© Illustration Liane Heinze
Immer, wenn Jolanda und ich keine Lust zum kochen haben, gehen wir in den Orient-Tresen unten im Haus. Heute hatte ich mich mit Jolanda verabredet, weil wir uns in letzter Zeit so selten sehen. Ich weiß gar nicht mehr, was bei ihr los ist, wie es in der Schule läuft und ob sie Sören noch liebt. Nachmittags ist der Laden meist leer. Während ich auf sie wartete, plauderte ich mit dem Verkäufer über das Wetter. Der Verkäufer war erstaunt, dass ich „schon“ ein Kind habe, dabei kennt er Jolanda und mich, seit wir hier im Haus wohnen. Vielleicht hielt er uns bisher für Schwestern. Es kommt öfter vor, dass uns jemand für Schwestern hält.
Jolanda sieht mir ähnlich. Sie sagt, wir hätten wissende Steinkauz-Augen. Ich habe mir im Internet Steinkäuze angeschaut und kann das nicht bestätigen. Wenn Jolanda einen Raum betritt, greifen alle Anwesenden heimlich in ihre Taschen und prüfen, ob sie ihre Ausweise dabei haben. Jolanda schaut und bewegt sich schon jetzt wie eine Detektivin. Lautlos, aber extrem auffällig. Wenn sie einen Raum betritt, spürt man sofort ihre Spannung, ihren Konflikt, alles über die Anwesenden heraus finden zu wollen, ohne auch nur das geringste von sich selbst preiszugeben. Als Jolanda endlich kam und ihre Schultasche auf die Holzbank warf, glaubte der Kurde hinter dem Tresen nicht, dass sie meine Tochter ist. „Es ist wahr.“ Ich hob zum Schwur zwei Finger. Er wurde ernst. Er schüttelte den Kopf und wandte sich beleidigt ab. Wir hörten ihn in der Küche diskutieren. Dann kam sein Kollege nach vorn, um unsere Falafel aus dem Öl zu fischen.
„Vielleicht sollten wir in Zukunft überall sagen, dass wir Schwestern sind, damit niemand denkt, wir wollen ihn auf den Arm nehmen.“
„Kein Problem“, sagte Jolanda.
Sie wies mich darauf hin, dass sie gleich mit Sören im Milchgesicht zum Lernen verabredet wäre. Es bedeutete, dass ich mich kurz fassen sollte.
„Warum bist du schon wieder so ungeduldig? Ich wollte nur hören, wie es dir geht und dir sagen, dass ich für ein paar Tage mit Leon verreise.“
Jolanda blitzte vor Begeisterung über den Rand des Fladenbrotes.
„Kann ich mich auf dich verlassen?“
Sie verdrehte die Augen. „Nein, ich mache mir noch in die Hosen.“
„Du müsstest mich sofort anrufen, falls ein Brief vom Jobcenter kommt.“
„Kein Problem.“
Es schien Jolanda nicht zu interessieren, wohin wir fahren, wie weit ich mich von Zuhause entfernen würde, das heißt, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass ich unverhofft wieder auftauchte. „Wir besuchen Leons Mutter“, sagte ich.
„Schön.“
„Sie lebt in in Polen, in einer kleinen Stadt nicht weit von Torun.“
Jolanda nickte. „Mach dir keine Sorgen. Ich halte hier die Stellung.“ Sie mampfte ihre Falafel und hielt die Kurden in der Küche im Auge.
„Findest du es beleidigend, wenn jemand sagt: Ich verstehe dich?“
„Hä?“
„Ich meine, kannst du dir vorstellen, dass jemand gar nicht W I L L, dass ein anderer ihn versteht?“
Jolanda ließ das Fladenbrot sinken. Sie starrte in den Raum. Ihr Mund stand offen. „Wir sagen doch andauernd: Verstehe. Verstehe. Das ist genauso eine Floskel wie die Frage: Wie gehts? obwohl uns das gar nicht interessiert. Natürlich verstehen wir gar nichts, da können wir hundertmal sagen: Verstehe. Wenn Leon seinen Schmerz ernst nimmt, geht ihm das auf die Nerven, klar.“
„Ich sage nicht andauernd: Verstehe! Verstehe! Ich habe gesagt: ‚Ich verstehe dich‘, und ich verstand ihn in diesem Moment wirklich.“
„Dann glaubt er dir eben nicht. Kann ich verstehen.“
„Wieso?“
„Weil es Dinge gibt, die du nicht verstehst.“
Ich hatte in diesem Moment keine Lust auf eine kritische Analyse meiner Erziehung. Zu diesem Zweck hat sie mit ihren Freundinnen eine Art Geheimbund gegründet. Was dort geschieht, weiß ich nicht so genau, außer, dass sie süße, alkoholfreie Cocktails saugen, und Schritt für Schritt ihre Kindheit aufarbeiten, indem sie die Fehler ihrer Eltern auswerten.