Mehrere Zeitungen schreiben heute, dass uns Gesichter, die Angst ausdrücken, sofort auffallen. Schneller als zufriedene Gesichter. Die Evolution habe das so eingerichtet.
Die zwei Frauen an der Kasse sehen sich beunruhigt um. Sie haben volle Einkaufstaschen, eine Plastiktüte vom Bio-Supermarkt nebenan ist dabei.
Sie suchen etwas. Sie gehen in Gedanken ihre Einkaufstour noch einmal ab, schauen in die Taschen. Sie sehen nicht ängstlich aus, aber besorgt. Vielleicht wundern sie sich auch nur, wo das ganze Geld geblieben ist. Eine der Frauen trägt eine Wollmütze über dem dunklen Haar. Sie hat braune Augen. Die andere hat volles, honigblondes Haar und Falten, interessante Falten. Man folgt der Spur dieser Falten, stellt sich ihr Gesicht vor, wie es früher war. Diese Frauen sind um die Fünfzig. Sie sind schön.
Ich weiß jetzt, warum ich fünfzigjährige Frauen so neugierig anschaue. In dem Film „Drei Farben Rot“ sagt Jean-Louis Trintignant als greiser, verbitterter Richter zu Irène Jacob, dass er sie im Traum gesehen habe. Er sagt, sie sei glücklich gewesen. Sie fragt ihn, wann und er sagt, sie sei ungefähr fünfzig gewesen. Als ich den Film sah, war ich Mitte Zwanzig, so alt wie Irène Jacob und ich dachte darüber nach, ob auch ich mit fünfzig glücklich sein könnte, ob ich jemanden finden würde, der mich liebt. Ich glaube, man kann sehr glücklich sein mit fünfzig. Oder sehr unglücklich. Mit fünfzig ziehen die Leute Bilanz und sie spüren, was sie versäumt haben. Sie spüren, dass es für einige Projekte unwiderruflich zu spät ist. Trotzdem glaube ich, dass es leichter ist, fünfzig zu werden als vierzig. Vierzig ist wie der letzte Paukenschlag. Jetzt musst du dich beeilen, Mädel. Denn eh du dich versehen hast, eins, fix, drei, bist du fünfzig und musst Bilanz ziehen.
Der Mann vor mir hat zwei Flaschen billigen Wein gekauft, zwölf Flaschen Bier und Tabak und Papier zum Drehen. Er sieht älter aus als er vermutlich ist. Unter seinem Anorak wölbt sich ein Bauchansatz.
Ich frage mich, ob es Leute gibt, die gar nicht an ihre Gesundheit denken, die einfach trinken und rauchen und sich sagen: Egal wie lange. Ist eh nix wert, dieses Leben. Also trinken und rauchen wir, um schneller hier raus zu kommen. So ähnlich!
Während ich durch die Regalreihen schleiche und mich vor den Inhaltsangaben ekele und mich gleichzeitig wegen meines Snobismus ermahne, den ich mir nicht mehr leisten kann, was dazu führt, dass ich aus purer Nervosität sogar vergesse, wie schädlich Industriezucker ist und Unmengen Schokolade in mich rein schaufele, um am nächsten Tag wieder Mineralstoffe, sekundäres Pflanzendingsbums, Vitamine und Kalorien zu zählen und den Anteil von Omega3 – Fettsäuren in Bio-Ölen zu vergleichen. Ich frage mich, wie sinnvoll es eigentlich ist, den Salat im Bioladen zu kaufen und das Schafskäse-Surrogat für 89 Cent im Supermarkt. Es ist wahrscheinlich, dass die Milch für diesen Käse von Kühen stammt, die mit genmanipulierten Futter und Hormonen voll gestopft wurden und erheblich unter Stress standen. Ich denke darüber nach, während ich meinen Wagen durch die Reihen schiebe. Später, zu Hause, wenn ich den Bio-Salat mit dem Billig-Käse in eine Schüssel schnipsele, denke ich nicht mehr darüber nach.
Aber beim Einkaufen denke ich darüber nach. Was dazu führt, dass ich fast nichts kaufe.
Der Bettler vorm Supermarkt hat mir seine letzten zwei Lakritzschnecken geschenkt. Ich knete sie in meiner Jackentasche. Ich hatte ihm 60 Cent gegeben, mein letztes Bargeld und das rührte ihn so, dass er mir etwas Süßes geben wollte. Ich mag den Bettler, wie er immer auf der Mauer sitzt, mit den Beinen baumelt und den Leuten Dinge zuruft. Wie ein kleiner Junge.
Im Supermarkt-Radio sagen sie, welche Unis beim Exzellenz-Wettbewerb gewonnen haben und was sie nun für Geld bekommen. Das geht in die Millionen. An einigen Universitäten wurden Exzellenz-Cluster gebildet. Mir fällt ein, dass ich zu Hause nachschauen wollte, was Exzellenz-Cluster eigentlich sind, als ich die Meldung in einem Newsletter las und es dann doch vergessen habe.
Ich mache mir Sorgen um die Zähne des Bettlers. Ich frage mich, ob Alkohol gegen die Schmerzen hilft. Ob er sich vielleicht wegen der Zahnschmerzen betrinkt und wie es ist, in der Ausnüchterungszelle aufzuwachen und als erstes wieder die Schmerzen zu spüren. Ob die Polizei ihn dann zu einem Arzt schickt? Was sie machen. Ich meine, man kann einen Menschen mit solchen kaputten Zähnen doch nicht seinem Schmerz überlassen. Vielleicht ist der Bettler hochbegabt. Vielleicht hat es niemand bemerkt, als er ein Kind war. So etwas gibt es. Ich habe mal über Hochbegabte recherchiert und geschrieben. Sie sind sehr gefährdet und wenn sich niemand um sie kümmert, driften sie schnell ab. Logisch! Wenn jemand so schlau ist, alles zu durchschauen, was hier passiert, muss er abdriften.
Ich frage mich, ob der Mann mit den Bier – und Weinflaschen schon mal in der Ausnüchterungszelle war. Ich denke, dass er eine Krankenversicherung hat. Vermutlich ist er arbeitslos. Vielleicht ist er enttäuscht, dass es nicht so schnell geht mit dem Sterben, dass davor ein Krankenhaus steht mit Ärzten, die einen streng anschauen und Schwestern, die schimpfen und arrogante Sprüche klopfen. Und dass das alles weh tut.