Kathrins Notiz-Blog 15. Dezember 08

Der folgende Text ist Teil eines längeren Manuskriptes, an dem ich seit einigen Jahren arbeite.
In meinem Buch geht es um jemanden, der aufbricht und fort geht. Ein großer Teil der Geschichte spielt im Winter und es kommen allerlei Schneesorten darin vor. Deswegen halte ich den Winter für die geeignete Jahreszeit, Euch darauf neugierig zu machen.

Über den Flughafen treiben dicke Schneeflocken. Der Wind jagt sie auf den Rollfeldern vor sich her. Sie peitschten in schrägen Reihen an den Scheiben des Terminals vorüber.

„Sieht nach Verspätung aus“, sagt die Frau neben mir. Sie hat die Beine von sich gestreckt und bewegt die Zehen in den Socken. Ihre Stiefel stehen neben dem Handgepäck. Sie erzählt von ihren Enkeln und wie sie mit ihnen spielen wird, dort, wohin wir fliegen werden, an unserer Destination. Ich fühle mich noch fremd unter den Reisenden. Es ist zu lange her, dass ich unterwegs war. Ich erinnere mich an meine frühere Unbefangenheit auf Bahnhöfen und Flughäfen. Ich bin sicher, dass das Reisen in unserer Natur liegt. Der Mensch ist Nomade.

Zwei Stunden lang wartet das Flugzeug an der Enteisungs-Anlage. Inzwischen ist es dunkel. Der Schnee trudelt durch das milchige Licht des Platzes, auf dem die Maschinen von riesigen Gerüsten aus geduscht werden.

Mit drei Stunden Verspätung rollen wir schließlich zum Start. Das Flugzeug hält inne. Sein Cockpit blickt bis zum Horizont der Rollbahn. Ein Moment der Konzentration. Vielleicht steht es zum ersten Mal an diesem Punkt der Welt. Vielleicht ist es schon einige Male von hier aus gestartet. Zu anderen Destinationen. Dieser Augenblick, in dem das Samenkorn der Ewigkeit liegt. Die leere Bahn.

Plötzlich donnern die Turbinen los. Der Flieger beginnt zu rollen. Die Energie des Starts presst mich in den Sitz. Das Flugzeug rast auf den Horizont zu. Die Unebenheiten des Rollfeldes schütteln seinen Körper. Als es abhebt, treten mir Tränen in die Augen. Die schräge Linie der Erde verschwimmt. Die Stadt am Boden verwandelt sich in ein Aquarell, die Landschaften ringsum.

Der Pilot meldet sich nasal und gut gelaunt. Einige Buchstaben zerplatzen direkt vor seinem Mikrofon. Wir stoßen in den Wolkennebel. Ich zerre an dem Tütchen mit Erdnüssen, das die Stewardess vorhin gebracht hat. Die Tüte rutscht mir aus der Hand. Die Nüsse spritzen über meinen Platz und den meiner Nachbarin. Sie lacht. Ein lautes, freies Lachen. Ich muss mitlachen. Wir stoßen durch die Wolken in den Nachthimmel. Das Wolkenbett bleibt tief unter uns. Die Anweisung für den Gurt erlischt. Ich picke die Nüsse von meinem Tisch. Wir kichern noch immer. Meine Nachbarin öffnet ihre Tüte, sehr fest und geschickt mit diesen sicheren Händen, die außen schwarz und innen fast so weiß wie meine sind. Sie schüttet die Hälfte ihrer Nüsse in meinen Handteller.

Giovannis Weihnachtshügel

Berliner Zeitung

Am Britzer Damm, Ecke Tempelhofer Weg spritzen die Autos vierspurig über die nassen Straßen. Hat man die Ampeln hinter sich gelassen und den asphaltierten Weg hinauf zu Giovannis Tannenbaum-Verkauf genommen, ist es plötzlich da, dieses Gefühl, dem man zuerst misstraut, weil es an vielen Orten der Stadt vergeblich herauf beschworen wird: Weihnachten.

Vielleicht liegt es an dem Himmel, der sich in den Farben der Dämmerung ausbreitet. Hinter Giovannis Weihnachtshügel klafft ein Loch in der Stadt. Bis zu der Müllverbrennungsanlage am Horizont erstrecken sich die Wiesen eines Naturschutzgebietes mit einem Tümpel mittendrin, dem Eckerpfuhl. Links schließt sich ein Wäldchen an.

