Kathrins Notiz-Blog 11. Oktober 08

Intensivstation 144 I Charité Campus Mitte

Auf der Intensivstation zeigen Monitore die Parameter des Überlebens an: Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und Herzschlag.

Ärzte und Pfleger kooperieren in denselben blauen Kitteln mit derselben Professionalität. Sie sind jung. Sie sind schön. Sie erinnern mich an ein früheres Leben, in dem ich mir Figurprobleme einbildete und besorgt war, irgendeinen Frisurentrend zu verpassen. Jetzt führen sie dieses Leben. Sie sind ja nicht makellos. Deswegen schaue ich sie so gern an. Ihre Schönheit ist aus dem Tag gewachsen und aus der Nacht. Sie kommt von der Straße, aus den alltäglichen Verrichtungen, direkt aus dem Leben. Oder wie soll man sie sonst beschreiben?

Ich sehe sie und sehe ihr Leben. Sie schnaufen dieses Leben. Sobald sie in meine Nähe kommen, wird es warm. Sie würden mir nicht glauben, wenn ich ihnen sagte, dass ich noch niemals so viele schöne Menschen gesehen habe wie hier, zwischen den piependen und tutenden Apparaturen und trompetenden Atemmasken.

Als der Pfleger aus der Frühschicht sich verabschiedet hat, stelle ich ihn vor die Haustür seiner Ex-Frau. Er holt seinen Sohn ab. Er nimmt seinen Sohn bei der Hand. Sie laufen die Treppen hinab, steigen ins Auto und fahren an einen See baden. Erst im Auto sprechen sie miteinander.

Einer der Ärzte ist auf der Suche nach Zärtlichkeit. Ich denke ihn mir bei einem Essen mit Freunden. Da ist eine neue Frau. Jemand hat sie mitgebracht. Er verwickelt sie in ein Gespräch. Aber nachts kehrt er allein in seine Wohnung zurück.

Ein anderer Arzt streitet am Abend mit seinem Freund. Der Streit raubt ihm den Schlaf. Sein Freund liegt nicht neben ihm. Gegen vier schlägt er fluchend nach dem Wecker, schleppt sich ins Bad und blickt missmutig in den Spiegel. Im Stehen stürzt er einen Kaffee hinunter. Auf einem Rennrad fliegt er durch die schlaftrunkene Stadt.

Als er auf der Station ankommt, ist mein Blut zu knapp neunzig Prozent mit Sauerstoff gesättigt. Ich bereite meinen ersten Gang zur Toilette vor. Ich muss mich sehr langsam aufrichten, doch selbst dann reicht die Kraft meiner Lunge noch nicht aus. Der Sauerstoff in meinem Körper sackt ab. Ich japse wie ein Straßenköter.

Vor dem Fenster schwanken die Bäume seltsam träge und lautlos. Ich lehne mich noch einmal zurück, bevor ich es erneut versuche. Mir kommen keine besseren Bilder in den Sinn als die aus dem Leben der jungen Mediziner. Ihr Leben ist großartig. Es ist einfach und wunderbar. Aber auch das würden sie mir nicht glauben.

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