Der Engel an seiner Seite

Edgar Andrés Chauta ist ein besonderer Weihnachtsmann. Er ist niemals ohne seinen Engel unterwegs.

Jeder Weihnachtsmann verdient pro Bescherung achtundzwanzig Euro Cash. Väter und Mütter zahlen das, ohne mit der Wimper zu zucken. Bei den Engeln hingegen fangen sie an zu knausern.

In der Heiligen Rush-Hour 2007 klingeln fast vierhundert Weihnachtsmänner durch die Berliner Wohnstuben. Aber nur 35 Engel haben einen Job an ihrer Seite.

Edgar redet sich den Mund fusselig. „Ein Engel hat eigentlich viel mehr Gesprächsthemen mit den Kindern, wissen Sie. Weil Engel nämlich das ganze Jahr lang arbeiten, wir Weihnachtsmänner dagegen nur im Winter.“
Einige Eltern lassen sich überreden, buchen seinen Engel und zahlen zähneknirschend das Doppelte. Andere sparen am falschen Platz. Den Engel Lena bekommen sie trotzdem gratis dazu. So ungerecht läuft das Christfest in Berlin ab.
Aber was bleibt Edgar übrig? Ohne Lena macht er sich nicht auf den Weg. Sie chauffiert ihn im eigenen Wagen durch die Nacht. „Ich habe keinen Führerschein“, sagt Edgar. Außerdem hilft ihm Lena, die Säcke mit den Geschenken zu tragen. „Du glaubst ja nicht, wie schwer die manchmal sind!“ Die Geste demonstriert zirka das Zweifache seines Körperumfangs. Edgar ist nicht sehr groß und ziemlich schlank. Damit sein weihnachtlicher Auftritt an Gewicht gewinnt, stopft er sich mit Jacken und wattierten Hosen aus. So verpackt schwitzt er in der wabernden Hitze der Kerzen, dass der Schweiß ihm die helle Schminke über seinen Brauen weg zu spülen droht.

Einmal ist es geschehen, dass ihm ein Dreijähriger an den Bart ging. Der Junge wollte wissen, wieso dem Weihnachtsmann am Kinn weiße, über den Augen aber schwarze Haare wachsen. Vater, Mutter und Oma sprangen sofort schützend vor Edgar. Lena verkroch sich prustend hinter den ausgestopften Schultern des Weihnachtsmannes.
Das ist zum Glück nur ein einziges Mal passiert, ganz am Anfang.

Wie man in Deutschland ein erfolgreicher Weihnachtsmann wird, hat Edgar von seinem Bruder Jorge gelernt. Jorge war einige Jahre vor ihm zum Studium der Politikwissenschaften von Bogotá nach Berlin gegangen. Jorge schenkte seinem kleinen Bruder einen roten Plüschmantel und einen weißen Bart und ließ ihn bei den Bescherungen assistieren.
Lena, sie hatte gerade mit dem Studium der Sozialwissenschaften begonnen, war damals wie Edgar neu auf dem Markt.
Als Edgar seinen Sprachkurs beendet und gelernt hatte, sich die Augenbrauen wasserfest zu überschminken, ging Jorge nach Australien und überließ seinem kleinen Bruder das Geschäft. Dass ein Engel an die Seite des Weihnachtsmannes gehört, hat er natürlich auch von Jorge gelernt.

Jetzt ist Edgar sechsundzwanzig Jahre alt. Er ist gerade im Hauptstudium der Politikwissenschaften angekommen.
Er sagt, dass sein Vater verärgert sei, weil das Studium der beiden Jungen so lange dauert. „Seht mich an“, sagte er letzten Sommer, als Jorge und Edgar die Eltern in Bogotá besucht hatten. „Wie weit ich es gebracht habe. In eurem Alter habe ich längst Geld verdient.“ Papa stammt aus einer einfachen Bauernfamilie und hat als einziges Kind studiert. Er ist Rechtsanwalt geworden. Auch Edgars Mama ist Anwältin.

Edgar steht frierend neben dem Kettenkarussell auf dem Weihnachtsmarkt. „Papa versteht nicht, dass wir erst deutsch lernen und anschließend zum Studienkolleg mussten, weil unser Abitur ja in Deutschland nicht anerkannt wurde. Da waren dann schon drei Jahre weg.“
Er blickt der Lichtgirlande der Gondeln melancholisch nach. Er muss sich nicht so große Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen. Mama und Papa überweisen regelmäßig Geld. Im Winter ist der Weihnachtsmann sein einziger Job. Im Sommer arbeitet er hin und wieder in einem Café oder verteilt Werbeflyer.
Edgar kennt andere Weihnachtsmänner, die hart arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Sie ackern am Fließband in einer Fabrik, in Läden und Kneipen oder stehen als Werbeplakate auf der Straße. Auch im Winter. Sie sind auf jeden Auftrag angewiesen und können sich keinen schlecht bezahlten Engel an ihrer Seite leisten, mit dem sie den Erlös und die Süßigkeiten fifty-fifty teilen, wie er und Lena.
Wenn Edgar nach den Bescherungen mit Lena ins vorgeheizte Auto plumpst, sich den Bart abreißt und sie Lebkuchen mampfen, ahnt er, dass ein Engel einen gewissen Luxus bedeutet.

In diesem Jahr hätte Edgar sogar einen zweiten Engel haben können. Seine zwölfjährige Tochter Maria-Camilla. Maria-Camilla verbringt ihre Weihnachtsferien in Berlin. Sie brannte darauf, Edgar und Lena zu begleiten. Edgar musste ihr erklären, dass er Ärger mit dem Oberweihnachtsmann bekommt, wenn er sein Team eigenmächtig aufstockt. Es sei eben eine Frage der Versicherungen und Verträge, erklärte er ihr. Weihnachtsmann sei eine ernsthafte Arbeit, so ähnlich wie Rechtsanwalt.
Wenn Egar über die Zeit spricht, als seine Schul-Freundin mit Maria-Camilla schwanger war, wird sein melancholischer Blick unsicher. Hat eine Menge Ärger gegeben damals. Sie waren ja gerade erst vierzehn Jahre alt.
Maria-Camilla lebt abwechselnd bei ihrer Mutter und bei Edgars Eltern. Mama und Papa zahlen die teure katholische Privatschule für ihre Enkelin. Edgar würde gern, dass Maria-Camilla zu ihm nach Berlin kommt, aber die deutschen Behörden haben etwas dagegen, weil er von seinem bisschen Weihnachtsmann und Kneipen – Geld nicht richtig für sie sorgen kann.

In diesem Jahr feiern sie alle zusammen kolumbianische Weihnachten, Maria-Camilla, Edgar, sein Engel Lena, seine Schwester, die in Italien lebt und eine Cousine, die in Spanien studiert. Sie treffen sich alle in Berlin. Nur Jorge ist die Reise bis hierher zu teuer. Mama und Papa auch.
„In Kolumbien beginnt man erst spät am Abend zu feiern“, erzählt Edgar. „Nicht vor einundzwanzig Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht ißt die Familie zusammen und dann wird bis in die Morgenstunden gefeiert. In Bogotá findet jedes Jahr zu Weihnachten ein großes Feuerwerk statt.“
Geschenke sind nicht so wichtig. Edgar legt Wert darauf, dass Maria-Camilla das versteht. „Hauptsache, wir sind alle zusammen.“

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