Die Holzspäne auf dem Platz vor der Weihnachtsbaum-Einpack-Trommel duften würzig. Am Unterstand weht eine Kette Tibet-Fähnchen. Daneben ein alter Bauwagen, der den Eindruck erweckt, als würde darinnen guter Tee gekocht. Möglicherweise liegt das an Giovanni, der aussieht, als liebe er guten Tee.

Giovanni eilt in großen Schritten über den Platz. Er trägt etwas zwischen Schnee – und Arbeitsanzug. Sein bunter Kinnbart ragt aus dem Gesicht. Die Wollmütze würde ihm in die Augen rutschen, hielten die Bügel der runden Brille sie nicht auf. Trotzdem schiebt er sie hin und wieder aus der Stirn.

Ein Wagen hält neben ihm. „He Giovanni“, ruft ein älterer Herr aus der herunter gelassenen Scheibe. „Komme sofort.“ Giovanni zeigt dem Stammkunden zum Gruß eine seiner harzigen Handflächen und eilt in die Abteilung mit den rot-weiß markierten Bäume. Dort sieht sich ein Paar suchend um. Die rot-weißen sind erste Wahl, fünfzig Euro der Baum, makellose Nordmann-Tannen. Giovanni fragt, berät, empfiehlt. „Sehen Sie, wie gleichmäßig der gewachsen ist. So etwas finden Sie sonst nirgends in Berlin.“ Er streicht über die weichen Nadeln.
Sein Berlinisch hat einen italienischen Akzent. Giovanni ist Sizilianer. Drahtig windet er sich aus seinem Wald wieder nach vorn. Rita braucht Hilfe beim Einnetzen eines besonders üppigen Baumes. Auf dem Weg zupft er das klingelnde Telefon aus der Brusttasche seines Arbeitsanzuges und verabredet einen Vorstellungstermin.

Er braucht dringend Verstärkung auf dem Platz. Aber es ist schwer, gute Leute zu finden, die einen Blick für die Arbeit haben und auf die man sich verlassen kann. „Unter zwanzig Bewerbern ist vielleicht einer, mit dem man etwas anfangen kann“, sagt er. „Einige arbeiten einen Tag und kommen nicht wieder, andere verschwinden nach einer Woche. Die sagen: ‚Na dann, bis morgen’ und tauchen nie mehr auf.“

Der Stammkunde lehnt an seinem Wagen. Giovanni bedient ihn seit Jahren, weiß genau, was er sucht. „Hast du was für mich?“, ruft der Mann. „Klar doch.“ Giovanni weht rüber an den Rand des Platzes, in sein „Lager“. Dort liegen noch verpackte Tannen. „Ich erkenne durch das Netz, was ein guter Baum ist“, sagt er. Er packt ein Exemplar aus. Der Mann kommt langsam näher. „Großartig.“ Er hat einen Baum, den noch kein anderer Kunde vor ihm zu sehen bekam. Es ist sein Baum. Von Giovanni ausgewählt. Zufrieden zieht er die Brieftasche aus seiner Jacke.

Giovannis flinke, dunkle Augen wandern unablässig durch die Baumreihen. Hier und dort gebärden sie sich die Tannen ein wenig undiszipliniert. Sie neigen mal nach dieser, mal nach jener Seite aus ihrer eisernen Verankerung.

Sein Platz sei der größte in Berlin, sagt Giovanni. Er habe die besten Nordmann-Tannen der Stadt. Das sei auch kein Wunder, denn die dänischen Händler mögen ihn. In jedem Sommer, wenn er seine Bäume aussucht, würden sie ihn mit offenen Herzen empfangen, obwohl die Berliner Tannenbaum-Käufer im allgemeinen nicht sehr beliebt seien, weil sie die Preise drücken. „Berlin ist die Stadt in Europa, in der die Weihnachtsbäume am billigsten verkauft werden. Selbst in Westdeutschland zahlen die Leute mehr. Und in Norwegen kostet ein Baum das Dreifache.“

Aber Giovanni ist anders. Er ist der Berliner mit dem italienischen Akzent. Die dänischen Förster fragen nicht, warum es ihn vom sonnigsten Ende Europas in diese arme Stadt verschlagen hat. Sie hören seine Sprache, die barock schwingt wie die katholische, sinnliche Variante von Weihnachten. Die Version mit der Madonna. Sie klingt nach verschwenderischen Gefühlen und Tränen der Liebe. „In Italien“, sagt Giovanni, „da ist Weihnachen schon anders als in Berlin. Die Menschen dort können die Zeit mit der Familie kaum erwarten. Sie freuen sich darauf, zusammen in die Kirche zu gehen.“

In Berlin besucht er am Heiligen Abend manchmal eine katholische Messe, manchmal eine evangelische Christvesper, denn seine Frau ist evangelisch. „Außerdem ist sie Buddhistin“, sagt Giovanni. Aber eigentlich möchte er über solche privaten Dinge wie Religion gar nicht sprechen. Man solle doch lieber über die Bäume reden. Das ist jetzt ihre Zeit. „Weihnachten ohne Baum…nein, das geht nicht. Der Baum ist doch das Symbol der Liebe. Deswegen legt man ja auch die Geschenke darunter. Und man steht davor und singt ein Lied.“ Wie Giovanni das sagt, möchte man augenblicklich in den Boden versinken vor Scham, jemals ein Weihnachtsfest ohne Baum erwogen zu haben.

