© Illustration Liane Heinze
Auf der Rolltreppe in den Schönhauser-Allee-Arcaden sprang Leon einige Stufen höher und blickte von dort oben prüfend auf mich herab. Er sagte, es sei ein Test, ob er mich aus der Ferne genauso lieben würde wie aus der Nähe.
Er drängelte an den Leuten vorbei, zurück an meine Seite. „Ich bin absolut sicher”, sagte er. „Heiraten wir?”
„Ich würde jetzt gern allein durch die Stadt schlendern und mir dabei zusehen, wie ich an dich denke”, sagte ich. „Ich brauche diesen VON-WEITEM-Test auch.”
„Aber wir sind ständig voneinander getrennt, den ganzen Tag, wenn du in den Erdbeeren bist.“
„Arbeit zählt nicht. Außerdem rufst du jede Stunde an.“
„Du sagst, du liebst meine Anrufe.“
„Ich liebe sie auch.“
„Also?“
„Ich möchte nur einen Tag lang testen, wie es ohne dich ist, um zu schätzen, wie es mit dir ist“, sagte ich.
Leon schlug vor, einen Kaffee zu trinken. Wir gingen in einen Bäckerladen. „Ich verstehe das nicht: Wir lieben uns. Wieso sollten wir uns freiwillig trennen?“, sagte er.
„Und warum läufst du ein paar Stufen höher auf der Rolltreppe?“
„Das ist etwas anderes. Ich trenne mich nicht von dir. Ich lasse dich nicht aus den Augen. Ich sehe dieses Bild von meiner Frau in der Menge der Menschen und dann weiß ich, was du mir bedeutest.”
Diese Geschichte mit Leon geht mir zu schnell. Aber ich bringe es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Ich bin langsam. Ich habe mir ziemlich viel Zeit gelassen, 38 Jahre alt zu werden. Andere Frauen leiten in diesem Alter eine Schule, eine Abteilung in einem Betrieb oder ein Geschäft. Ich bin eine Erdbeerpflückerin. Und gerade jetzt, wo ich den Bewegungsspielraum von 360° brauche, um zu wissen, wie es in meinem Leben nach der Erdbeerernte weitergeht, ist da plötzlich einer, der keine Luft zwischen meinem und seinem Körper lässt.
„Hey, spielen wir, wir lernen uns gerade erst kennen? Du sitzt hier beim Bäcker und ich mache dich an.“ Leons Augen glühten. Als ich seine Hand nahm, zuckte er zurück, sah mich vorwurfsvoll an. Er stand auf und fragte, ob dieser Platz noch frei wäre. „Bitte sehr“, sagte ich, und schlug ein Magazin auf, das in der Nähe lag. Leon saß sehr steif. Er blickte wirklich verunsichert. Er spielte gut. Er fragte, was es Neues gibt. „Hier steht, dass Michael Jackson niemals wirklich lebte.“
„Glauben Sie das?“, sagte Leon.
„Nein, Sie?“
„Ich kenne niemanden, der in vollerem Maße gelebt hat als er. Er hat alles gegeben. Er hat nach den Sternen gegriffen, weil er geliebt werden wollte.“
„Sie sind ein Romantiker.“
„Na und?“, sagte Leon. Er blickte einer Frau in schwarzen High Heels nach.
„Was für arrogante Idioten, zu behaupten, er hätte niemals gelebt.“
„Ich glaube, sie meinen etwas anderes“, sagte ich.
„Wieso meinen eigentlich alle immer alles anders als sie sagen? Wozu haben wir eine Sprache? Muss ich jetzt immer fragen: Meinen Sie das auch so, wie Sie das sagen?“
„Das sind Journalisten“, sagte ich. „Die müssen provozieren.“
„Das ist doch keine Provokation. Die wissen doch gar nicht, was eine Provokation ist. Michael Jackson war provokant.“
„Die meisten Menschen lesen gern, dass berühmte, erfolgreiche Leute eigentlich Opfer von jemandem waren. Das tröstet die Leute. Die Journalisten wissen das, deswegen tun sie immer wieder so, als seien die schönsten, erfolgreichsten und kreativsten Menschen im Grunde arme Schweine.“
„Die können mich mal, diese Presse-Arschlöcher.“ Leon blickte grimmig auf den Asphalt. „Sollen sie sich ihr verlogenes Fischeinwickel-Papier doch hinten reinstecken.“
Ich nahm seine Hand. „Sie gefallen mir. Bitte rufen Sie mich an.“ Ich kritzelte meine Telefonnummer auf seinen Arm.
Ich lief durch die Straßen und sah mir dabei zu, wie ich an Leon denke. Allerdings kam ich zu keinem Ergebnis, weil ich mich ständig nach dem Mann umschaute, den ich eben im Bäckerladen kennengelernt hatte. Als ich die Treppe zu unserer Wohnung empor stieg, hörte ich drinnen das Telefon klingeln. „Sie haben Ihr Handy im Café vergessen, unter dem Fischeinwickelpapier. Darf ich es Ihnen bringen?“ Ich war erleichtert. Er hatte mir schon gefehlt.