Kathrins Notiz-Blog 1. Juni 09

Auf der Leipziger Buchmesse im März 2009

Rimbaud soll gesagt haben: „Meine Überlegenheit besteht darin, dass ich kein Herz habe.“

Rimbaud hat Recht. Das Herz passt nicht. Besser wäre ein Knopf, um Traurigkeit, Angst und Liebeskummer abzustellen. Aber das Herz ist nicht zu besänftigen und es sehnt sich. Wieso ist die Liebe wichtig (auch wenn sie keinen biologischen Zweck mehr erfüllt)? Warum machen wir Kinder (obwohl sie sich nicht rechnen)? Warum sind wir bereit, für einen Menschen alles zu geben (es gibt doch so viele und vielleicht ist uns der nächste nützlicher)?

Das Herz ist der letzte, unerhörte Rebell gegen die gesellschaftlichen Zustände. Es schlägt und schlägt und schlägt, ist Herz, ist Herz, ist Herz. Und warum schweigen wir? In der chinesischen Medizin gehört die Zunge zum Organkreis des Herzens. Im Reden manifestiert sich das Herz. Das Herz ist Feuer, ist bitter und rot. Wer seinen Kummer auf der Zunge trägt und redet, ihn mit der Welt teilt, wird vom Herz getrieben.

Ich lese gerade ein ziemlich altes Buch. Die Seiten sind hellbraun wie ein frisch gebackener Keks. Wenn ich es aufschlage, verströmt es einen süßen Duft nach Holz. Es ist der erste Band der Fundus Reihe aus dem Verlag der Kunst Dresden. Es erschien 1959. „Von der Notwendigkeit der Kunst“ von Ernst Fischer.

Über ihn heißt es: „Ernst Fischer zählt zu den maßgebenden Politikern und Theoretikern des Marxismus der Gegenwart. Als „den glänzenden Publizisten, den hervorragenden Kunstkritiker, den hochgebildeten und unermüdlichen Marxisten“ hat man ihn an seinem 60. Geburtstage gefeiert. Thomas Mann schrieb über die Essays Ernst Fischers: Das „im schönsten Sinne optimistische Einstehen für die ewige Sendung der Kunst…, das alles hat mich außerordentlich gefesselt und geistig belebt; ich freue mich des Umgangs mit einem so feinen und starken, von menschheitlichem Gefühl bewegten und erwärmten Verstand“.

Ernst Fischer erzählt, wie sich die Rolle des Magiers in den Stammesgesellschaften später in die Rollen des Künstlers und Priesters aufspalten. Er spricht über die Entmenschlichung der kapitalistischen Gesellschaft und deren unterschiedliche Spiegelungen in der Kunst. Und er erklärt die Rolle der Kunst in der Klassengesellschaft.

„Erstens, dass nicht wenige Künstler und Schriftsteller von Niveau die Modelle liefern, die dann von der Kunstkonfektion in grober Form und billiger Herstellung nachgeahmt werden, und dass auf diese Art die Haute-Couture des Antihumanismus die Massenkonfektion beeinflusst; und zweitens, dass eine Kunst, die hochmütig das Bedürfnis der Massen ignoriert und ihren Ruhm darin sieht, nur von wenigen verstanden zu werden, dem Dreck der Vergnügungsindustrie freie Bahn gibt.“

Nach dem Fall der Mauer war mir aufgefallen, dass die Leute im Westen sagen: „Ich gehe heute in die Oper“, wie man sagt: „Ich habe eine Villa am Wannsee“ oder „Ich fliege morgen auf die Malediven“. Mich stören die elitären, gutbürgerlichen Zirkel einerseits und die verranzten Subkulturen andererseits. Dazwischen gibt es fast nichts, außer einigen Gruppen aus Ostlern, die mittlerweile an Jahren fortgeschritten sind. Ich hatte nicht gewusst, WIE klassenlos die Kunst – und Kulturszene war, in denen ich mich in der DDR mit Anfang Zwanzig wie ein Fisch im Wasser bewegt hatte.

Ich komme tatsächlich aus einer (fast) klassenlosen Gesellschaft. Das macht mich ein bisschen stolz. Aber ganz egal, woher wir kommen, wir müssen reden. Wir dürfen diese Spaltungen nicht zulassen. Alles Gelaber von Ganzheitlichkeit ist doch nur dünne Soße (mit der auch nur Profit gemacht wird), unter der ein in Stücke zerhackter Körper liegt. Kein Wunder, dass mein Immunsystem das nicht mehr mitmacht. Weil ich das körperlich spüre…Mein gegen sich selbst rebellierendes Immunsystem ist die Krankheit der Gesellschaft, die Zerstückelung des Menschen, der Stich mitten ins Herz.

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