Seit zehn Jahren verkauft er Weihnachtsbäume, seit fünf Jahren auf dem Platz am Britzer Damm. Das Geschäft beginnt vor dem ersten Advent mit den dichten, großen Saalbäumen, die Kirchen, Firmen und Hotels kaufen. Dann kommen die Familien, die ihren Baum schon in der Adventszeit schmücken oder sich rechtzeitig ein besonders gutes Exemplar sichern möchten und schließlich die Schnäppchenjäger, die von Platz zu Platz ziehen und handeln. „Es gibt Leute, die geben fünf Euro Trinkgeld, nachdem sie den Preis um zwei Euro nach unten gedrückt haben.“ Giovanni schüttelt den Kopf.

Giovanni ist 47 Jahre alt. Man schätzt ihn gute zehn Jahre jünger. „Ich weiß.“ Er schiebt die Mütze aus der Stirn. Er ist die erstaunten Gesichter gewohnt. „Es muss die frische Luft auf dem Platz sein.“ Selbst die weißen Streifen in seinem Bart wirken unter diesem Gesicht eher wie ein modischer Spaß.

Seine Kinder sind inzwischen erwachsen. Für einen Moment verlässt sein Blick die Bäume und wandert über den Britzer Damm, auf dem die weißen und roten Lichter der Autos wie zwei Ketten gegeneinander aufgefädelt sind. Er blickt, als könne er selbst nicht glauben, wie viele Jahre vergangen sind, seit er 1982 nach Berlin kam. Die Stadt habe ihn fasziniert, die Mauer. „Man konnte interessante, alternative Leute treffen.“ Deshalb sei er eines Tages geblieben.

Er huscht in eine Reihe, sucht nach dem perfekten Stufenbaum. „Diese lassen sich viel besser schmücken als die dicht gewachsenen Bäume, auf die alle zuerst fliegen.“ Die Baumärkte lockten mit billigen Hochschossern, Tannen, die schnell gewachsen sind und nur wenige Stufen haben. Er zählt die Etagen des Baumes. Zwölf. Zwölf Jahre alt. „Oder hier die Nobilis…Wer einmal eine Nobilis hatte, kauft sie immer wieder wegen ihres Duftes.“

Und sein eigener Weihnachtsbaum? Nein, einen Blick in sein Wohnzimmer gestattet er nicht, höchstens durchs Schlüsselloch. „Ein paar Kerzen, echte Kerzen und ein bisschen Schokolade. Das genügt. Kein Lametta und solchen Kram.“ Gibt es das Wort gemütlich auf italienisch? Giovanni denkt nach. „Commodo“, sagt er. „Commodissimo.“

Es fällt nasser Schnee. Der Matsch quietscht durch die Sohlen. Das übliche Berliner Adventswetter. Wahrscheinlich werden wieder alle darüber klagen, dass es zu Weihnachten trist und grau aussieht. Im Bauwagen ist es kühl. Es gibt keinen Tee. Auf dem kleinen Tisch stehen einige Wasser – und Limonadenflaschen, in der Eile offen stehen gelassen.

Kathrins Notiz-Blog 2. Dezember 08

In der Schule habe ich gelernt, dass jedes Schnee-Kristall eine andere Form hat. Nach dem Unterricht betrachtete ich die Schneeflocken auf meinem Handschuh. Es waren nicht viele, aber sie hatten wirklich jedes seine eigene Gestalt.

Künstlicher Schnee besteht nicht aus Kristallen, sondern aus winzigen Kugeln. Diese haften nicht wie die Kristalle aneinander. Deshalb kann man aus künstlichem Schnee keinen Schneeball formen. Der Mensch ist nicht in der Lage, die einzigartige Struktur des Schnees nachzubauen.
Mittlerweile stehen auf fast allen Skipisten Schneekanonen, weil der natürliche Schnee nicht mehr ausreicht.

