Kathrins Notiz-Blog 6. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Gestern erzählte Leon, dass er in einem Haus aus Pappe geboren wurde, am Rand einer unbedeutenden Stadt. Dort hatte er mit seiner Mutter und seinem Bruder Paul gewohnt. Wenn die Kinder in der Schule Leon oder Paul kommen sahen, spotteten sie: ‚In meim Salon im Karton wächst der Schwomm.’

Leon hatte sich geschworen, das Haus aus Pappe und die unbedeutende Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Mit sechzehn Jahren gründete er die Band Blamage. So hatte er begonnen, seine Flucht vorzubereiten. Blamage zog übers Land. Eines Tages waren sie nach Berlin gekommen. Leon gefiel es hier. „Das Publikum war neugieriger, offener.“ Er hatte die Jungs und die Sängerin von Blamage überreden können zu bleiben. Leon war noch nicht volljährig, als er eine Arbeit als Koch fand. Allerdings kochte er selten. Die meiste Zeit spülte er Geschirr. Leon schrieb seiner Mutter einen Brief. Er lud sie nach Berlin ein. Sie hörte ihren Sohn in den Clubs spielen, reiste aber bald wieder ab. Sie fand seine Musik zum Tanzen nicht geeignet.

„Wann spielst du für mich?“, fragte ich.

„Gleich“, sagte Leon. Es klang müde. Er hatte sich auf den Dielen neben dem Schlagzeug lang gemacht.

„Ich würde das Haus aus Pappe gern sehen“, sagte ich.

„Es steht nicht mehr“, sagte Leon. „Sie haben es weg gerissen und einen Parkplatz dorthin gebaut, und Plattenbauten.“

„Schade. Und deine Mutter? Und Paul?“

„Meine Mutter lebt noch dort, in einem Plattenbau. Paul ist auch weggegangen. Alles hat sich verändert. Meine Kindheit wurde platt gemacht.“

„Niemand kann dir die Kindheit nehmen. Sie ist da. Du hast sie erlebt. Sie ist in dir drinnen. Und du teilst die Erinnerungen mit Paul und deiner Mutter.“

„Du weißt nicht, wie es ist, in einem Haus aus Pappe zu leben“, sagte Leon. „Man erinnert sich nicht gern.“

Ich wusste nicht zu antworten. Ich verstand jetzt Leons Unsicherheit, sein Gefühl, nirgendwohin zu gehören. „Ich habe in einem Haus aus Stein gelebt, aber denk nicht, dass das immer einfach war. Trotzdem: Ich kann verstehen, dass die Erinnerung dich nicht nur glücklich macht, dass du manchmal traurig und wütend bist und dich benachteiligt fühlst. Ich kann das verstehen.“

„Du kannst es nicht verstehen. Du hast nichts erlebt. Du weißt nichts“, sagte Leon. Getroffen! Die Kugel durchbohrte meinen Magen. Ich habe mir niemals ein einfaches Leben gewünscht. Ich habe immer nur eins gewollt: Das Leben kennenlernen. Die Dinge verstehen.
Ich schnappte meine Tasche und ließ ihn da unten neben seinen Trommeln liegen. „Lass mich in Ruhe, ja.  Ich habe keine Lust auf dein beschissenes trauriges Papp-Dasein und deine Schulden.“ Weg war ich.

Ich war froh, dass Jolanda nicht zu Hause war, dass niemand Fragen stellte und alles vorbei war. Von der Straße wehte Lärm aus den Restaurants und Bars. Ich brauche diesen Lärm, ich habe ihn nie so sehr gebraucht wie gestern Abend. Ich brauchte den Sommer, die Hitze und die Leute auf der Straße, die vor Fröhlichkeit kreischten. Ich hatte genug von Leons Schwermut.

Spät in der Nacht rief Jolanda aus dem Ausland an, um mir zu sagen, dass sie bei Sören übernachtet. Sie fragte, ob ich allein bin. „Der erste Streit?“

„Es geht nicht“, sagte ich.

„Verstehe“, sagte sie. „Bleib entspannt.“

Leon klingelte gegen vier. Ich zuckerte ihm die letzten Erdbeeren. Er aß sie mit den Fingern. Im Stehen.

„Liebst du mich?“, fragte Leon.

Ich nickte, aber ich schaute ihn nicht an dabei.

„Glaubst du, dass wir es schaffen, respektvoll miteinander umzugehen?“ Er nahm meine Hand und streichelte sie und machte sie ganz klebrig. Ich nickte wieder. „Bitte sag nie mehr, du könntest mich verstehen. Das ist wie eine Beleidigung, weil du mich nicht verstehen kannst. Es ist eine Lüge.“

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