück zum Haus gehen. Er drängelt.

Koljas Mutter ist übers Wochenende verreist. Ich frage nicht, was Kolja seiner Frau erzählt hat, wo er an diesem Samstag ist. Ich möchte, dass es mich nichts angeht.

Das Gras auf der Wiese vorm Haus steht so hoch, dass man sich darin verstecken kann. Winzige, grau gemusterte Grillen sitzen darin. Wir bereiten uns einen Platz im hohen Gras und ziehen uns nackt aus. Immer wieder wird die Sonne von Wolken verschleiert. Kolja ist ungeduldig. Er hält die Augen geschlossen, als ich auf ihm sitze. Sein Orgasmus kommt schnell. Er entschuldigt sich. Er springt auf und läuft nackt durch das Gras, er humpelt, er sagt, es sei psychisch bedingt. Er entschuldigt sich immer wieder. „Es ist doch nicht schlimm“, sage ich. „Es ist überhaupt kein Problem.“

Wir probieren es gleich noch einmal, aber plötzlich muss ich weinen. Zuerst weiß ich nicht, warum. Die Tränen laufen über mein Gesicht, während Kolja mich näher zu sich zieht. Sie füllen meine Ohren. Kolja beugt sich über mich und hält meinen Kopf. Er presst meinen Kopf an seine Brust und schaukelt mich wie ein Kind. Ella ist immer noch da, und plötzlich ist da auch Leon.

„Warte! Nein, warte nicht!“ Ich grabe mich frei, reiße meine Sachen unter Koljas Knien weg und flüchte zum See. Im Strandbad liegt eine Reihe hellblauer Boote, aber eigentlich möchte ich den nächsten Zug nehmen und zu Leon fahren. Leon ist mein Zuhause. Ich war mir noch nie so sicher wie jetzt. Ich mache kehrt und schreite auf den Ausgang des Bades zu. Am Ausgang bleibe ich stehen und blicke zurück auf die Boote. Ich gehe an die Kasse. „Eine Stunde bitte!“ Die Frau an der Kasse trägt sehr lange, diagonal gestreifte Fingernägel. Sie reicht mir ein kleines, grünes Billet.

Ich stecke das Billet in meine Turnschuhe, für den Fall, dass draußen ein Kontrolleur angerudert kommt und werfe die Turnschuhe in die Spitze des Bootes. Von der Mitte des Sees sieht das Ufer aus, als sei es dicht bewaldet. Der Wind hat die Baumwipfel in eine Richtung gekämmt. Ich fühle nichts außer der Sehnsucht nach Leon. Ich sollte bei ihm sein. Kolja sollte bei seiner Frau und bei Ella sein. Langsam treibt das Boot auf das schattige, grüne Ufer zu. Das macht mich wütend, denn ich will draußen bleiben, auf den Kräuselwellen in der Sonne. Warum ist immer alles so verkehrt, dass man schreien möchte? Als das Boot in den Uferschatten taucht, ruft Kolja an. „Ich habe Kaffee gemacht“, sagt er.

Ein Haubentaucher-Pärchen gleitet am Boot vorüber. Im Uferschatten rudere ich zurück zum Strandbad, renne zum Haus. Eine geblümte Kaffeekanne und geschwungene Sammeltassen mit Goldrändern stehen auf dem hölzernen Terrassentisch, ein bisschen wie Fremdkörper, denn Kolja hat keine Decke aufgelegt. „Wie geht’s?“ fragt Kolja, während er den Kaffee eingießt, wie man einen Gast fragt, der nach längerer Zeit mal wieder vorbei kommt. „Dass du Kaffee gekocht hast…“.

