Ich trage einen Rock aus wildem Leder. Seine Rückseite kräuselt beim Gehen wie eine Welle.
Vor vier Jahren kaufte ich ihn in einem Geschäft in der Raumerstraße im Prenzlauer Berg. Vier Berliner Designerinnen teilten sich den Laden. Er befand sich unweit des Künstlerbedarfs an der Ecke Dunckerstraße.
Die Welle entdeckte ich beim Anprobieren. Ich lief vor dem großen Spiegel an der Hinterwand des Ladens auf und ab und stellte mir vor, wie ich von einem Caféhaustisch aufstehen und gehen würde, wie das dunkelbraune Leder weich um meine Beine spielte, so dass der Mann, mit dem ich dort gesessen hatte, zwangsläufig dahin schauen und entdecken müsste, dass er das Beste an mir bisher nicht wahrgenommen oder übersehen hatte, wie er sich sofort nervös nach der Kellnerin umsehen, zahlen und mir nachlaufen würde. Zu spät. Ich war gegangen.
Das Gehen ist eine weibliche Eigenschaft. Wie es die Eigenschaft des Wassers ist zu fließen. Das Label heißt Pisces. Die Designerinnen haben die Gegend verlassen. Auch den Künstlerbedarf an der Ecke gibt es nicht mehr. An dieser Stelle befindet sich jetzt ein Restaurant.
Ich trug diesen Rock an vielen Orten. Ich reiste mit ihm bis ans Mittelmeer.
Im letzten Herbst entdeckte ich einen Fleck auf seiner Vorderseite. Vielleicht hätte ich den Fleck einfach dort lassen sollen. Vielleicht wäre das Leder damit fertig geworden. Aber ich beging den Fehler, sofort Fleckenwasser darauf zu kippen und zu rubbeln. Der Fleck leuchtete nun kreisrund und dunkel in einem diffusen Nebel, der sich auf dem samtweichen Leder ausgebreitet hatte.
Ich brachte ihn zu Klara Li, eine der letzten Zauberinnen im Prenzlauer Berg.
„Das ist ja ein zartes Stück“, sagte Klara Li. Der Rock lag ausgebreitet in ihrer Werkstatt. Wir betrachteten ihn schweigend. Dann machte Klara Li diesen und jenen Vorschlag. Ich verzog jedes Mal das Gesicht.
„Es gibt dieses Märchen von Allerleirauh“, sagte ich. Überrascht schaute Klara Li mich an. Jetzt verstand sie mich und begriff, dass wir einer Herkunft und Sprache sind. Klara Li IST Allerleirauh. Ich hatte sie beim Namen genannt und mich so zu erkennen gegeben. Nun war alles einfach.
Zwei Wochen später wirbelten und kreisten kleine Fetzen Fells und Leders um den Fleck auf meinem Rock. Der Fleck selbst war noch deutlich zu sehen, wie eine Sonne, der Mittelpunkt eines Planetensystems, das Klara Li erschaffen hatte.
Ich zog den Rock an. Erst jetzt entdeckte auch sie die Welle auf seiner Rückseite und sagte: „Ich weiß, warum du den Rock liebst.“ Wir verließen ihr Atelier, um bei den Nachbarn Geld zu wechseln. Allen, die wir auf der Straße trafen, zeigte Klara Li den Rock: Dem mageren, britischen Aushilfsverkäufer im Second Hand nebenan, der türkischen Händlerin gegenüber und dem Künstler Krause.
Klara Li lud mich zu ihrem nächsten Konzert ein. Wir unterhielten uns über Gesang und Noten. Wir entdeckten, dass wir beide gerade dabei waren, Noten zu lernen, Klara Li, weil sie als Sängerin an einen Punkt gelangt war, indem sie tiefer in die Geheimnisse der Musik eindringen wollte, ich, weil ich begonnen hatte, Klavier zu spielen.
Am darauffolgenden Wochenende ging ich in das Konzert von Klara Li. Als letztes Lied sang sie „Morning has broken“ von Cat Stevens. Ihre Interpretation gefiel mir. Ich hatte ihr also erzählt, dass es dieser Song war, den ich am Piano übte, über den ich versuchte, die Welt der Noten zu erschließen. Dann sang sie dieses Lied für mich? Sie lächelte und zwinkerte mir beim Singen zu.
„Habe ich dir erzählt…?“ fragte ich sie nach dem Konzert. Sie schüttelte den Kopf.
Wie seltsam. Ich lief durch die Nacht nach Hause. Beim Gehen spürte ich die Welle gegen meine Knie schlagen. Mein Rock trug jetzt außer der Bezeichnung Pisces im Innern das Signet von Klara Li, auf einem goldenen Lederfetzen über dem Verschluss.
Ich dachte an die Dinge, die uns verbinden. Und nun auch noch dieses Lied.