Gestern waren der Fotograf Stephan Pramme und ich in einer Schneehalle, einer Art Tropical Island für den Winter. Von der Autobahn aus sahen wir die Halle riesig aus der norddeutschen Ebene ragen. Ihr Dach glich bereits einem Skihang. An der Vorderfront der Halle pappte eine Reihe alpiner Holzhäuschen, eine Hotelanlage für Leute, die nicht bis nach Österreich fahren wollen. Von ihren Balkonen blicken sie in das nebelige mecklenburgische Land. Ich fragte mich, ob jemals ein Mensch an so einem Ort Urlaub macht. Joladihö-DuDödelDu…

Der Hüttenzauber setzte sich im Foyer fort. Polnische Serviererinnen in schlecht sitzenden Dirndln verkauften mieses Essen. Man hatte uns an diesen grausamen Ort geschickt, um Menschen im Schnee zu porträtieren. Hier gab es zwar keinen echten, sondern nur Kunstschnee, doch echter Schnee war an diesem ersten Sonntag im Advent nirgendwo aufzutreiben.

Wir trafen eine Menge sympathischer Leute. Als hätte die Spezies, die den Ort geschaffen hat, nicht das Geringste mit den Benutzern gemein.

Jeder weiß, dass der Mensch ein widersprüchliches Wesen ist, doch räumlich hatte ich das noch nie erfahren. Gewöhnlich passen die Orte zu ihren Bewohnern. Oder Orte und Bewohner passen sich einander an. Zum Beispiel wirken Menschen in einer Kunstgalerie oder im Foyer eines Theaters behutsamer, gebildeter und besser gekleidet als in der Kaufhalle.

Die Schneehalle wurde uns durch die erfreulichen Begegnungen nicht sympathischer. Die Kluft zwischen dem Ort und den aktiven, freundlichen Menschen blieb.

Wie muss man ticken, um dafür zu bezahlen, den Sonntag an einem derart schummrig beleuchteten Ort mit katastrophalem Musikprogramm und schlechtem Essen zu verbringen? Ist Schnee ein Stoff, nach dem man süchtig werden kann? Das wäre ein mildernder Umstand. Sonst würde ich diese Menschen einfach für gefährlich halten.

Kathrins Notiz-Blog 24. November 08

Über Nacht ist Schnee gefallen. Im Haus meiner Eltern, wo ich das Wochenende verbringe, ist es, als hätte jemand ein Licht angeknipst. So muss Gott sich das Energiesparprogramm gedacht haben: Im dämmrigen Oktober leuchten die Blätter. In den dunkelsten Monaten blendet der Schnee.

Schnee weckt Erinnerungen. Schnee ist pure Nostalgie. Wenn es schneit, naht Weihnachten. Schnee beruhigt. Er schluckt den Lärm. Schnee ist vom Aussterben bedroht.

Aus Hamburg kommt jetzt ein Magazin, das sich mit Klima- und Wetter-Fragen beschäftigt. Es heißt: Klima-Magazin. Das ist keine Fachzeitschrift für Meteorologen, sondern ein Publikumsmagazin für ungebildete Leute wie mich.

Ich glaube, dass in ein paar Jahren die Nachrichten mit dem Wetterbericht beginnen werden. Das Wetter wird der Teil der News sein, der unser Leben am stärksten berührt und von dem letztendlich alles andere abhängt: Börsenkurse, Firmenpleiten und politische Konstellationen.

Es schneit noch immer. Die Dächer und Wiesen sind weiß und auf dem Weg zum Friedhof bläst uns ein frischer Wind entgegen.

Gestern habe ich eine müde Wespe aus dem Haus nach draußen entlassen. Wie überwintern Wespen? Sie hätte im Haus doch keine Chance gehabt. Die Kreuzspinne in der Küche hängt noch immer zerknüllt in ihrem Netz. Wir glaubten schon, sie sei tot. Aber am Abend streckte sie ihre Beine aus und postierte sich in der Mitte ihres Gespinstes. Es sind jetzt keine Fliegen mehr im Haus. Wie lange lebt eine Kreuzspinne ohne Nahrung?

Vielleicht ist das ICH nicht mehr als ein brüchiger Chitin-Panzer, ein Gehäuse für die Lebensenergie Chi. Wenn der Panzer bricht, strömt das Chi in den Kosmos zurück und bringt irgendwo neues Leben hervor. Das ICH bleibt abgestreift zurück, wie eine Schlangenhaut im Wald oder eine Muschelschale im Meer. Irgendwann fängt ein Strand der sieben Weltmeere sie auf. Jemand findet sie beim Spazierengehen. Und so geht die Geschichte weiter.