„Milch?“ fragt Kolja. Ich nicke. „Ja, bitte.“ Wir trinken den Kaffee wie ein Paar, das seit Jahren zusammen hier lebt.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand für mich Kaffee gekocht hat“, sage ich. „Ich meine, damals bei euch im Büro schon, aber das war auf eine andere Weise, jemand hat eben für alle, die da waren, Kaffee gekocht, aber du hast für mich Kaffee gekocht, während ich draußen auf dem See war. Du hast Kaffee gekocht, DAMIT ich komme. Sonst ist es anders herum: Man ist zuerst da und dann wird Kaffee gekocht. Weil man da ist. Du hast mich EINGELADEN. Ja, so heißt das. Komisches Wort, klingt nach einer Tramptour.“

„Kuchen habe ich leider nicht“, sagt Kolja.

„Ich möchte gar keinen“, sage ich.

„Hat dich schon einmal jemand zu sich nach Hause zum Kaffee EINGELADEN, dich ganz allein, ich rede nicht von den üblichen Massen-Partys und – Brunchs, und auch nicht von Geschäftskaffeetrinken.“

„Hm, glaube nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter zählt wahrscheinlich nicht, oder?“

„Hat sie dich EINGELADEN?“

„Ja.“

„Dann zählt sie.“

Du warst auf dem See?“, fragt Kolja.

„Hm.“

„Baden?“

„Nein.“

Wir schweigen.

Kolja fragt nach Jolandas Vater. Er möchte wissen, wieso wir nicht zusammen geblieben sind. „Wir waren jung und dumm“, sage ich. „Der Alltag hat uns überfordert.“

Kolja nickt. Ich frage ihn nach seinen Eltern.

„Vater hat Mutter immer wieder betrogen, bis sie ihn raus geworfen hat“, sagt Kolja.

„Gut“, sage ich. „Hat sie danach niemanden mehr getroffen?“

„Sie wollte niemanden mehr treffen“, sagt Kolja.

„Und dein Vater?“

„Ist vor sieben Jahren gestorben“, sagt Kolja. „Infarkt.“

„Seltsam, wie kurz man Beziehungen abhandeln kann“, sage ich. „Ganze zwei Sätze bleiben von diesen Dramen.“

„Findest du das grausam?“, sagt Kolja.

„Du nicht?“

Kolja zuckt die Schultern.

Unsere Geschichte, das beschließe ich an diesem Nachmittag, wird nur hier spielen, in diesem Gras, in diesem Garten, in diesem Haus, an diesem See. Sie wird hier versteckt bleiben. Keiner darf sie jemals auf zwei Sätze verkürzen.

Kathrins Notiz-Blog 3. März 11

© Illustration Liane Heinze

Kolja nahm mich mit zurück nach Berlin. Wir saßen im Zug, die Beine ineinander geschoben, hielten uns an den Händen und schauten uns an. Wir schauten nicht ein einziges Mal aus dem Fenster oder zu den Leuten im Zug. Koljas dunkelblaue Augen lasen in meinen Augen, unruhig, hin und her, von Zeile zu Zeile.

Er hatte meinen Körper gelesen. Wie ein Buch. Er hatte meine Seiten umgeblättert und ich hatte eine wohlige Gänsehaut bekommen, wie immer, wenn jemand in meiner Nähe liest. Nur dass ich diesmal selbst das Buch war. Er hat mich aus der Nähe gelesen. Seine Nase strich über meine Haut. Es war nicht wegen meines Duftes. Nein. Koljas Sinnesorgan sind die Augen. Er hatte mich von sich gestreckt, um mich von weiter weg zu lesen. Aber niemals, nicht eine Sekunde hat er die Augen geschlossen oder den Blick von mir gewandt. In dieser kurzen Zeit ist er nur ein paar Seiten weit gekommen, hat gerade so mein erstes Kapitel genossen.

Und danach, als wir die Kissen und Decken wieder auf das Sofa schichteten: Geht es dir gut? Tut Leon dir manchmal weh? Verwünschst du ihn? Hängst du an ihm? Später im Zug: Was macht das Studium? Kommst du mit dem Geld klar? Brauchst du einen Job? Und immer lasen seine dunkelblauen Augen in meinem Gesicht, konzentriert und verzweifelt, weil ich vielleicht log.

„Ich habe mir immer einen Freund wie dich gewünscht.“

„Wie ich?“

„Weil du mich liest wie einen Roman.“

Er hatte gelacht und die vielen Lachfältchen um seine Augen waren in ihre Form gesprungen. Ein einziges Mal während dieser Zugfahrt war sein Blick von meinen Augen weg auf unsere Hände gesunken.

Aber dann lies er mich gehen, begleitete mich nicht nach Hause, schaute mir nicht einmal nach, als ich aus der S-Bahn ausstieg. Er winkte auch nicht.

Leon war schon zu Hause. Von der Straße aus sah ich, dass Licht in der Wohnung brannte. Ich erschrak. Normalerweise kam er erst freitags zurück. Noch nie war ich nach Hause gekommen und er war überraschend schon da. Er musste etwas ahnen. Ich stand auf der anderen Straßenseite und schaute hinauf zu unseren Fenstern. Nichts regte sich. Dann ging ich hinüber.

Leon kam zur Tür und küsste mich und griff wie gewöhnlich zur Begrüßung nach meinen Brüsten. „Wieso hast du nicht angerufen? Ich hätte eingekauft und etwas zu essen gemacht“, sagte ich.

„Ich wollte dich überraschen“, sagte er. Er sah frisch aus, erholt und etwas gebräunt. Er schien nicht misstrauisch zu sein. Auf dem Boden vor unserem Bett lagen die neuen Fahrradrahmen zwischen den Pappen. Wie sollte er es auch wissen? Meine Stimme am Telefon, ja, aber es gibt tausend Gründe, weshalb man am Telefon anders klingt als gewöhnlich. Leon weiß, dass ich viel zu sensibel bin, um fremd zu gehen. Er war eher gekommen, weil er es nicht erwarten konnte, das Paket zu öffnen.

„Sieh dir das an.“ Er wog einen zierlichen matt-schwarzen Rahmen in der Hand, auf dem in grüner Leuchtschrift das Wort MARIN stand. „Ist er nicht wunderschön?“

„Ja“, sagte ich.

„Und hier!“ Er zog zwischen zwei Pappen eine Gabel in dem dazu passenden Grün hervor und hielt sie an den Rahmen.

„Toll“, sagte ich.

Ich lehnte mich in den Türrahmen und schaute ihm zu. „Du warst in der Sonne“, sagte ich.

„Das Wetter war wunderschön“, sagte er verträumt. „Hier auch?“

„Ja.“

Wir unterhielten uns also über das Wetter. Er fragte nicht, wo ich war. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen. Ich zündete nicht wie sonst, wenn ich nach Hause komme, zuerst das Licht hinter unserem Wandschirm an, um die Wasserfarben auch im Winter zum Leuchten zu bringen. Ich blieb im Türrahmen stehen. Es lagen auch viel zu viele Pappen und Teile auf der Erde, um einfach so an die Kerze hinter dem Wandschirm zu kommen. Ich wollte mich zurückziehen, aber mir fiel auf, dass es in der Wohnung keinen Platz dafür gab.

In dieser Nacht hätte ich gern warm und eng an Leon gelegen, ohne Sex, einfach so, weil wir zusammen gehören. Aber Leon war hungrig. Er verschlang mich ohne Gebet, ohne mir etwas Süßes zuzuflüstern wie sonst. Er wartete nicht auf mich. Er hat es also doch gespürt. Er weiß alles.

Es schien kein Mond in dieser Nacht. Ich lief in der kühlen Wohnung umher. Ich nahm mir einen Keks und setzte mich in das Küchenfenster. Ich hatte eine brennende Lust, Leon von dem Haus zu erzählen und von den Sternen. Also liebte ich ihn doch?